Frenzel | In eurem Schatten beginnt mein Tag | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Frenzel In eurem Schatten beginnt mein Tag

Wie die Nazi-Vergangenheit meiner Familie mich bis heute rassistisch prägt
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-28163-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie die Nazi-Vergangenheit meiner Familie mich bis heute rassistisch prägt

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-28163-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Schon als Kind ahnte Veronica Frenzel, dass in ihrer Familiengeschichte etwas Bedrohliches liegt. Sie schnappte es nebenbei auf, reimte es sich aus Gesprächsfetzen zusammen. Doch nie hat jemand offen über das gesprochen, was ihre Großeltern in der NS-Zeit getan hatten. Als sie sich ausgerechnet in einem Antirassismus-Workshop bei rassistischen Gedanken ertappt, fällt sie aus allen Wolken. Wie kann das sein? Stets hatte sie sich als eine Verbündete von Schwarzen Menschen und People of Color gesehen, sich immer bemüht, allen gegenüber offen zu sein. Woher kommen diese Gedanken und wie wird sie diese los? Veronica Frenzel recherchiert, spricht mit ihren Verwandten, Psycholog*innen und NS-Opfern, seziert ihre Familienbiografie, ihre Gedanken und Gefühle, ihre weiße deutsche Identität. Schonungslos legt die Journalistin offen, wie sie das NS-Gedankengut ihrer Großeltern und die deutsche Geschichte überhaupt geprägt haben, wie Rassismus und andere Formen der Diskriminierung bis heute in ihr und in unserer Gesellschaft wirken, warum sie Freund*innen, Familie, Umwelt und sich selbst ständig abwertet – und wie sie allmählich einen kritischen Umgang mit alldem findet.
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ICH.
ERTAPPEN.


Zum ersten Mal bewusst habe ich mich in Wien ertappt. Ich war zu Besuch bei einer Kindheitsfreundin, wir hatten uns lange nicht gesehen, versunken in unser Gespräch spazierten wir am Graben, dieser glitzernden Einkaufsstraße. Da trat ein Mann auf uns zu. Er war Schwarz. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie er den Mund öffnete, wie er ansetzte, etwas zu sagen. Noch bevor er das erste Wort sprach und ohne ihn anzusehen, beschleunigte ich den Schritt, blickte starr zu meiner Freundin. Während ich ihn angestrengt ignorierte, sagte der Mann in von mir unerwartet perfektem Deutsch: Mitten im Satz brach er ab. Er hatte es natürlich gesehen. Dass ich zusammengezuckt war. Dass ich mich abgewandt hatte. Dass ich mir aufgrund seiner Hautfarbe ein Bild von ihm machte, das ihm nicht gerecht wurde, an dem ich festhielt, aus Gewohnheit, Faulheit, Scham. Steif lief ich an ihm vorüber, ohne mich umzuwenden, ohne mich zu entschuldigen, ohne ihn zu fragen, was er eigentlich wissen wollte. Ein peinliches Unbehagen wuchs in mir mit jedem Schritt, den ich mich von ihm entfernte, und die Worte meiner Freundin, denen ich gerade noch aufmerksam gefolgt war, drangen kaum noch zu mir. Als wir wenig später in einem Kaffeehaus bestellten, fragte ich, ob sie gehört hätte, was der Mann am Graben zu uns gesagt hatte, ob sie sich auch so erbärmlich fühlte, weil wir ihn ignoriert hatten und einfach weitergegangen waren. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Sie habe ihn gar nicht gesehen.

Ein halbes Jahr vor dieser Nicht-Begegnung hatte ich mich bei einem Antirassismus-Training angemeldet. Aus Neugier. Vielleicht wollte ich tatsächlich sehen, wie andere sich bloßstellten, rassistische Einstellungen offenbarten? Also: Alltagsrassismus durch den Spiegel der anderen erleben, von dem ich in der #MeTwo-Debatte so viel gelesen, den ich aber natürlich noch nie bewusst wahrgenommen hatte? Ich glaubte jedenfalls nicht, dass ich selbst ein solches Training brauchen würde. Ich war sicher: Schwarze und Menschen betrachtete und behandelte ich unterschiedslos. Rassismus existierte nicht wegen, sondern trotz meiner Person.

Seit Langem hatte ich Schwarze Freunde, für meine Arbeit war ich viel auf dem afrikanischen Kontinent unterwegs, ich kiffte auf Antifa-Partys, organisierte Schlafplätze für Geflüchtete. Längst hatte ich begriffen: Rassismus bezeichnete nicht die pseudowissenschaftliche Rassenlehre der Nazis, die behauptete, Menschen unterschiedlicher Hautfarben hätten unterschiedliche Fähigkeiten und Eigenschaften. Die hatten die Alliierten den Deutschen nach 1945 mit der Entnazifizierung ausgetrieben. Rassismus war vielmehr ein System, in dem Schwarze systematisch unterdrückt und privilegiert werden, in dem Macht haben und Schwarze leiden.

Jedes Mal, wenn ich erfuhr, dass wieder Menschen auf der Flucht nach Europa im Meer ertrunken waren, kamen mir die Tränen, und ich heulte noch mehr, wenn ich erneut erlebte, dass sich dafür keine*r der Verantwortlichen verantwortlich fühlte. Bei meiner Arbeit als Journalistin schrieb ich lange fast ausschließlich über die Ungerechtigkeiten, die Schwarzen immer und überall auf der Welt widerfuhren. In Europa recherchierte ich die Situation derer, die zu uns flohen, weil Politiker Schwarze Zukunft wieder einmal Interessen geopfert hatten, begleitete jene, denen in Europa nichts anderes blieb, als ohne Vertrag und unter menschenverachtenden Bedingungen Obst und Gemüse für zu ernten oder Einkaufszentren zu bauen und schon wieder für Wohlstand zu sorgen. Und ich analysierte, dass kaum jemand in Europa diese Zusammenhänge sehen wollte, weil die meisten noch immer glaubten, dass jeder seinen Platz auf der Welt verdient hatte, weil sie nicht sehen wollten, dass es bloß Zufall war, dass wir mit Privilegien zur Welt gekommen sind. In West-, Ost- und Südafrika suchte ich deshalb dauernd nach Geschichten, die illustrierten, welche Verantwortung Europa am Leid des Kontinents trägt und wie wir Europäer*innen versagen, uns dieser zu stellen.

Ich glaubte, ich kämpfte an derselben Front wie alle weltweit Unterdrückten. Obwohl ich natürlich verstand, dass auch ich als qua Geburt und per Default auf Kosten von People of Color und Schwarzen privilegiert werde, war Rassismus für mich damals doch vor allem ein weiterer Unterdrückungsmechanismus des kapitalistischen Gesellschaftssystems, unter dem ich als Arbeitertochter und vor allem als Frau genauso litt. Ich dachte, es genüge, mir und anderen unsere Privilegien bewusst zu machen, um das Unrecht auszugleichen. Das Antirassismus-Training würde mir helfen, rassistisches Verhalten anderer schneller zu erkennen und zu benennen, meine Schwarzen Freund*innen besser zu schützen, klüger auf diskriminierende Kommentare zu reagieren, besonnener und weniger aggressiv. Denn allzu oft verlor ich noch die Fassung, wenn mein Gegenüber sich weigerte, den eigenen Anteil am Schwarzen Leid zu sehen, wurde ungehalten, laut und verpasste eine weitere Chance, den anderen zu erreichen und für den Kampf für Gerechtigkeit zu gewinnen. Ich glaubte wirklich, ich führte das richtige Leben im falschen System.

Ich wollte (und konnte?) nicht sehen, wie viel Rassismus mit meinem ganzen Selbst zu tun hat und dass es nicht reichte, die richtigen politischen Überzeugungen zu haben. Mir war nicht bewusst, dass ich wegen meiner Erziehung und wegen meiner Sozialisierung nicht nur Komplizin bin, sondern dass ich das rassistische System immer weiter nähre, solange ich das nicht anerkenne und vor allem: solange ich mich nicht selbst auseinandernehme. Natürlich verstand ich auch nicht, dass ich diesem System mit meinem oberflächlichen Aktivismus bisher nur einen aufgeklärten Anstrich gab, einen Deckmantel, der es sogar immer schwerer macht, das Unrecht zu sehen. Dass ich, wenn ich um die toten Menschen im Mittelmeer weinte, historische Schuld mit historischem Schmerz verwechselte, dass ich mich also auf die Seite der Opfer schlug, ohne mich damit auseinanderzusetzen, welchen Anteil ich als Bürgerin der europäischen Gesellschaft daran noch heute tatsächlich habe. Dass ich im Namen meiner vermeintlichen Empathie mit den versklavten und kolonialisierten Menschen gar die Schwarze Erzählperspektive vereinnahmte, las ich später in dem Buch von der Schwarzen deutschen Publizistin Natasha A. Kelly, und es dauerte danach noch eine Weile, bis ich verstand, was sie damit eigentlich meinte. Ich kapierte einfach nicht, dass ich mich davor drückte, mich mit mir selbst und meiner eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen.

Deshalb rollte ich innerlich mit den Augen, als der Antirassismus-Trainer Mutlu zu Beginn des Workshops erklärte, so gut wie alle würden Schwarze unbewusst verletzen, wegen der Erziehung, der Schulbildung, der Medien, einfach wegen der Struktur der Gesellschaft, in der wir uns bewegen, die wir bilden. sagte ich stumm, aber sichtbar

Keine zwei Stunden später passierte bei einem Rollenspiel etwas, das meine Sicht radikal veränderte, vor allem den Blick auf mich selbst, etwas, das mich endlich dazu zwang, mich selbst wirklich kritisch zu betrachten. Vor Schreck hüpfte ich vom Stuhl. Ich blickte auf und sah Mutlu, der zufrieden in sich hineinlächelte, das zumindest bildete ich mir ein, und die anderen Teilnehmer*innen, die verschämt meinen Blick mieden. Blut schoss in meine Wangen. Am liebsten wäre ich hinausgelaufen, hätte mich auf der Toilette verkrochen und geheult, so wie ich es als Kind immer tat, wenn etwas nicht so lief, wie ich dachte, dass es zu laufen habe. Natürlich wahrte ich die Fassung. Setzte mich steif auf einen freien Platz und schwieg.

hatte Mutlu gefragt und mitten in dem leer geräumten, quadratischen Seminarraum zwei Stühle einander gegenübergestellt. Er zeigte auf den einen, dann auf den anderen, Natürlich setzte ich mich zuerst auf den einen. brüllte mir der grauhaarige Mann auf dem anderen ins Gesicht, Entgegen meiner Absicht und obwohl ich versuchte, laut zu sprechen, klang ich zaghaft wie eine Erstklässlerin. Ungerührt und mit größter Selbstverständlichkeit fuhr der Grauhaarige fort. Hektisch suchte ich nach Argumenten, Schweißtropfen liefen an meinen Rippen herab, beißend saurer Geruch stieg mir in die Nase. Ich war blockiert. Mir fiel nichts ein. Bloß: Schließlich erinnere ich mich noch, mich piepsen zu hören, es gebe keine...


Frenzel, Veronica
Veronica Frenzel ist freie Radio- und Print-Journalistin in Berlin und arbeitet für Deutschlandradio, die ARD-Sender, das SZ-Magazin und andere. Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Axel-Springer-Preis, und waren für den Theodor-Wolff-Preis und den Reporterpreis nominiert. Für ihre Recherchen lebte sie unter anderem mehrere Monate in Kenia, Mosambik und Uganda. Zuletzt war Frenzel Stipendiatin des SZ-Magazins und des Grenzgänger-Programms der Robert-Bosch-Stiftung.



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