E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Canetti Die gelbe Straße
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26251-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
ISBN: 978-3-446-26251-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Veza Canetti, geboren 1897 in Wien, wurde als Jüdin und Sozialistin von den Nazis mit Berufsverbot belegt und flüchtete 1938 mit ihrem Mann Elias Canetti nach England, wo sie 1963 starb.
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I.
Eines Tages, als die Runkel im Kinderwagen über die Straße geführt wurde, überkam sie eine solche Verzweiflung über ihr elendes Leben, daß sie nichts anderes wünschte, als ein schwerer Lastwagen, ein Viehwagen, eine Tausend-Kilo-Walze oder eine vierfache Straßenbahn möge über ihren fürchterlichen Körper fahren und ihn zermalmen. Sie gab daher dem Dienstmädchen Rosa, das sie seit Jahren betreute, pflegte, vom Wagen in die Wohnung trug, von der Wohnung in den Wagen, ganz sinnlose Zeichen, fahrige, nervöse Zeichen, wie sie die Straße überqueren sollte, sie verwirrte sie durch zornige Zwischenrufe derart, daß sie wirklich in ein herbeirasendes Motorrad hineinfuhr. Nur zermalmte dieses Motorrad nicht die Runkel, sondern das Dienstmädchen Rosa, denn die treue Seele schob buchstäblich im letzten Augenblick ihres Lebens den Wagen mit dem Krüppel rasch vor, schützte ihn mit ihrem Leib und holte sich den Tod. Die Runkel aber lag auf dem Boden und hatte beide Arme gebrochen, zum zwölften Mal in ihrem Leben hatte sie einen Gliederbruch, gewöhnlich waren es die Beine, die ganz kurz und leblos herunterhingen, wie bei einem Hampelmann.
Die Runkel lag auf der Erde und konnte sich nicht rühren und nur das eine Auge sah starr mit an, was geschah. Es geschah, daß Passanten herbeiliefen und Wachleute und Geschäftsdiener und alle bemühten sich um das Dienstmädchen Rosa, das bald in einen Sanitätswagen befördert wurde.
»Hat sich ausgezahlt«, hörte die Runkel, als sie auf eine Tragbahre gelegt wurde, doch dann fiel sie in Ohnmacht und erwachte erst, als ihre beiden Arme in einem Gipsverband lagen. Sie sah ihre Freundin, die Weiß, sie sah ihre Mutter weinen und erfuhr, daß die Rosa tot war. Und dann richtete sie ihr schreckliches Gesicht auf die Weiß und sagte: »Hat sich ausgezahlt.«
»Sprich nicht so!« schrie die Weiß sie tapfer an, »jeder Mensch hat seinen Kummer, du stehst nicht allein da!«
Und bei sich dachte sie, »stehst« ist nicht das richtige Wort, sie kann ja nicht stehen, sie kann nur sitzen und das einzige, das sie gebraucht, sind die Arme, und die sind ihr jetzt gebrochen, wer weiß, ob es noch zu heilen geht bei ihren mürben Knochen, bei ihr heilt alles viel schwerer, und jetzt ist sie schon sechsunddreißig, und das Gesicht! Das Gesicht! Es ist wirklich ein großes Opfer, daß ich das immer mitansehe.
»In drei Wochen bist du geheilt!« schrie sie dabei, »mach keine Faxen, in drei Wochen sitzt du wieder in deinem Geschäft, zwei Geschäfte hast du, beide gehen, wer macht dir das nach, alle zwei hat dir dein Vater hinterlassen, weil du ein Teufel bist, sitzt in deinem Seifengeschäft und bewachst deine Trafik, wer macht dir das nach! Aber das sag ich dir, jeden Abend läßt du dich ins Kino fahren, da wird nicht gespart, du Dreckfresserin! Du sparst zu viel! Was weinst denn, Frieda!«
»Ich weiß, was du denkst«, sagte die Runkel, ihr Gesicht war entschlossen zu sterben.
Der Arzt trat ans Bett, er hatte den letzten Satz der Weiß gehört und wunderte sich, daß dieses Wesen da im Bett Frieda hieß, und daß man es weinen nannte, wenn von zwei leeren Scheiben Tropfen über ein Dreieck liefen. Dann gewöhnte er sich daran, daß dies doch ein Mensch war, er hatte sogar die Arme in Schienen gelegt und bandagiert und sah jetzt zu, daß alles heilte, und wenn man sprach, antwortete sie ja wirklich, diese Mißgeburt, nur war die Stimme ebenso unangenehm wie das Gesicht.
»Ja, das wird bald repariert sein«, sagte er auf einen Blick der Weiß hin, »in einigen Wochen sind Sie gesund.« Und mehr brachte er nicht heraus, er fand es schon viel, daß er gesagt hatte: »sind Sie gesund.« Er hob die Decke und ließ sie gleich fallen und ging mit einem Gruß zur Mutter der Runkel, denn die war normal gewachsen und machte einen nicht nervös mit ihrer Übertriebenheit.
Nach ihm kam die Tante herein, sie kam herein, setzte sich ans Bett und fing zu jammern an, »du armes Geschöpf, nicht genug wie du ausschaust und gehn kannst du auch nicht, jetzt muß noch das Unglück geschehn, wer weiß, wann das heilt, und die Rosa, die arme Rosa, was wirst du ohne die Rosa machen! Nur sie hat dich hinauftragen können, wer wird das noch können!«
Was schwatzt diese dumme Gans! Was hat sie mich zu bedauern! Häng ich vielleicht von ihr ab! Wer hängt von mir ab?! Die Mutter, denn die Geschäfte sind auf meinem Namen, die Alte, die Cousine, die Großmutter, die Rosa ist tot, aber die Anna, der Alois, die Lina, ja, alle hängen von mir ab!
»Geh sofort und laß das Geschäft nicht allein!« befahl die Runkel plötzlich, und die Mutter, eine hochgewachsene Frau mit milden Zügen, stand gehorsam auf und ging.
»Gib ihr zwanzig Schilling«, sagte die Runkel und zeigte verächtlich mit der Braue auf die alte Tante.
In zwei Monaten war sie geheilt.
II.
Pilatus Vlk ist in Iglau geboren, ledig und wohnt in der Gelben Straße No. 31. Er geht jeden Morgen Punkt dreiviertel sieben aus dem Haus und tritt in die Trafik ein. Hier kauft er die Presse. Dann begibt er sich ins Kaffee Planet und nimmt sein Frühstück. Er liest alle Zeitungen bis Mittag und geht ins vegetarische Restaurant. Nach Tisch geht er heim und um vier begibt er sich ins Panoptikum im Volksprater. Hier bleibt er bis sieben Uhr abends und nimmt im Kaffee Planet sein Nachtmahl ein. Um neun ist er wieder zu Hause. In der ganzen Woche gab es nur eine einzige Abweichung, indem Herr Vlk am Freitag, statt in den Volksprater ins Kino in der Gelben Straße ging. Herr Vlk ist Hausbesitzer und bekommt seine Zinsen aus Iglau zugeschickt. Er lebt weit unter seinem Vermögensstand. Zutritt in seine Wohnung hat nur eine alte Bedienerin, die ihn als sehr pedantisch schildert. Im Haus ist er mit niemand bekannt und grüßt niemand.
Herr Vlk las diesen Bericht eines Auskunftsbüros über sich selbst und verbreiterte dabei seine schwarzen Nasenlöcher. Dann stieg er ins Bad und wusch sorgfältig jede Stelle seines Körpers. Nach dem Bad zog er die saubere Wäsche und den Anzug an und begann die Finger unter den Nägeln zu reinigen. Immer fand sich noch ein winziges Stäubchen. Dann zog er lichte Handschuhe über und verließ die Wohnung.
Die Trafik war noch nicht offen. Erst vier Minuten später konnte er eintreten und meldete der Trafikantin, daß vier Minuten über sieben verstrichen waren. Das Fräulein blickte erstaunt seine aufgestellten Haare an, schütter und regelmäßig verteilt wie die Grasköpfe in den Blumenhandlungen, sie blickte auf sein Schnurrbärtchen, schütter und regelmäßig wie Gras und dann auf seine merkwürdig gespreizten Fingernägel, sie standen von den Fingern weitab wie Schlünde. Das Fräulein staunte täglich über diese Merkwürdigkeiten des Herrn Vlk, weil sie ein langsamer Mensch war. Herr Vlk sprach gereizt und ging dann, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die andere Seite der Straße. Hier zappelte er auf und ab vor einem Seifengeschäft, das der Trafik genau gegenüber lag. Er blickte dabei in irgendeine Schachtel in sich. Das Seifengeschäft war schon längst offen und noch immer bemerkte er es nicht. Einmal blickte er doch auf und trat mit der Uhr in der Hand ein.
»Es ist diesmal vier Minuten nach sieben gewesen, ich ersuche Sie, diesem Unfug zu steuern.«
Jede andere Inhaberin der Trafik hätte auf diese Beschwerde nicht einmal hingehört, denn die Angestellte Lina, drüben, hatte seit ihrem Eintritt neunzehn Zeitungsabonnenten zugewonnen. Doch hier lag der Fall anders.
»Ja«, sagte die Runkel, »ja, unbedingt«, und sie dehnte die Antwort hinaus, denn sie genoß diesen Augenblick, diesen Augenblick, in welchem ein vollwertiger Mensch zu ihr sprach, als wäre sie ein vollwertiger Mensch, eine Autorität, »ich werde diesem Unfug steuern.«
Aber Herr Vlk hörte es nicht mehr. Er war schon draußen. Er hatte heute eine Stunde Verspätung. Er stelzte ins Kaffee Planet und bestellte Kakao und Butter. Er schnaufte Luft durch die Nase, um zu prüfen, ob sie nicht dunstig war. Er wusch den Löffel aus und trocknete ihn mit dem Sacktuch. Er blies einen Brosamen von seinem Daumen. Dann aß er mit steifen Fingern. Die Nägel daran waren abweisend gespreizt, der schüttere Schnurrbart war gespreizt. Indessen suchte schon der Ober alle Zeitungen zusammen und legte sie vor Herrn Vlk hin.
Um elf war er mit dem Lesen fertig. Er zahlte, gab kein Trinkgeld und begab sich zu Fuß ins vegetarische Restaurant. Er aß reichlich und verlangte Erdbeeren. Er wusch j ede einzelne sorgfältig und betrachtete befriedigt den Schmutz im Glas. Er tunkte sie in Zucker. ...




