Aus dem Alltag einer rechtlichen Betreuerin
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Reihe: BALANCE Erfahrungen
ISBN: 978-3-86739-744-5
Verlag: BALANCE Buch + Medien Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Dass die Gesellschaft ein 'Herz für Arbeitslose' hat oder dass Sozialleistungen von Herzen kommen, ist eine schöne Vorstellung - die Realität sieht oft anders aus. Renate Fischer wird als rechtliche Betreuerin täglich neu mit einer 'Parallelwelt' konfrontiert, in der sie sich um geistig Behinderte, alt gewordene, psychisch kranke oder andere Menschen kümmert, die allein im Alltag nicht zurechtkommen. Sie hat es dabei mit teils sturen und teils kooperativen Behörden, aber auch genauso eigenwilligen Klientinnen und Klienten zu tun. Gerade die zuweilen unkonventionellen Problemlösungen auf allen Seiten machen den Charme dieser Geschichten aus, erzählt mit klarem Blick, Herz und Humor.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;Wie dieses Buch entstand;11
3;Tür zu;17
4;Halbmarathon;21
5;Kaiserschnitt;25
6;Eigensinn;27
7;Vorräte;32
8;Ganz still;34
9;Wegen Verleugnung;38
10;Rauschgift;40
11;Berufsberatung: Wie wird man Betreuer?;42
12;Angehörige;47
13;Der Tochter-Trick;51
14;Hausdurchsuchung;54
15;Spielverderber;58
16;Erster Arbeitsmarkt;62
17;Fotos;65
18;Verhütung;67
19;Verhängte Spiegel;69
20;Eins-Komma-null-Abitur;72
21;Umzugsmühen;74
22;Krankheitsgewinn;79
23;Fehlende Mitwirkung;82
24;Arbeit;85
25;Koste es, was es wolle;89
26;Operiert = gesund;93
27;Tiere;95
28;Baustellengucker;97
29;Überall ist es besser als hier;100
30;Bessere Zeiten;103
31;Der Wohnwagen;106
32;Raucherzone;109
33;Störenfriede;111
34;Wohin mit der Leiche?;114
35;Werbegeschenke;117
36;Ein neues Leben;119
37;Wünsch dir was;123
38;Das Bein;126
39;Schwanger;129
40;Finanzverhandlungen;134
41;Wertsachen;138
42;Mühsame Rechtswege;141
43;Lebensumstände;144
44;Hochzeit;147
45;Sozialbetrüger;151
46;Hilfe planen;158
47;Impulskontrolle;163
48;Ein Menschenleben;166
49;Kontofreigabe, knapp tausend Jahre zu spät;169
50;Persönlichkeitsstörung;172
51;Vorbildlich;178
52;Großeinsatz;180
53;In der Klemme;184
54;Geld verdienen;188
55;Festhalten;194
56;Ein gutes Team;196
57;Eine lange Reise;200
58;Schweigen ist Silber und Gold;204
59;Soldatenleben;209
60;Verständigungsschwierigkeiten;211
61;Katastrophen;214
62;Erfolgreiche Kontaktaufnahme;218
63;Zwei gegen den Rest der Welt;222
64;Familiengeschichten;227
65;Antragsdomino;232
66;Belagert;235
67;Unseriöse Angebote;238
68;Rechnungslegung;243
69;Mit Herz und Verstand;246
70;Glossar;250
71;Danke;253
"Fehlende Mitwirkung (S. 81-82)
Eine neue ältere Klientin, Frau Semmler. Sie lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Wohnung. Ich sage ihr, dass ich ab jetzt ihre Geldangelegenheiten regele und lasse mir die Kontoauszüge zeigen. An Zahlungseingängen finde ich nur eine monatliche Rente des Mannes über 560 Euro. Miete, Gas und Strom machen zusammen 390 Euro und werden automatisch abgebucht. »Sie können doch nicht von 170 Euro im Monat leben!?«, frage ich das Ehepaar ungläubig. Beide ziehen ratlos die Schultern hoch.
»Ich geh immer zur ›Tafel‹, da kriege ich umsonst etwas zu Essen«, sagt die Frau in einem Ton, als müsse sie sich auch noch dafür rechtfertigen. Ich habe die Kontoauszüge eingepackt und fahre direkt zum Sozialamt. Der zuständigen Sachbearbeiterin lege ich die Auszüge vor und sage in meiner Naivität auch noch, wie traurig es sei, dass sich viele Leute schämen würden, ihnen zustehende Leistungen zu beantragen. Darauf sagt die Sozialamtsdame: »Ach, die Semmlers, die waren schon mal hier.«
Es wird mir daraufhin berichtet, dass das Ehepaar seit fast einem Jahr immer mal wieder vorspre82 che, aber nie die geforderten Unterlagen bringen könne. Trotz Mahnung würde kein Mietvertrag vorgelegt, die Kontoauszüge seien immer unvollständig und die Formulare nur unzureichend ausgefüllt. Daher habe man die Anträge auf Grundsicherungsleistungen jeweils wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt. Mit wachsender Fassungslosigkeit höre ich der Sachbearbeiterin zu, die alle ihre Angaben durch Aktennotizen belegen kann, die in einer Hängeregistermappe mit der Aufschrift »Semmler« abgeheftet sind.
»Und Sie wissen, dass die beiden von 170 Euro im Monat leben müssen?«, frage ich. »Ja, das ist doch nicht mein Fehler!«, sagt sie empört. »Aber Sie hätten ihnen doch bei den Formularen und den anderen Dingen helfen können!« »Habe ich ja, aber dann fehlten wieder Kontoauszüge. Und der Mietvertrag.« Ich sehe der Sachbearbeiterin zu, wie sie in einer doch langsam aufkommenden Unsicherheit ihre Stifte und Stempel auf ihrem Schreibtisch mit den Fingerspitzen verschiebt. Ich schaue sie sehr, sehr böse an und verlasse das Amtszimmer.
Wieder bei den Semmlers angekommen, stellt sich heraus, dass sie gar keinen schriftlichen Mietvertrag besitzen, sondern die Mietsache damals per Handschlag besiegelt haben, da ihr Vermieter die Wohnung am Finanzamt vorbei vermietet. Einige Kontoauszüge sind verloren gegangen, für einen zweiten Ausdruck verlangt ihre Bank 15 Euro, die sie nun wirklich nicht übrig haben. Ich lege dem Vermieter, einem Zahnarzt, einen Standardmietvertrag vor.
Die Drohung mit Anzeige wirkt und er unterschreibt den Vertrag. Die Anträge an das Sozialamt mache ich schnell fertig und bringe alles persönlich dorthin. Der Sachbearbeiterin sage ich, dass sie die Kontoauszüge bekommt, wenn die erste Zahlung geflossen sei. Außerdem bestehe ich auf rückwirkende Berechnung seit dem Tag der ersten Antragstellung. Ich lasse das Wort Dienstaufsichtsbeschwerde fallen. Einige Zeit später bekommen die Semmlers eine dicke Nachzahlung. Sie sind sehr glücklich und kaufen als erstes Geschenke für diejenigen, die ihnen in der Vergangenheit mit Geld und Lebensmitteln unter die Arme gegriffen haben."