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E-Book, Deutsch, 205 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Becker Qualitätsunterschiede

Kulturphänomenologie als kritische Theorie

E-Book, Deutsch, 205 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-4013-2
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Quantifizierung macht Unterschiede zum Zweck des Messens zählbar, Digitalisierung macht Differenzen für Musterkennungen berechenbar. Da beide Methoden so erfolgreich sind, gerät zunehmend in den Hintergrund, was sich der Messung und Berechnung widersetzt: qualitative Unterschiede. Um diese geht es aber in der Philosophie. Ralf Becker stellt genau solche Qualitätsunterschiede in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen: Farbe und Wellenlänge, Leben und unbelebte Materie, Teil und Ganzes, natürliche und kulturelle Tatsachen, Maßnehmen und Maßhalten. Die in seiner Analyse zur Anwendung kommende Kulturphänomenologie geht von der Wissenschaft als einer kulturellen Praxis aus, die in eine lebensweltliche Praxis des Unterscheidens eingebettet ist. Von diesem außerwissenschaftlichen praktischen Unterscheidungswissen bleibt auch die Naturwissenschaft methodisch abhängig. Zugleich bestimmt jedoch das Bild, das Menschen insbesondere von den Naturwissenschaften haben, das Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Stellung in der Welt machen. Die Rekonstruktion des methodischen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, die Beckers Buch leistet, hat daher auch die kritische Funktion, das positivistische und szientistische Selbstmissverständnis über sich selbst aufzuklären.
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KAPITEL1
Kulturphänomenologie als kritische Theorie
»The mystique of science proclaims that numbers are the ultimate test of objectivity. […] If […] quantitative data are as subject to cultural constraint as any other aspect of science, then they have no special claim upon final truth.« STEPHEN JAY GOULD: The Mismeasure of Man (1981)68 Phänomenologie der kulturellen Praxis
Die folgenden Studien sind einem moderaten Kulturalismus verpflichtet. Kulturalistisch ist der hier vertretene Ansatz insofern, als er in der Kultur eine notwendige, unhintergehbare Bedingung von Objektivität identifiziert. Menschen humanisieren ihre Umwelt von Bedeutsamkeiten zu einer Welt von Bedeutungen durch spezifisch menschliche Tätigkeiten wie Arbeit, Kultus, künstlerische Produktion, sprachliche Begriffsbildung, wissenschaftliche Erkenntnis und vieles mehr. Die Kategorie der Bedeutsamkeit verweist auf den Vitalbereich der unmittelbaren Lebensbewältigung, Bedeutung setzt dagegen die geistige Aktivität des Abstandnehmens durch symbolische Repräsentation voraus. Nahrung ist bedeutsam für jedes Lebewesen, die Repräsentation von Nahrungsmitteln auf einem Einkaufszettel, in einer Kalorientabelle oder in einer Koch-Show vermittelt Bedeutungen von etwas als etwas für jemanden. Kultur ist nicht nur die Welt dieser Bedeutungen, sondern auch und zumal der Praktiken, die Bedeutungen zwischen Menschen verbreiten. Die Inter-Subjektivität solcher symbolischer Tauschprozesse ermöglicht erst Objektivität. Es gibt keine andere Objektivität von Aussagen über die Wirklichkeit als Intersubjektivität (und Transsubjektivität, wie wir noch sehen werden). Objektive Geltung kann nur eine Behauptung für sich beanspruchen, die der Prüfung durch andere standzuhalten vermag. Freilich entscheidet intersubjektive Anschlussfähigkeit allein, systemtheoretisch ausgedrückt: die erfolgreiche Anschlusskommunikation, nicht über berechtigte Geltungsansprüche. Die Wirklichkeit muss sich unsere Grillen auch gefallen lassen – sie ist nicht einfach ein gesellschaftliches Konstrukt. In Abgrenzung vom Kulturrelativismus wird im Weiteren von einem moderaten Kulturalismus ausgegangen. Moderat ist dieser insofern zu nennen, als er die Kultur nicht für eine hinreichende Bedingung von Objektivität hält. Menschliche Aktivitäten vollziehen sich nicht nur in einem geistigen, sondern auch in einem Horizont natürlicher Vorgegebenheiten. Ein sinnfälliges Beispiel für diese Außengrenze kultureller Praxis liefert die Technik. So mögen die Zwecke, zu denen Werkzeuge erfunden werden, kulturell und historisch variieren – die Erfolgsbedingungen für ihre Funktionalität tun es nicht: Das Wozu ihres Einsatzes verweist auf Gründe, das Warum ihrer Wirksamkeit auf Ursachen, die in der Natur beschlossen liegen. Die kulturübergreifende Kumulativität technischen Know-hows ist ein starkes Argument gegen den Kulturrelativismus.69 Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden, und spätestens in der Moderne machen technische Errungenschaften schnell die Runde um den Globus. Die Ubiquität von Technologie ist so stark, dass die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen den Kulturen, in denen sie Verwendung findet, nur allzu leicht übersehen werden. Mit Platon könnte man die beiden Aspekte, die der moderate Kulturalismus als konstitutive Faktoren menschlichen Handelns anerkennt, Gründe (aitiai, wörtlich: Ursachen) und Ursachen (synaitiai, wörtlich: Mitursachen) nennen. Letztere sind genau jene Wirkmechanismen, ohne die Erstere keine Ursachen sein können. Dort, wo man sich eines Mittels bedient, um etwas zu tun, muss dieses Mittel auch wirksam sein. Platon dehnt diese Zweckrationalität sogar auf den menschlichen Körper aus: Aus welchen Gründen ich auch immer handele, das Gelingen der Handlung hängt auch davon ab, ob ich bestimmte körperliche Bewegungen oder Leistungen auszuführen in der Lage bin. Es ist jedoch absurd zu behaupten, Sokrates sitze im Kerker, weil sein Körper die Zelle nicht verlassen habe; so wie es ebenfalls absurd wäre zu meinen, ich befinde mich im Kino, weil meine Beine mich dorthin geführt hätten.70 Dieser Absurdität macht sich der Naturalismus schuldig. Die zentrale These des moderaten Kulturalismus könnte man auch auf den Satz zuspitzen: Gründe sind nicht aus Ursachen ableitbar. Die Anerkennung des Eigensinns natürlicher Mitursachen setzt dagegen einem starken Kulturalismus Grenzen, dem zufolge die Welt des Menschen ausschließlich durch Bedeutungen verfasst sei. Methodisch versteht sich der skizzierte moderate Kulturalismus als Kulturphänomenologie71 und orientiert sich konkret an den genealogischen Überlegungen, die Husserl Mitte der 1930er Jahre zur Geometrie angestellt hat, ohne ihnen dogmatisch zu folgen. Gemäß dem leitenden Erkenntnisinteresse werde ich die Kulturphänomenologie mit Blick auf die Wissenschaften als eine Phänomenologie kultureller Praxis darstellen. Wissenschaft ist eine menschliche Tätigkeit zur Humanisierung der Welt, die wie jede andere Praxisform ein teleologisches Profil aufweist und gemeinsam mit anderen Praxisformen in die Kultur als humanisierte Welt eingebettet ist. Unter einer Phänomenologie kultureller Praxis verstehe ich eine Kulturphilosophie, die wenigstens diese fünf Bedingungen erfüllt: Sie folgt, erstens, dem Intentionalitätsparadigma. Die kulturstiftenden Leistungen und Tätigkeiten sind intentionale Akte, die einen Richtungssinn haben. Erfahrung ist keine bloß passive Aufnahme eines An-sich-Gegebenen, sondern ein interessegeleitetes Tätigsein: »Alles Erfahren als ein Tätigsein ist interessiert, ist Tun in Interessen, auf Ziele, unmittelbare oder mittelbare, hin.« Insofern ist die »objektive Erfahrungswelt« eine »Welt der Praxis«. Auch Wissenschaft ist stets von Erkenntnisinteressen geleitet, die Theorie selbst eine »eigenartige wissenschaftliche Praxis«.72 Die Bezugnahme (z. B. Erfahren) hat den systematischen Vorrang vor den Bezogenen. Intentionalität ist keine statische Struktur, sondern ein zeitlicher sowie geschichtlicher Vollzug; die Tradition bestimmt den Vollzugssinn mit. Deshalb wird die Wissenschaftsgeschichte für die folgenden Untersuchungen immer wieder eine wichtige Rolle spielen. Die Phänomenologie kultureller Praxis betreibt, zweitens, Konstitutionsanalyse, die die Kultur als Welt des Menschen aus Leistungen und Tätigkeiten rekonstruiert. Dementsprechend leitet Husserl die naturwissenschaftliche Theorie aus der Messpraxis und aus der Idealisierung der Maße ab; Objektivität ist eine Erkenntnisleistung, die Methoden voraussetzt.73 Die Konstitution von Kultur zu analysieren, heißt, die Humanisierung der Welt schrittweise gedanklich abzubauen (Reduktion) und anschließend wieder aufzubauen (Rekonstruktion). Wenn der Horizont der Kultur durch tätiges Leben aufgespannt wird, dann impliziert der Lebensbegriff immer auch die biotisch-naturale Seite jener vitalen Bedeutsamkeiten und materiellen Mitursachen (synaitiai), von denen bereits die Rede war. Die Phänomenologie kultureller Praxis geht, drittens, vom Korrelationsapriori zwischen Gegenstand und Gegebenheitsweise aus. Zum »Aufbau einer humanen Umwelt« gehört je schon (a priori) »die Korrelation der Humanisierung und der humanisierenden Subjektivität«, die ihre humane Umwelt tätig konstituiert.74 Dieses wechselseitige Aufeinander-verwiesen-Sein von Erfahrungsgegenstand und Erfahrungsgegebenheit ist unhintergehbar und kann weder einseitig auf die Objekt- noch auf die Subjektseite reduziert werden (Objektivismus bzw. Subjektivismus). Das Korrelationsapriori ist letztlich eine Explikation jenes Vorrangs der Beziehung vor den Bezogenen und fungiert zugleich als Korrektiv gegen einen Platonismus, der die Welt in die beiden Sphären des Subjektiv-Relativen und des Objektiv-an-sich-Seienden aufteilt. »Objektivierung ist Sache der Methode, fundiert in vorwissenschaftlichen Erfahrungsgegebenheiten. Mathematische Methode ›konstruiert‹ aus anschaulicher Vorstellung ideale Gegenständlichkeiten und lehrt, diese operativ und systematisch zu behandeln. […] Ideen entspringen durch eine eigenartige Geistesleistung: durch Idealisierung.«75 Auch die Ideenwelt entgeht dem Korrelationsapriori nicht. Die Phänomenologie kultureller Praxis erkennt, viertens, die Abhängigkeit eines jeden »objektiven Apriori« von einem entsprechenden »lebensweltlichen Apriori« an.76 Jeder theoretische Geltungsanspruch wird in Handlungen eingelöst (oder nicht), die nicht in der Welt des reinen Raums der Geometrie oder der reinen Kausalgesetze der Physik stattfinden, sondern in der kulturellen Lebenswelt. Anschaulicher formuliert: Der Physiker liest seine Messgeräte nicht in einem n-dimensionalen Vektorraum ab, sondern in...


Ralf Becker ist Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau und Mitherausgeber der "Zeitschrift für Kulturphilosophie".


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