E-Book, Deutsch, 372 Seiten
Dipper Die Entdeckung der Gesellschaft
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-86408-313-6
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sattelzeit in Europa, 1770-1850
E-Book, Deutsch, 372 Seiten
ISBN: 978-3-86408-313-6
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ist 'Gesellschaft?' Christof Dipper beschreibt und analysiert die Entdeckung dessen, was wir als 'Gesellschaft' verstehen. In den 80 Jahren zwischen 1770 und 1850 überschritt die deutsche Gesellschaft eine Schwelle und veränderte sich drastisch. Vielfach ist diese als 'Sattelzeit' (Reinhart Koselleck) beschriebene Übergangsphase skizziert worden. Doch Christof Dipper schlägt mit seiner Studie einen besonderen Weg ein: Was wussten die Zeitgenossen davon, d.h. was konnten sie über die gesellschaftliche Transition lesen und wie entstand ihr Gefühl, Teil einer 'Gesellschaft' zu sein? Dipper beschreibt, wie sich damals das Wissen über gesellschaftliche Vorgänge entwickelt hat. Zeitgenössische Wahrnehmungen zwischen 1770 und 1848 werden im zweiten Teil des Buches dokumentiert. Den Schluss bildet der Versuch, diese gesellschaftliche Schwelle zu erklären und die von ihr geprägte Übergangsgesellschaft aus heutiger Sicht zu beleuchten. Eine exzellente Studie - für das Verständnis des Werdens und der Basis unserer modernen Gesellschaft unerlässlich.
Christof Dipper, geb. 1943 in Stuttgart. 1963-68 Studium in Heidelberg (Geschichte, Romanistik, Politikwissenschaft), 1970-80 Assistent an Universität Trier. 1972 Prom. in Heidelberg (bei Reinhart Koselleck), 1980 Habil. in Trier (bei Wolfgang Schieder), Heisenberg-Stipendiat. 1980-87 Lehrstuhlvertretungen in Stuttgart, Freiburg u. Düsseldorf. 1987-90 Fiebiger-Prof. für Neuere u. Neueste sowie Wirtschaftsgeschichte an der Univ. Trier, 1990-2008 C4-Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. 1998/99 Stipendiat am Historischen Kolleg München, 2000 Gastprofessor an der Hebrew University Jerusalem, 2008/09 Senior Fellow am FRIAS-Kolleg Freiburg. Forschungsschwerpunkte sind italienische, Agrar- und Begriffsgeschichte, Geschichte und Methode unseres Faches und der Universität sowie die Konzeption und Geschichte der Moderne.
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1 Wörtlich heißt es im Interview Margret Thatchers mit Douglas Keay von „Women’s Own” am 23.9.1987 zunächst: “Who is society? There is no such thing. There are individual men and women and there are families”. Einige Zeilen später fällt dann aber tatsächlich der alsbald weltweit zitierte Satz: „There is no such thing as society“. https://www.margaretthatcher.org/document/106689 (Zugriff 26.7.2020). Zum Hintergrund Detlev Mares, Margaret Thatcher. Die Dramatisierung des Politischen, Gleichen, Zürich 2014, S. 30ff. 2 Art. „Gesellschafft“ in: Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Bd 10, Leipzig 1735, Sp. 1260f., hier Sp. 1260. 3 Es sind dies Demokratisierung, Politisierung, Verzeitlichung und Ideologisierbarkeit. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII, hier S. XVI-XVIII. Der Beitrag versteht sich nebenbei auch als Ergänzung bzw. (stillschweigende) Korrektur der beiden einschlägigen Lexikoneinträge von Manfred Riedel in Band 2 dieses Lexikons: Gesellschaft, bürgerliche, und Gesellschaft / Gemeinschaft. 4 ALR I/1, § 2. Das ALR übernahm hier eine schon ältere Naturrechtsformel, gab sich aber moderner als diese, indem es diesen Paragraphen im Abschnitt des Personen- und nicht des Staatsrechts unterbrachte. 5 So Reinhart Koselleck in seiner Vorbemerkung zum Artikel Staat und Souveränität, in: Geschichtliche Grundbegriffe (Anm. 3), Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 1-154, hier S. 1f. Ein gutes Beispiel liefert der „Vater der Statistik“, der Göttinger Professor Achenwall. Er begann seine Vorlesung mit der Definition von „bürgerlicher Gesellschaft oder Republick“, die „eine Gesellschaft vieler Familien [ist], welche zu Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt vermittelst einer Regierung miteinander vereiniget sind. Insbesondere nennt man solche ein Reich, wenn eine einzelne Person regiert“. Und fährt dann fort: „Diese Begriffe helfen uns, das Wort Staat deutlich zu erkennen. Man stellet sich darunter verschiedenes vor: bald eine jede bürgerliche Gesellschaft, bald eine freye bürgerliche Gesellschaft, das ist, die ausser ihrem eigenen Oberhaupte weiter keinem menschlichen Befehle unterthänig ist, bald eine Republick, wo viele zugleich das Regiment führen, und bisweilen auch das Regierungswesen, wenn es so viel als Staatsverfassung bedeutet. Aber in dem Worte Staatswissenschaft hat es eine ganz andre Bedeutung. Diese macht sich nicht bloß mit Menschen, sondern auch mit ihrem Eigenthum zu schaffen. Wir werden also wohl den Staat als den Inbegriff alles diesen ansehen müssen, was in einer bürgerlichen Gesellschaft und deren Lande würckliches angetroffen wird“. Gottfried Achenwall, Abriß der neuesten Staatswissenschaft der vornehmsten Europäischen Reiche und Republicken zum Gebrauche in seinen Academischen Vorlesungen, Göttingen 1749, § 2f. 6 Jean Bodin, Les Six Livres de la République, Paris 1576. Mit diesem enigmatischen Titel soll keineswegs suggeriert werden, Bodin habe hier den perfekten absoluten Staat entworfen, noch gar, dass die französische Monarchie irgendwann dem Idealbild eines absolutistischen Staates entsprochen habe. 7 Genannt sei nur, weil vielleicht am wirkmächtigsten, Werner Conze, Nation und Gesellschaft. Zwei Grundbegriffe der revolutionären Epoche [1964], jetzt in: Ders., Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Ulrich Engelhardt, Reinhart Koselleck u. Wolfgang Schieder, Stuttgart 1992, S. 341-354. 8 Durch die Hardenberg‘schen Reformen wurde in Preußen die Trennung von Staat und Gesellschaft „zur Rechtswirklichkeit“. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, S. 388. 9 Diese wohl zuerst von Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie getroffene Aussage gilt seither als kanonisch. 10 Veraltet und daher hier nicht weiter berücksichtigt ist Erich Angermann, Das Auseinandertreten von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ im Denken des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Politik 10 (1963), S. 89-101. 11 Dass es der Kameralistik um etwas ganz anders ging als den englischen Klassikern, weshalb nicht eine allmähliche Rezeption, sondern nur eine „kopernikanische Wende“ in Frage kam ‚betont Keith Tribe, Governing Economy. The Reformation of the German Economic Discourse 1750-1850, Cambridge 1988, S. 209. Dem stimmt Julius Gerbracht zu: Studierte Kameralisten im deutschen Südwesten. Wissen und Verwalten im späten Ancien Régime, Stuttgart 2021, S. 76. 12 Jan-Philipp Horstmann, Halbamtliche Wissenschaft. Internationale Statistikkongresse und preußische Professorenbürokraten, Paderborn 2020, S. 26. Auch wenn dieser Aspekt nur eine Hinführung zu Horstmanns eigentlichem Thema sind, muss seine zu kurz greifende Darstellung des um 1800 tobenden Methodenstreits kritisiert werden. Er war keineswegs schon 1811 beendet, wie die ihm unbekannt gebliebenen scharfen Kritiken des damals in Göttingen lehrenden Philosophieprofessors Lueder belegen. Lueder spottete über die „Zahlenknechte“, mit deren Hilfe „die preußische Regierung wußte, was Gott nur allein wissen kann“, zum Beispiel wieviel Scheffel Korn am Ende jedes Jahres vorhanden waren. August Ferdinand Lueder, Kritische Geschichte der Statistik, Göttingen 1817, S. 299. 13 Johann Peter Süßmilchs Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben, Berlin 11742, 31765. Bemerkenswert ist die Verbindung neuer Sichtweisen mit traditionellen Erklärungen und religiösem Rahmen, was zu weit auseinanderliegenden Urteilen in der Literatur geführt hat. In seinen Gedancken von den epidemischen Kranckheiten und dem größern Sterben des 1757ten Jahres (Berlin 1758) mit ihrem eindrucksvollen Tatsachenblick für die Manufakturarbeiter als neuer Klasse der Armut steht Süßmilch am Übergang von der älteren Bevölkerungslehre, die in Seuchen und Hungersnöten ‚Geißeln der Menschheit‘ erblickte, zur jüngeren, die in sozialen Vorgängen Ursachen des Übermaßes von Krankheit und Tod erkennt. Süßmilchs statistische Argumentationsweise für den kameralistischen Diskurs überschätzt möglicherweise Justus Nipperdey, Die Erfindung der Bevölkerungspolitik. Staat, politische Theorie und Population in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012, S. 420f. 14 Zum Newtonianismus s. u., S. 28. 15 Philosoph blieb in Deutschland Berufsbezeichnung, während in Frankreich und, diesem Beispiel folgend, in Italien daraus der kämpferische Aufklärer wurde. Der Krünitz nennt als Hauptbedeutung „jemand der die Philosophie versteht und lehrt“. Johann Georg Krünitz’s Oekonomisch-Technlogische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, Bd. 112, Berlin 1809, S. 533. Ähnlich Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch, 2. Auflage, Bd. 3, Leipzig 1798, S. 766. Bei Voltaire dagegen ist der Philosoph „amateur de la sagesse, c’est-à-dire de la vérité“, seine Gegner sind die „fanatiques“. Dictionnaire philosophique portatif. Nouvelle édition revue, corrigée et augmentée de divers articles par l’auteur, Londres [Amsterdam] 1765, S. 302 bzw. 307. 16 Ich folge hier weitgehend Eckart Pankoke, Fortschritt und Komplexität. Die Anfänge moderner Sozialwissenschaft in Deutschland, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 352-374, hier S. 357, ergänzt durch die Ausführungen in Kap. 3. Meinen Berechnungen zufolge hatte um 1800 mehr als jede vierte Arbeitskraft ihren Ort nicht mehr in der ständischen Gesellschaft. 17 Die afrikanischen Stammesgesellschaften bezeichnete Raynal als „petites nations“ oder „peuples“, was sich problemlos ins Deutsche übertragen ließ. In dem nicht von ihm verantworteten Atlas sind allerdings in Afrika unzählige „royaumes“, also „Königreiche“ verzeichnet, weil nur selten eine der in Europa üblichen ethnischen Kollektiveinheiten wie „France“ oder „Allemagne“ zur Verfügung stand; „Haute Guinée“ und...