Berardi | Der Aufstand | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 187 Seiten

Berardi Der Aufstand

Über Poesie und Finanzwirtschaft
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95757-126-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Über Poesie und Finanzwirtschaft

E-Book, Deutsch, 187 Seiten

ISBN: 978-3-95757-126-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie lässt sich ein Wirtschaftssystem erklären, in dem Geld durch Geld erzeugt wird? Angesichts eines Informationskapitalismus, in dem Warenproduktion und körperliche Arbeit nur noch als Reminiszenz an alte Zeiten mitgeschleppt werden, zeigt der italienische Philosoph 'Bifo' Berardi, dass wir es mit einem System zu tun haben, das vor hundert Jahren bereits von Dichtern wie Mallarmé antizipiert wurde: Der Signifikant hat den Bezug zu seinem Referenten verloren, 'Schulden sind ein bloßer Akt der Sprache, ein Versprechen.' Daher müssen wir zunächst lernen, die Zeichen zu lesen, sie so zu interpretieren, wie man Poesie interpretiert. Der Akt der Interpretation lehrt uns Empathie, er ist der erste Schritt zu einer neuen Solidarität, die den 'erotischen Körper des gesellschaftlichen Lebens' reaktivieren kann.Ausgehend von der Finanzkrise 2008 und dem europäischen Kollaps dekonstruiert Berardi die Sprache und die Mythen des Neoliberalismus und ruft zu einer Revolution der Langsamkeit und des Rückzugs auf, mit der wir den Niedergang nicht zu fürchten brauchen.

Franco 'Bifo' Berardi, geboren 1949 in Bologna, ist Philosoph und Medientheoretiker und war früher in der revolutionären Autonomia-Bewegung in Italien aktiv. Er publizierte (u. a. mit Félix Guattari) diverse Bücher zur Verschränkung von Kommunikation, Psychologie und Ökonomie.
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EINFÜHRUNG


Diese Texte wurden im Jahr 2011 geschrieben, im ersten Jahr des europäischen Aufstands, als die europäische Gesellschaft in eine schwere Krise geriet, die mir eine Krise vor allem der gesellschaftlichen Phantasie zu sein scheint und gar nicht so sehr eine reine Wirtschaftskrise. Seit drei Jahrzehnten kontrolliert das ökonomische Dogma den öffentlichen Diskurs und zerstört dabei die kritische Macht der politischen Vernunft. Der Kollaps der Weltwirtschaft entlarvte die Gefahren des ökonomischen Dogmatismus. Dessen Ideologie war jedoch längst mit den Automatismen der lebendigen Gesellschaft verwoben worden.

Politische Entscheidungen sind durch techno-linguistische Automatismen ersetzt worden, die in die vernetzte Weltmaschine eingebettet sind, und die gesellschaftliche Entscheidungskraft wurde psychischen Automatismen unterworfen, die in den gesellschaftlichen Diskurs und das gesellschaftlich Imaginäre eingebettet sind. Doch die Ausmaße dieser Katastrophe erwecken im gesellschaftlichen Gehirn bisher verborgene Potenzen. Mit dem finanziellen Kollaps begann ein Aufruhr, der sich zuerst im Dezember 2010 in London, Athen und Rom andeutete und sich danach von Mai bis Juni 2011 während der spanischen , in vier rasenden Augustnächten in englischen Vororten sowie während einer Streikwelle und einer Vielzahl von Besetzungen in den USA zu voller Kraft entwickelte.

Der europäische Kollaps ist nicht nur das Resultat einer lediglich ökonomischen und finanziellen Krise – es handelt sich bei diesem Kollaps auch um eine Krise unserer Fähigkeit, uns unsere Zukunft vorstellen zu können. Die Verträge von Maastricht sind zu unbestreitbaren Dogmen geworden, zu algorithmischen Formeln und Zaubersprüchen, die von den Hohepriestern der Europäischen Zentralbank bewacht und von Börsenmaklern und Finanzberatern gefördert werden.

Heute beruht jede Form der finanziellen Macht auf der Ausbeutung prekärer, kognitiver Arbeit: auf der Ausbeutung des in seiner gegenwärtigen Form, in der er vom Körper gänzlich getrennt ist.

In seiner gegenwärtigen Konfiguration erscheint der zersplittert, er ist jedweder Selbstwahrnehmung, jeden Selbst-Bewusstseins beraubt. Allein die bewusste Mobilisierung des erotischen Körpers des , allein die poetische Revitalisierung der Sprache wird dazu führen können, dass eine ganz neue Form der gesellschaftlichen Autonomie entsteht.


Für meine Generation ist es nicht einfach, sich von dem intellektuellen Automatismus des dialektischen Happy Ends loszureißen.

Auf die Restaurationen des Wiener Kongresses folgte im Jahr 1848 der Völkerfrühling, dem Faschismus folgten Widerstand und Befreiung, und entsprechend geht der politische Instinkt meiner Generation (der 68er-Generation, die in gewisser Hinsicht die letzte Generation ist) davon aus, dass wir unmittelbar vor der Wiederherstellung der Demokratie stehen, vor der Rückkehr der gesellschaftlichen Solidarität und vor der Abschaffung der Finanzdiktatur.

Diese Erwartung könnte sich als trügerisch erweisen, und wir sollten lernen, den Raum unserer historischen Präfiguration so erweitern zu können, dass sich das begriffliche Gerüst des historischen Fortschritts nun endlich aufgeben lässt. Nur so können wir begreifen, dass uns etwas bevorsteht, das sich nicht wieder rückgängig machen lassen wird. Unter dem bio-ökonomischen Totalitarismus unserer Zeit hat die Einarbeitung techno-linguistischer, vom Semio-Kapital geschaffener Automatismen eine Form der Herrschaft hervorgebracht, die nicht etwa von außen auf den Körper einwirkt, sondern eine Mutation des gesellschaftlichen Organismus selbst ist. Deshalb geht es bei der Dialektik der Geschichte nicht länger nur darum, Abläufe und Perspektiven zu begreifen: Die bevorstehende Unumkehrbarkeit tritt an die Stelle des bevorstehenden Umsturzes, sodass wir unter diesen Bedingungen den Begriff der Autonomie neu denken müssen.

»Unumkehrbarkeit« ist ein Tabuwort im politischen Diskurs der Moderne, weil es dem Prinzip der Herrschaft der Vernunft über die Ereignisströme widerspricht – ein Prinzip, das die notwendige Voraussetzung für die Herrschaft der Vernunft ist und außerdem der wesentliche Beitrag des Humanismus zur Theorie und Praxis moderner Politik. Machiavelli spricht von dem Prinzen als einer männlichen Kraft, die die (den Zufall, den chaotischen Lauf der Dinge), und also die weibliche Seite der Geschichte, zu bändigen vermag.

Was wir derzeit erleben, im Zeitalter der endlosen Beschleunigung der Infosphäre, ist das Folgende: Die männliche Kraft der politischen Vernunft kann die weibliche nicht länger unterwerfen und domestizieren, weil sich in den chaotischen Strömen einer vollkommen überfüllten Infosphäre sowie in den chaotischen Strömen des Micro Trading darstellt. Die Schnelligkeit, mit der neue Informationen entstehen, steht in keinem Verhältnis zu der nur beschränkten Zeit, die uns zur bewussten Verarbeitung dieser Informationen zur Verfügung steht. Das Ergebnis ist Hyperkomplexität. Deshalb spielen sämtliche Vorhaben, die darauf abzielen, das gesamte gesellschaftliche Feld auf vernünftige Weise zu verändern, heutzutage keine große Rolle mehr.

Die Ereignisse von Fukushima zeichnen den Horizont unserer Zeit. Verglichen mit den lärmenden Katastrophen des Erdbebens und des Tsunamis ist Tokios stille Apokalypse jedoch noch sehr viel beängstigender, denn sie verleiht unseren Erwartungen an unser tägliches Leben als Gesellschaft auf diesem Planeten einen ganz neuen Rahmen. Die Megalopolis ist dem Fallout aus Fukushima direkt ausgesetzt, aber das Leben geht wie selbstverständlich weiter. Nur wenige Menschen haben die Stadt verlassen. Die meisten Einwohner sind geblieben, sie kaufen Mineralwasser wie immer und atmen durch Masken wie immer. Nur gelegentlich wurden Luft- und Wasserverschmutzung angeprangert. Aus Sorge um die Lebensmittelsicherheit haben die US-Behörden den Import bestimmter Produkte aus Japan unterbunden. Der Fukushima-Effekt bedeutet jedoch keine grundsätzliche Erschütterung des gesellschaftlichen Lebens: Gift ist zu einem ganz normalen Teil unseres Alltags geworden, zu einer zweiten Natur, in der wir uns einzurichten haben.

In den letzten Jahren ist die Landschaft dieses Planeten von sehr viel mehr Erschütterungen heimgesucht worden als zuvor, ohne dass sich das herrschende Paradigma verändert oder sich eine bewusste Bewegung der Selbstorganisation gebildet oder gar ein revolutionärer Umsturz stattgefunden hätte.

Der Ölteppich im Golf von Mexiko hat nicht dazu geführt, dass BP aus der Region verwiesen worden wäre, es hat die Macht BPs sogar noch konsolidiert, weil nämlich BP die einzige Kraft war, die mit dieser Erschütterung umgehen und sie (hoffentlich) unter Kontrolle bringen konnte.

Der Finanzkollaps vom September 2008 hat zu keinen großen Veränderungen der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik geführt. Trotz aller Hoffnungen, die Barack Obamas Wahlsieg geschürt hatte, hat die finanzielle Klasse ihren Griff um die Wirtschaft nicht gelockert.

In Europa hat man sich von der neoliberalen Ideologie – obwohl der Kollaps doch ganz eindeutig von ihr ausgegangen war – auch im Anschluss an die griechische Krise von 2010 nicht verabschiedet. Ganz im Gegenteil, denn seit der griechischen Erschütterung (und ganz ähnlich seit den folgenden irischen und italienischen und spanischen und portugiesischen Erschütterungen) ist die monetaristische Politik nur noch unerbittlicher geworden, und wahrscheinlich werden die Löhne und Sozialausgaben von nun an nur noch weiter zusammengestrichen.

Auf einer systemischen Ebene nimmt der Wandel die Gestalt eines positiven Feedbacks an.

In seiner Arbeit über die Kybernetik spricht Norbert Wiener von negativem Feedback, um den Output eines Systems zu definieren, das deshalb handelt, um den Veränderungen am Input des Systems entgegenzuwirken – mit dem Ergebnis, dass diese Veränderungen reduziert und geschwächt werden. Wenn das Gesamtfeedback des Systems negativ ist, dann wird das System wahrscheinlich stabil bleiben. In Bezug auf die Gesellschaft könnten wir beispielsweise sagen, dass das System ein negatives Feedback zeigt, wenn Proteste und Auseinandersetzungen die Industrie zur Erhöhung der Löhne und zur Reduktion der Ausbeutung zwingen, weil das gesellschaftliche Elend zu groß wird.

Wiener zufolge weist ein System positives Feedback auf, wenn es – ganz im Gegenteil – eine Störung in Reaktion auf diese Störung nur noch vergrößert. Natürlich kann unbeabsichtigtes positives Feedback alles andere als »positiv« im Sinne von »wünschenswert« sein. Wir können auch von einem selbsttragenden Feedback sprechen.

Ich habe folgenden Eindruck: Unter den Bedingungen der Info-Beschleunigung und Hyperkomplexität, wenn der bewusste und vernünftige Wille...


Franco "Bifo" Berardi, geboren 1949 in Bologna, ist Philosoph und Medientheoretiker und war früher in der revolutionären Autonomia-Bewegung in Italien aktiv. Er publizierte (u. a. mit Félix Guattari) diverse Bücher zur Verschränkung von Kommunikation, Psychologie und Ökonomie.



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