Bogdan | Mein Helgoland | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Bogdan Mein Helgoland


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-86648-800-7
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

ISBN: 978-3-86648-800-7
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Mit Helgoland verbindet Isabel Bogdan eine innige Schreibbeziehung. Oft schon ist sie in Hamburg auf den Katamaran gestiegen, der sie zu "Deutschlands einziger Hochseeinsel" bringt. Denn dort, mit Rundumblick aufs Meer, schreibt es sich viel besser als am heimischen Schreibtisch (wo sie dafür problemlos übersetzen kann). Doch warum ist das so? Nähert man sich einer Geschichte auf dieselbe Weise, wie man eine Insel für sich entdeckt? Auf welcher Seite der Insel beginnt man – und wie findet man in einen Roman?
Isabel Bogdan erzählt nicht nur von den Besonderheiten kleiner Inselgemeinden, von Helgolands wechselvoller Historie, von seltenen Vögeln oder Geheimrezepten gegen Seekrankheit. Vielmehr spannt sie den Bogen vom Schaffen des berühmtesten Helgoländer Geschichtenerzählers James Krüss zu der Frage, was gutes Erzählen eigentlich ausmacht und ob man es erlernen kann.

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Der Hotelier sagt, das ist kein Wind. Ich versuche, die Basstölpel zu fotografieren, aber der Wind, der keiner ist, schlägt mir immer wieder die Kamerahand weg. Ich habe meine Kapuze festgezurrt und lehne mich bei jedem Schritt nach vorn, um überhaupt voranzukommen. Der Hotelier aber sagt, das ist kein Wind. Er erzählt, dass sie sich früher, als Kinder, wenn richtig Wind war, hier oben im Oberland am Zaun festgehalten haben und dann waagerecht in der Luft geflattert sind. Überhaupt ist der Hotelier ein großer Geschichtenerzähler, was vielleicht kein Wunder ist: Er ist ein Neffe von James Krüss, dem größten Geschichtenerzähler der Insel und vermutlich überhaupt bekanntesten Helgoländer. Was mich fast von den Klippen pustet, was mich voranschiebt oder mir den Weg versperrt und mir den Atem raubt, ist kein Wind. Man meint ja auch immer, die Sonne sei gar keine Sonne, wenn dazu ein frischer Wind weht, aber hinterher hat man dann doch Sonnenbrand und so ein Sausen in den Ohren. Auf Helgoland kann man immer und von überall aus das Meer sehen. Im Oberland sogar fast rundum, in alle Richtungen, man steht hoch oben und blickt in dieses unendliche Blau, oder vielmehr diese unendlichen Blaus. Hellblau, Dunkelblau, Mittelblau, Knallblau, Königsblau, Azurblau, Babyblau, Glitzerblau, Himmelblau, Eisblau, Grünblau, Graublau, Fastschwarz, Fastweiß, Marineblau, Blaublau, Türkis, Petrol … man findet schon bald keine neuen Vokabeln mehr. Dazu pustet der Wind einem sofort alles aus dem Kopf, was da nicht drin sein soll, alles, was einem nicht guttut, schlechte Laune, schlechte Gedanken oder Erkältungen. Stattdessen macht sich sofort eine große Ruhe breit und ein großes Glück. Da oben passiert es mir regelmäßig, dass ich einfach lachen muss, nur weil Wind und Blau ist. Lachen, weil der Wind so toll ist und das Blau so blau und alles andere weit weg. Und dann kommt man an den Vogelfelsen, und aus dem Lachen wird Staunen. Der Helgoländer Lummenfelsen ist Deutschlands kleinstes Naturschutzgebiet, und wahrscheinlich auch das hochkanteste. Stundenlang kann man dort stehen und den Basstölpeln bei ihren Flugmanövern zuschauen, es wirkt, als würden sie das zum Spaß machen. Sie bewegen die Flügel fast gar nicht, sie breiten sie nur aus und stehen in der Luft, und nicht mal die stärkste Windbö kann ihnen etwas anhaben, sie ändern dann eben kurz die Richtung, mit minimalen Flügelbewegungen. Und dann stürzen sie sich kopfüber ins Wasser und kommen mit einem Fisch wieder hoch, und man steht da und staunt und lacht, wegen des Windes, der keiner ist, und ist ganz weit weg von allem. Dabei sind es nur vier Stunden mit dem Schiff von Hamburg aus. Es geht so schnell. Mit der S-Bahn an die Landungsbrücken, dort steigt man auf den Katamaran, und sobald man auf einem Schiff ist, fängt der Urlaub ja schon an, anders als bei allen anderen Verkehrsmitteln. Bei allen anderen Verkehrsmitteln ist die Reise an sich eher anstrengend, ein notwendiges Übel. Auf einem Schiff hingegen ist sofort Urlaub. Allerdings fahre ich meistens gar nicht zum Urlaubmachen, sondern zum Schreiben nach Helgoland. Weil dort nämlich nichts ist. Nicht mal Wind. »Beim Geschichtenschreiben muss man allein sein. Hunde stören dabei. (Aber Katzen nicht.)«, schreibt James Krüss in Mein Urgroßvater und ich. Darin wird der Urenkel für zwei Wochen zu seinem Urgroßvater ausquartiert, weil seine Schwestern die Masern haben und er sich nicht anstecken soll. Sowohl der Urgroßvater als auch der Enkel heißen Boy, und der Urgroßvater ist ein ehemaliger Hummerfischer. Auch er ist ein großer Geschichtenerzähler und Dichter, und so sitzen die beiden Boys also in der Hummerbude und erzählen sich Geschichten, oder sie dichten gemeinsam. In all diesen Geschichten und Gedichten geht es um Wörter und Sprache und ums Erzählen. Der zweite Band, Mein Urgroßvater, die Helden und ich, dreht sich um Helden. Was ist ein Held, was macht ihn aus? Um es gleich vorwegzunehmen: Der Held ist im Normalfall ein Mann. Aber das wollen wir mal gnädig darauf schieben, dass James Krüss 1926 geboren wurde, da gab es ja praktisch noch gar keine Frauen. James Krüss, bzw. in dem Fall der Urgroßvater, war sicher ein kluger Mann, und vor allem verstand er etwas vom Schreiben. Aber was Hunde und Katzen angeht, möchte ich ihm doch widersprechen. Ein Hund würde mich vermutlich nicht stören, mich stört nicht mal ein Mensch, solange er ebenfalls schreibt; im Gegenteil, es tut mir sogar ganz gut, wenn neben mir noch eine Tastatur klappert oder gerade nicht klappert, denn es ist tröstlich zu hören, dass »Schreiben« auch bei anderen Leuten nicht bedeutet, dass es pausenlos klappert. Man muss zwischendurch auch viel ächzen und stöhnen und sich die Haare raufen oder stumpf auf den Monitor glotzen. Was aber stört beim Schreiben, ist der Hund Alltag. Vor dem muss man gelegentlich fliehen, einfach woanders sein, wo einen niemand kennt und nichts ablenkt. Außer dem Wind, der keiner ist, und den Robben und Basstölpeln und Trottellummen und dem ganzen Blau. Der Alltag stört, vor ihm braucht man seine Ruhe, und die kann man durchaus in Gesellschaft haben. (Außer in der von Katzen, da bekomme ich nämlich keine Luft.) Damit bin ich auch nicht die Einzige, viele Autorinnen und Autoren fahren zum Schreiben am liebsten weg. Vielleicht, weil man in einem Ferienhaus oder Hotelzimmer nur das Nötigste um sich hat, nicht all die unerledigten Dinge, die Waschmaschine, die Steuer, die Unordnung auf dem Schreibtisch, die ungeputzten Fenster, die brachliegende Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Man kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Mit einer anderen Aussicht als sonst. Es schadet nämlich durchaus nicht, beim Arbeiten aufs Meer zu gucken. Aufs Meer gucken schadet nie. Ich glaube sogar, dass es insgesamt nicht schadet, anderswo hinzugucken als sonst. Viele Jahre habe ich allein zu Hause am Schreibtisch gesessen und Bücher übersetzt. Da saß ich gut, ich mag mein Arbeitszimmer. Aber als ich anfing, selbst zu schreiben, stellte ich irgendwann fest, dass ich das so gut wie nie am Schreibtisch tat. Ich zog mit dem Laptop ins Esszimmer, ins Bett, auf den Balkon, in die Küche, aufs Sofa. Saß mal hier, mal da, stand zum Denken auf und lief herum, setzte mich anderswo wieder hin. Ich schrieb überall, nur nicht am Schreibtisch. Sobald ich übersetzte, saß ich wieder dort. Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass ich beim Übersetzen das zu übersetzende Buch auf einem Ständer neben dem Computer stehen habe, damit ist das Herumziehen schon aus praktischen Gründen weniger einfach. Aber ich denke auch immer wieder darüber nach, ob es damit zu tun hat, den Blickwinkel zu ändern. Beim Übersetzen ist alles schon da, es steht alles im Buch, ich muss mich konzentrieren und das, was da auf Englisch gesagt wird, in meiner eigenen Sprache neu formulieren. Beim Schreiben habe ich den Input nicht direkt vor der Nase, aber ich brauche welchen, bevor ich einen Output produzieren kann, ich brauche offenbar veränderte Blickwinkel. Nicht dass der Anblick meiner Küche wahnsinnig neu wäre, oder der auf meine verlausten Balkonpflanzen besonders inspirierend. Aber irgendwie anscheinend doch. Ist das so? Braucht man zum Übersetzen mehr Konzentration, zum Schreiben mehr Inspiration? Sind Ortswechsel inspirierend, auch innerhalb der eigenen Wohnung? Was soll das überhaupt sein, »Inspiration«? Thomas Alva Edison soll gesagt haben, »Genie« bestünde aus einem Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration. Man weiß halt nicht, ob das eine Prozent einen nun am Esstisch oder im Bett überkommt. Calvin (von Calvin and Hobbes) sagt, zum Schreiben müsse man in der richtigen Stimmung sein, und die richtige Stimmung sei »Last Minute Panic«. Da ist etwas dran, jedenfalls bei mir, ich brauche Druck. Termine. Deadlines. Und neue Aussichten, wie es scheint. Ich habe keine Ahnung, was Inspiration ist und woher sie kommt, aber ich weiß, dass ich zum Schreiben am besten wegfahre. Allein, zu zweit, zu mehreren, und am allerliebsten mit Blick aufs Meer. Und wenn Alleinsein zum Schreiben völlig in Ordnung ist, so ist die Einsamkeit auf Lesereisen etwas ganz anderes. Man braucht in einer Runde von Schreibenden nur das Wort »Lesereiseneinsamkeit« fallen zu lassen, dann seufzen sofort alle »Oh ja«. Ich liebe Lesereisen. Nach monate- oder jahrelanger Schreibtischarbeit rauszugehen und das fertige Buch in die Welt zu tragen, Menschen zu begegnen und ihnen die eigene Arbeit vorzustellen, das ist grandios. Ich sitze gern auf der Bühne, unterhalte mich mit dem Publikum, tausche mich mit Leserinnen und Lesern aus, und das ist etwas ganz Besonderes und Großes. Aber dann sind nach der Lesung alle wieder weg, und mit ein bisschen Pech hat man vergessen, sich vorher noch eine Apfelschorle zu kaufen, und sitzt mit Leitungswasser aus dem Zahnputzbecher im Hotelzimmer. Am nächsten Morgen Hotelfrühstück mit schwitzenden Käsescheiben und angetrockneter Mortadella (für mich eher Müsli, hoffentlich etwas Obst und ein Kaffee), danach klappt man den Koffer zu, zieht ihn über...


Isabel Bogdan, geboren 1968 in Köln, studierte Anglistik und Japanologie in Heidelberg und Tokio. Heute lebt sie in Hamburg und übersetzt u.a. Jane Gardam, Nick Hornby und Jonathan Safran Foer. Seit zwölf Jahren fährt sie immer wieder nach Helgoland. 2016 erschien ihr Debütroman "Der Pfau", 2019 folgte der Roman "Laufen". Sie wurde u.a. mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur und dem für literarische Übersetzung ausgezeichnet.



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