E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Farnsworth Der praktizierende Stoiker
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96092-728-0
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein philosophisches Handbuch für den Verstand
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-96092-728-0
Verlag: FinanzBuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ward Farnsworth ist Dekan an der University of Texas School of Law und dort am John Jeffers Forschungslehrstuhl tätig. Er hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter The Practicing Stoic sowie The Farnsworth's Classical English series.
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EINFÜHRUNG
Diese Einführung bietet eine kurze und grobe Zusammenfassung der Ideen, die im weiteren Verlauf des Buches folgen. Nicht unbedingt notwendig, bietet sie jedoch eine Annehmlichkeit für diejenigen, die sich gern einen Überblick verschaffen möchten.
- Es scheint, als würden wir, während wir durchs Leben gehen, unmittelbar auf Ereignisse und andere Auslöser reagieren. Dieser Eindruck ist eine Illusion. Wir reagieren auf unsere Urteile und Meinungen – auf unsere Gedanken über etwas, nicht auf dieses Etwas selbst. Normalerweise sind wir uns dessen nicht bewusst. Wir betrachten Ereignisse durch unsere Urteilsbrille, die uns so vertraut ist, dass wir vergessen, dass wir sie aufhaben. Stoiker versuchen, sich dieser Urteile bewusst zu werden, die Irrationalität in ihnen auszumachen und Urteile mit größerer Sorgfalt auszuwählen.
Diese Vorstellung ist grundlegend für den Stoizismus. Dass sie zutrifft, lässt sich daran erkennen, dass wir manchmal feststellen, statt auf ein Ereignis vielmehr auf das zu reagieren, was wir darüber zu uns selbst sagen. (Wir hätten vielleicht auch etwas anderes zu uns sagen können.) In anderen Fällen ist es jedoch schwieriger, zu erkennen, welche Rolle Urteile bei der Erzeugung einer Reaktion spielen, weil sie so tief in uns verwurzelt sind, dass wir sie für selbstverständlich halten. Die Stoiker untersuchen diese Reaktionen – diejenigen, die sich unvermeidlich anfühlen –, indem sie sie mit den völlig anderen Reaktionen vergleichen, die anders konditionierte Menschen auf die gleichen Auslöser haben (oder mit den andersartigen Reaktionen, die wir haben, wenn unsere Umstände anders sind). Die Stoiker folgern daraus, dass unsere Art, auf etwas zu reagieren, tatsächlich von unseren Gedanken und Überzeugungen abhängt, so tief sie auch in uns vergraben sein mögen. Ihrer Ansicht nach ist es möglich, diese Überzeugungen und Gedanken zu ändern. Daher sollten wir sie einer rationaleren Prüfung unterziehen als üblich. Wie wir die Welt wahrnehmen, liegt an uns, nicht an der Welt, und ein Stoiker beabsichtigt, die Verantwortung dafür zu übernehmen (Kapitel 1).
- Wir sollten unser Wohlbefinden nur von dem abhängig machen, was wir kontrollieren können, und es von allem anderen loslösen. Im Allgemeinen können wir weder Ereignisse noch die Meinungen oder das Verhalten anderer noch Sonstiges, was außerhalb unserer selbst liegt, kontrollieren. Ein Stoiker betrachtet daher Geld, Ruhm, Unglück und dergleichen als »Äußeres« und bewahrt diesen Objekten gegenüber Distanz. Dennoch hegt er auch bezüglich solcher Dinge Vorlieben. So würde er Widrigkeiten lieber vermeiden und lieber reich als arm sein. Aber sich an solche Sehnsüchte oder Befürchtungen zu klammern, gilt als Garantie dafür, Ängste zu entwickeln; es gilt als eine Form der Versklavung, da man sich demjenigen unterwirft, der die Objekte dieser Sehnsüchte oder Befürchtungen kontrolliert. Es gehört zu den stoischen Grundsätzen, sich nicht um Dinge zu sorgen, die man nicht kontrollieren kann. Das Einzige, was wir kontrollieren können und worüber wir uns Gedanken machen sollten, sind unsere eigenen Urteile und Handlungen (Kapitel 2).
Um diese ersten beiden Punkte zusammenzufassen: Wir hängen an Dingen, die außerhalb unserer Macht liegen, und das bringt uns Leid; einiger Besonderheiten unseres Denkens, die wir kontrollieren könnten und die uns, würden wir sie besser handhaben, Seelenfrieden bringen würden, sind wir uns nicht bewusst. Der Stoizismus versucht, uns dieses Muster bewusst zu machen und es umzukehren.
- Nachdem sie gezeigt hatten, dass es an unseren Gedanken und Urteilen liegt, wie wir etwas erleben, machten sich die Stoiker daran, diese zu ändern. Dazu setzten sie zwei Arten von Strategien ein, die wir als analytisch und intuitiv bezeichnen könnten. Die analytische Seite besteht aus rationalen Argumenten – Vernunft und Beweise werden genutzt, um die Sinnlosigkeit materieller Wünsche, die Nutzlosigkeit verschiedener Befürchtungen und so weiter aufzuzeigen. Der intuitive Ansatz besteht darin, das Leben aus Perspektiven zu betrachten, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen führen sollen wie die Argumente, nur eben ohne die Argumente. Jemand betrachtet die Dinge einfach aus einem neuen Blickwinkel und reagiert daraufhin anders auf sie. Dementsprechend könnte man sagen, dass die Stoiker mit Worten und mit Bildern zu überzeugen versuchen.
Um mit der intuitiven Seite – also den Bildern – zu beginnen: Wir alle besitzen eine für uns übliche und automatische Sichtweise. Wir blicken aus unserem Inneren heraus und sehen die Welt dementsprechend. Dieser Betrachtungswinkel sorgt dafür, dass wir in einer langen Liste von Täuschungen gefangen sind. Der Stoiker sucht, sich von ihnen zu befreien, indem er die Ereignisse von einem weniger offensichtlichen Standpunkt aus betrachtet – indem er den Maßstab für Dinge oder Ereignisse räumlich auf die ganze Welt ausdehnt, oder indem er den zeitlichen Maßstab ändert, oder indem er schaut, wie sie aus der Ferne aussehen würden, oder indem er seine eigenen Handlungen durch die Augen eines Zuschauers betrachtet, oder indem er das, was mit einem selbst geschieht, so betrachtet, wie man es tun würde, wenn es jemand anderem geschähe. Stoiker erlangen die Fähigkeit, das Leben aus Perspektiven zu betrachten, die Demut und Tugend fördern und die Fehleinschätzungen, nach denen wir leben, auflösen (Kapitel 3 und anderswo).
Der Stoiker strebt außerdem danach, nicht nur die Angst vor dem Tod zu überwinden, sondern die Sterblichkeit als eine weitere Quelle der Perspektive und Inspiration zu behandeln. Die Einsicht, dass das Dasein ein Ende hat, rückt das Alltagsleben in ein neues und veredelndes Licht, ähnlich wie das Nachsinnen über die Dimensionen des Universums oder der Zeit (Kapitel 4). Stoiker üben sich auch darin, über Vergleiche nachzudenken, die uns weniger neurotisch machen als die neidischen Vergleiche, mit denen wir uns gewöhnlich plagen (Kapitel 5). All diese Punkte können als weitere Beispiele dafür angesehen werden, wie man durch die Änderung des eigenen Standpunktes nach mehr Weisheit streben kann.
- Um zur analytischen Seite des Projekts zu kommen: Die Stoiker analysieren das, was unser Innenleben ausmacht – Wünsche, Ängste, Emotionen, Eitelkeiten und den ganzen Rest. Es zeigt sich, dass diese Zustände Produkte unseres Denkens sind und zumeist Fehlern aufsitzen; die dahinterstehenden Urteile entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als falsch oder idiotisch. Die stoischen Gegenmaßnahmen laufen im Großen und Ganzen auf die Anwendung der ersten beiden oben genannten Punkte hinaus. Wir reagieren nicht auf äußere Ereignisse oder Umstände, sondern auf unsere Urteile über sie, und diese Urteile bestehen in der Regel aus Drehbüchern, die den Konventionen folgen oder anderweitig töricht oder fiktiv sind. Die Stoiker versuchen, die Skripte auseinanderzunehmen und uns bessere Möglichkeiten aufzuzeigen, mit uns selbst über die darin enthaltenen Themen zu sprechen.
Die spezifischere stoische Analyse des Begehrens, der Angst und der Wahrnehmung zieht sich durch die Mitte des Buches, sie kann hier nicht in Gänze zusammengefasst werden. Vieles davon besteht darin, die menschliche Natur sehr genau zu beobachten und sich Notizen über die darin vorgefundene Irrationalität zu machen. Zum Beispiel: Wir begehren, was wir nicht haben, wir schätzen das gering, was wir haben, und wir beurteilen unseren Status und unseren Erfolg mithilfe von Vergleichen, die willkürlich und sinnlos sind. Wir jagen Geld und Vergnügen auf eine Art und Weise nach, die keine wirkliche Befriedigung bringen kann; wir streben nach Ansehen in den Augen anderer, das uns nichts wirklich Gutes bringen kann. Wir quälen uns mit der Furcht vor Dingen, die zu ertragen leichter wäre, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Wir schenken dem Hier und Jetzt keine Beachtung, weil wir uns mit zukünftigen Dingen beschäftigen, denen wir wiederum keine Beachtung schenken werden, wenn sie eingetroffen sind. Es folgt noch mehr, aber dies deutet bereits auf die Art der stoischen Diagnose hin. Kurz gesagt: Wir regen uns auf wegen Überzeugungen – meist nur halb bewusst –, von denen wir nicht einmal sagen können, woher sie stammen, und die uns unglücklich und lächerlich machen. Mehr und besser über die Funktionsweise unseres Verstands nachzudenken, könnte uns von vielen subtilen Verrücktheiten befreien.
Es mag zweifelhaft erscheinen, dass eine Analyse, wie sie gerade skizziert wurde, die Art und Weise, wie man etwas empfindet, verändern kann. Man sollte annehmen, dass man Menschen Gewohnheiten und Gefühle nicht ausreden kann, die ihnen nicht eingeredet wurden. Aber manchmal funktioniert es. Außerdem ist der Stoizismus der Ansicht, dass uns unsere Gefühle tatsächlich oft unbemerkt eingeredet...