E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Devesper / Göppl / Hellstern Chikiding!
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-347-26240-9
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
58 x Freiburg
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-347-26240-9
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
900 Jahre Freiburg - Grund genug für die Schreibw!lden, die Stadt in Kurzgeschichten, Anekdoten und Gedichten zu verewigen. Eine Kriminalkommissarin reist nach Freiburg und entdeckt im Zug einen mutmaßlichen Serienmörder, eine Frau lässt sich im Münster einschließen und erlebt ein nächtliches Abenteuer, ein Jungwinzer ist auf zweifelhafte Weise zu einem besonderen Stück Reben am Schönberg gekommen. Am Augustinerplatz sucht eine über achtzigjährige Französin nach ihrer Jugendliebe, eine unglückliche Bewohnerin des Stühlingers findet Trost am Tanzbrunnen, und auch das Gänsemännle auf dem Adelhauser Klosterplatz kommt zu Wort. Ob mitten in der Altstadt, im alternativ geprägten Vauban, dem urigen Stühlinger oder unterwegs in der Stadtbahn: Folgen Sie den Schreibw!lden auf ihrem Streifzug durch die 900 Jahre alte Universitätsstadt!
Die Schreibwilden Die Schreibwilden sind sechs Autorinnen aus Freiburg und Umgebung. Kennengelernt haben sie sich im Laufe mehrerer Schreibworkshops am Institut für Kreatives Schreiben. Zu ihren veröffentlichten Werken zählen neben den vorliegenden Freiburg-Geschichten die Anthologien 'Hochhinaus & Mittendrin' und 'Was das Leben hergibt'. Seit 2016 kommen Die Schreibwilden regelmäßig zu Autorinnentreffen zusammen und haben an verschiedenen Lesungen in Freiburg und Denzlingen teilgenommen. In ihren Geschichten beleuchten sie gerne das alltägliche Leben aus ungewöhnlicher Perspektive und überraschen damit immer wieder ihre Leserinnen und Leser.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Haste mal ne Mark? Claudia Hellstern Vier Wörter, fünfzehn Buchstaben – und eine ganze Geschichte. Ich war neu in der Stadt, hatte nach meinem Studium Anfang 1980 eine Arbeit in der Kronenstraße gefunden und marschierte täglich vom Bertoldsbrunnen, wo ich aus der Straßenbahn ausstieg, durch das Martinstor ins Büro und am Abend den gleichen Weg zurück. Im Grunde genommen war ich ein Landei, sicherheitsbewusst. Ich nahm immer den gleichen Weg, die gleiche Straßenbahn, um nichts falsch zu machen. Die falsche Linie zu benutzen oder gar falsch auszusteigen, war für mich eine Horrorvorstellung. Also die gleiche Bahn, den gleichen Weg. Als ich mich nach einiger Zeit traute, mein Umfeld wahrzunehmen, mich umzuschauen, entdeckte ich direkt hinter dem Martinstor einen „Mantelberg“. Einen Mantelberg mit Haaren, der sprechen konnte. Verblüfft, nein erschreckt, sprang ich auf die andere Straßenseite, wäre dabei fast in eine Straßenbahn gerannt und stierte aus sicherer Entfernung hinüber. Auf dem Boden bei dem Brunnen saß ein Mantelberg, der Arme hatte und eine Hand ausstreckte. Ich sah, wie ihm ein eiliger Passant etwas in die Hand legte. Auf dem Nachhauseweg nahm ich mich zusammen und spazierte vorbei. Vorsichtig und langsam, möglichst unauffällig. Der Mantelberg saß an der gleichen Stelle wie am Morgen. Ich war gespannt wie ein Flitzbogen und neugierig wie ein kleines Kind. Da hörte ich eine raue brüchige Stimme, leise und kratzig: „Haste mal ne Mark?“ Hä, dachte ich. Eine Mark? Für was? Ich stellte mich in einiger Entfernung in Position. Vor dem Kolbencafé hatte ich einen guten Blick und beobachtete, wie ihm immer wieder Leute etwas in die austreckte Hand legten. Ich war zu weit weg, um Worte zu hören, meinte aber, leise Flüstertöne zu vernehmen. Ich blieb auf meinem Posten. Auf dem Heimweg, den ich schließlich doch antrat, hatte ich diese vier Wörter wie ein Mantra im Kopf: „Hast mal ne Mark?“ Es ging mir nicht mehr aus dem Sinn. „Haste mal ne Mark?“ „Haste mal ne Mark?“ Zu Hause angekommen, leerte ich meinen Geldbeutel und sortierte die Markstücke aus. Warum? Keine Ahnung. Am nächsten Morgen steckte ich mir eine Mark in die Jackentasche. Griffbereit, falls er wieder da war und mich nach einer Mark fragte. Mutig war ich nicht. Ich passierte das Martinstor und sah ihn an gleicher Stelle sitzen. Man konnte meinen, er habe sich nicht bewegt, die ganze Nacht nicht bewegt. Ein riesiger Mantel aus groben Stoff, eine haariger Kopf, Haare, nichts als Haare. Wie gesagt, mutig war ich nicht. Ich überquerte schnell die Straße, konnte es aber nicht lassen, ihn anzuschauen. Fast wäre ich mit meiner Glotzerei auf einen Laternenpfahl gerannt. Wie der Hans-Guck-in-die-Luft. Nach Feierabend wollte ich ihm die Mark geben. Ich wollte ganz nah an ihm vorbeigehen und ihm die mittlerweile von meiner Hand ganz heiße Mark reichen. Eine Mark? Was war das schon? Es war mir peinlich – eine Mark – dafür bekommt man doch nichts! Dachte er womöglich, diese geizige Landfrau …? Genug. Er wollte eine Mark und nicht zwei. So stolperte ich mutig auf ihn zu, ging ganz nah an ihm vorbei und hörte die rauen Worte: „Haste mal ne Mark?“ Schnell gab ich ihm meine heiße Mark und genauso schnell ging ich weiter. Ich hörte ein ganz schwaches „Danke“. Was machte er mit meiner Mark? Ich blieb stehen, wieder am Kolbencafé, und beobachtete ihn. Meine Mark hatte er in die tiefen Höhlen seines Mantels verschwinden lassen. Er streckte seine Hand wieder aus und fragte die Passanten nach einer Mark. Wie viele Markstücke er zusammenbekam, ich hatte keine Vorstellung. Das interessierte mich wenig. Ich wollte sein Gesicht sehen. Ich wollte sehen, wie er sich aus seinem Mantel schälte und … naja, keine Ahnung. Auf jeden Fall war der Anfang gemacht. Täglich ging ich vorbei, beobachtete ihn, die Markstücke klimperten in meiner Jackentasche und warteten darauf, an den Mann zu kommen. Manchmal saß ein zweiter Mantelberg neben ihm, genauso haarig, genauso eingehüllt, aber bei weitem nicht so faszinierend. Ich erfuhr, dass er zu Freiburg gehörte wie das Münster. Dass die beiden die Freiburg-Clochards waren. Sie waren ungefährlich und pöbelten nicht. Manchmal diskutierten sie mit normalen Leuten und überließen sich ihrem Gottesglauben und ihrem Schicksal. Überzeugt war ich, dass man nicht grundlos auf der Straße sitzen müsse und um eine Mark bitten. Irgendwas musste passiert sein. Meine grundeigene Landmädchen-Überzeugung ließ keine andere Option zu. Der arme Mann … er hatte keine andere Wahl. Ich gab ihm eine Mark. Ich trieb mich geradezu besessen am Martinstor herum. Immer länger, immer öfter und bestaunte diese Gestalt, diese Ruhe, diese stoische Ruhe, diese Bewegungslosigkeit und auch das Schweigen. Ich hatte mittlerweile sein Gesicht gesehen. Außer den Haaren auf dem Kopf und dem langen struppigen Bart, ich musste an das Bild von Rübezahl in meinem Märchenbuch aus Kindertagen denken, hatte er auch zwei Augen, eine spitzige Nase und einen Mund. Der Mantelberg war ein Mensch aus Fleisch und Blut, nur dass er die Hektik der Stadtbesucher nicht hatte. Er schien in sich zu ruhen. Er war die Ruhe selbst. Mit den längeren und wärmeren Tagen verbrachte ich immer mehr Zeit dort am Martinstor. Ich wusste nicht, ob er es registrierte. Ich wusste nicht, ob er mich überhaupt bemerkte. Ich wusste nur, dass er meine Mark nahm, selbstverständlich nahm und sich keinerlei Gedanken darüber machte, von wem sie kam. Sie war ja auch nur eine Mark unter vielen. Um mir die Zeit zu verkürzen, hatte ich ein Buch dabei und etwas zu trinken. Ich setzte mich auf die Bank in seiner Nähe und las oder tat zumindest so. Meist war ich abgelenkt und nicht in der Lage, mich auf das Buch zu konzentrieren, weil ich Angst hatte, irgendetwas Wichtiges zu verpassen. Sie waren jetzt meist zu zweit – wie Zwillinge – die ihrer Mama einen Streich spielen wollten. Obwohl es wärmer war, man im T-Shirt draußen sitzen konnte, steckten sie in ihren Mänteln. Sie brüten, dachte ich. Irgendwo wuschen sie sich, denn sie waren nicht schmutzig. Die Haare nicht fettig und der Bart nicht verklebt von Essen und Rotz. Ich stellte mir vor, wie sie in Herdern in einer großen Villa mit Pool im Garten wohnten und dies alles nur eine Farce war. Ein Test, eine neue Lebensart. Oder sie lebten eigentlich in Saint Tropez und hatten dort ein mondänes und anstrengendes Leben und brauchten einfach mal eine Auszeit. Meine Phantasie ließ alles zu, Väter von vielen Kindern, die ihnen auf die Nerven gegangen waren, betrogene Ehemänner oder umgekehrt Männer, die ihrer Frauen überdrüssig waren und einfach mal kurz ausstiegen. Alles war möglich, alles war unmöglich. Unmöglich war auch ich. Ich hatte mich so sehr festgebissen und konnte nicht mehr anders, als meine Zeit dort in ihrer Nähe zu verbringen. Ich sah keine Bierflaschen um sie herum, keine Kippen, keine Hunde. „Haste mal ne Mark?“ war das einzige, was ich hörte. Ab und zu ein leises Danke oder ihr Gemurmel und Gebrummel, wenn die beiden irgendetwas diskutierten. Doch dann eines Tages, als ich mit meinem Buch Platz genommen hatte, hörte ich plötzlich etwas anderes als „Haste mal ne Mark?“ Zuerst begriff ich nicht, was los war. Denn wie ein Zauberwind saß er plötzlich neben mir und schaute mich mit blauen, herrlich blauen Augen an. Spöttisch, neugierig. „Sag mal, was willst du eigentlich? Warum treibst du dich hier rum? Du bist doch keine von uns?“ „Wwwie bitte?“ Ich stammelte, wusste nicht, wie mir geschah, was mir geschah. Was ich sagen sollte. „Mensch Mädchen, meinst du ich bin blöd, weil ich einen langen Bart habe? Seit Wochen lungerst du hier herum und glotzt mich an. Was willst du?“ „Nichts!“, sagte ich kleinlaut. „Nichts, wirklich nichts!“ Er war schön. Er gefiel mir. Seine Augen, seine spitze Nase, seine Lippen und auch seine schönen Zähne. Er gefiel mir und ich weiß nicht, ob ich deswegen so stammelte, oder weil ich so überfordert war, oder keine Antwort wusste, oder weil es mir so peinlich war, ertappt worden zu sein. „Nichts will ich!“ „Ist ja schon komisch, dass so ein fesches Mädchen wie du nicht nach Hause geht und lieber hier herumstreicht, wie eine Landstreicherin. Willst du wissen, wie’s geht? Das Betteln? Glaub mir, das ist nichts für dich.“ Ich sagte nichts. Ich klammerte mich an mein Buch und schluckte und hoffte, dass ich nicht zu weinen anfing. Aus Frust, aus Schrecken, aus allem, was in mir vorging. Er schaute mich an, eindringlich, während der andere sich nicht um uns kümmerte und ein Schläfchen zu halten schien. „Zeig mal, was du liest“, flüsterte er und er nahm mit...