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E-Book, Deutsch, 348 Seiten

Freyermuth Reise in die Verlorengegangenheit

Auf den Spuren deutscher Emigranten [1933-1940]

E-Book, Deutsch, 348 Seiten

ISBN: 978-3-86287-178-0
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Die "Reise in die Verlorengegangenheit" erzählt vom deutschen Exil - von dem Exodus der kulturellen Elite, mit dem 1933 die Teilung der deutschen Kultur begann. Freyermuths Reise führt vom Berlin der Gegenwart in das von Nazi-Truppen umstellte Marseille, das letzte Schlupfloch der "Falle Europa". In sechs exemplarischen Portraits deutscher Emigranten werden die halbverwischten Spuren dieses wichtigen Teils unserer Geschichte gesichert. Aus einzelnen Schicksalen, Anekdoten und Erinnerungen der portraitierten Künstler weitet sich die Erzählung zu einer Geschichte des deutschen Exils.
Gespräche mit Berliner Künstlern, Kulturpolitikern und Intellektuellen über die Vergangenheit von Exil und Teilung sowie über die Chancen und Gefahren einer vereinigten Zukunft begleiten die historische Reise. In diesem Chor damaliger Berliner Charaktere verschränken sich die Umwälzungen der Jahreswende 1932/33 mit der "Revolution" von 1989/90 - der gewaltsame Beginn der deutschen Teilung mit ihrer friedlichen Beendigung. Die Fahrt auf den Spuren deutscher Emigranten ist daher auch eine aktuelle "Bildungsreise": eine Erkundung der historischen wie der "ideologischen" Orte, an denen sich eine neue nationale Identität gebildet hat.
Stationen einer Reise in die deutsche Verlorengegangenheit, auf der Suche nach dem anderen, besseren Teil unserer Tradition.
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Die Logik des dickern Knüppels • Große Leuchtreklamen flackern über den Nollendorfplatz. Auf den Bürgersteigen drängen sich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch die Menschen. Viele der kleinen Läden bleiben bis spät in den Abend geöffnet, das halbe Dutzend Cafés und Lokale ist gut gefüllt. Der »Nolli« ist einer der belebtesten Plätze des »Alten Westens«, über ihn führt eine Hauptverkehrsader zur grauen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Auguste-Viktoria-Platz, dem von Restaurants, Hotels und Luxusläden, von Kinos und Nachtlokalen umstellten Brennpunkt des Berliner Vergnügungslebens.5 Aber auch der »Nolli« selbst mit seinen zahllosen Unterhaltungsetablissements - der Ufa-Pavillon und das Theater am Nollendorfplatz sind nur die größten - lockt am Abend Besucher aus allen Stadtteilen an.6 Unablässig rollt dichter Verkehr in alle Richtungen, zum Wittenbergplatz und zur Potsdamer Straße, von dort weiter nach Norden zum Alexanderplatz oder nach Süden zum Sportpalast oder in Richtung Osten über den Bülowplatz, wo sich das Karl-Liebknecht-Haus befindet, die kommunistische Parteizentrale. Der Lärm des nicht abreißenden Stroms von Bussen, Lastern und Personenwagen erfüllt die Luft, wird aber in Minutenabständen vom metallischen Rattern der U-Bahn übertönt, die hier überirdisch auf eisernen Stelzen in Richtung Gleisdreieck rast. An diesem Freitagabend, es ist der 5. Dezember 1930, versammeln sich kurz nach sechs Uhr an verschiedenen Ecken des Nollendorfplatzes kleine Gruppen von Menschen. Fast alle sind Männer, die meisten von ihnen jung, kaum über achtzehn. Sie tragen das übliche, leicht ärmliche Berliner Winterzivil, dicke Wollmäntel, Schals und den obligatorischen Hut, doch geht von ihnen der Eindruck einer militärischen Formation aus. Kommandogewohnte Anführer verteilen an die Neuankömmlinge Eintrittskarten. Sie gelten für die Sieben-Uhr-Vorstellung im Mozartsaal, einem unabhängigen, zu keiner der großen Ketten gehörenden Kino. Das Plakat an seinem Eingang kündigt in großen Fraktur-Lettern an: »Im Westen nichts Neues - Von Erich Maria Remarque - Ein Tonfilm in deutscher Sprache«. Seine Uraufführung fand hier gestern Abend vor geladenem Publikum7 statt und hinterließ »einen tiefen Eindruck«, wie der sozialdemokratische Vorwärts in der Morgenausgabe berichtet hat: »Nie ist der Krieg, nie sind die Erlebnisse einer Schulklasse und einer Kompanie so ergreifend und erschütternd geschildert worden.«8 Zu Beginn weckte die technische Perfektion bei den Zuschauern Szenenapplaus, als nach zwei Stunden und zehn Minuten der Vorhang fiel, herrschte jedoch erschüttertes Schweigen: Allzu erschreckend lieferten die neuen Mittel des Tonfilms zu den bewegten Bildern des Grauens auch die Geräusche; das Heulen der Granaten, das Grollen der fernen Einschläge, das Krachen der nahen; lange verzweifelte Angst- und Todesschreie.9 Nur ein Gedanke bleibe von der realistischen Inszenierung der Schrecken einer modernen Materialschlacht zurück, heißt es in der ausführlicheren Kritik der gerade erschienenen Abendausgabe: »Nie wieder Krieg!«10 Diese Botschaft missfällt vielen Deutschen. Seit Monaten schwelt in der öffentlichen Diskussion der Streit um die zwölf Jahre zurückliegende Niederlage. Die Frage der Kriegsschuld, der angebliche »Dolchstoß« aus der Etappe und republikanische »Novemberverbrechen« dienen als ideologische Krücken, mit denen die von der Weltwirtschaftskrise gelähmten Parteien und ihre verunsicherten Anhänger aufeinander eindreschen. Die Rechten, voran die Nazis, hetzen immer offener zu einem Angriffskrieg, der dem »Vaterland« seine »alte Größe« wiedergeben soll. Und derlei Parolen finden in den Monaten nach dem »Schwarzen Freitag« an der New Yorker Börse mehr Anklang denn je. Die Industrieproduktion ist drastisch gesunken. Millionen Frauen und Männer sind arbeitslos. Am Horizont ziehen Gewalt, Brutalität, Massenmord herauf. Vor zwei Monaten, im September 1930, haben die Deutschen die NSDAP zur zweitstärksten Reichstagsfraktion gewählt. Als erster Nationalsozialist ist in Thüringen Wilhelm Frick, den die Alliierten 1946 als Kriegsverbrecher hinrichten werden, zum Minister ernannt und auf eine Verfassung vereidigt worden, deren Abschaffung er betreibt. Im Ausland wächst die Beunruhigung. Schon damals, drei Jahre vor Hitlers Machtübernahme, baut Frankreich die Maginotlinie aus, weil es einen deutschen Überfall befürchten muss. Aber es ist auch eine Zeit, in der die Gegenkräfte noch einmal Anlauf nehmen, die Geschichte zu wenden. Künstler, Wissenschaftler und Filmemacher beginnen, sich für den Frieden zu engagieren. Die Mehrheit der Deutschen will keinen neuen Krieg. Erich Maria Remarque trifft daher mit seinem Roman »Im Westen nichts Neues« die Stimmung eines großen Publikums. Das pazifistische Werk, 1929 erschienen, wird binnen weniger Monate zu einem der größten Bucherfolge der Weimarer Republik und darüber hinaus ein internationaler Bestseller. Die Auseinandersetzung um seine Verfilmung demonstriert mit aller Deutlichkeit, welches Schicksal der Kultur unter Hitlers Herrschaft zugedacht ist - und wie wenig die Gegner der Nazis deren Macht- und Zerstörungswillen entgegenzusetzen haben. Seit Tagen bereits wettert die Presse des rechtsnationalen Medienzaren Hugenberg, Herr zugleich über die Ufa, gegen den »würdelosen Hetzfilm«. Das Auswärtige Amt hat zwar erklärt, dass Milestones Werk »Mut, Tapferkeit und Standhaftigkeit des deutschen Heeres im Weltkriege zeige«, das Reichswehrministerium hingegen verlangt ultimativ das Verbot des Hollywood-Streifens, da er angeblich das Ansehen desselben Heeres verunglimpfe.11 Das geltende Zensurgesetz allerdings ermöglicht eine solche Indizierung nicht.12 Kurz vor sieben Uhr, als sich über dreihundert junge Männer am Eingang des Mozartsaals versammelt haben, fahren mehrere Reichstagsabgeordnete der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vor, unter ihnen auch der oberste Propagandachef und Berliner Gauleiter Dr. Joseph Goebbels.13 Den Medien als Instrument politischer Einflussnahme gehört seine besondere Aufmerksamkeit. Für die Nazis ist das Kino, wie später der »Hauptstellenleiter der Reichspropagandaleitung der NSDAP« schreibt, die »volkstümlichste Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts, die gerade wegen ihrer flüssigen und leichten Ausdrucksweise, durch das Zusammenwirken von Optik und Akustik die Menschen bannt und ihre Herzen durch das gemeinsame Erleben höher schlagen lässt«14. Während seine Getreuen das Kino füllen, spaziert Goebbels noch eine Weile vor den großen Portalen und marmorverzierten Aufgängen der grauen Gründerzeitgebäude auf und ab, deren vergangener Glanz unter Rußschichten versunken ist. »Ein Horst von Betonadlern mit Balkonen wie Brüsten« - so hat Stephen Spender, zu Besuch in Berlin, erschreckt den trostlosen Anblick beschrieben, den die heruntergekommenen Fassaden des Nollendorfplatzes damals bieten.15 Erst nachdem das Licht im Kino endgültig gelöscht ist und der Hauptfilm begonnen hat, nimmt Goebbels, der zukünftige »Eroberer Berlins«, den Platz in seiner Loge ein.16 Den Film kann schwerlich einer der organisierten Besucher bereits kennen, doch sehen wollen sie ihn nicht. Schon nach wenigen Minuten setzen die ersten Störungen ein. Die jungen Männer, die sich jetzt lautstark als SA-Leute zu erkennen geben, brüllen »Juden raus« und: »Hitler vor den Toren!« - eine Parole, die peinlich die klassische Halb-Bildung des Propagandachefs verrät. 17Hannibal, der einst ad portas drohte, war es bekanntlich nicht vergönnt, über die römische Hauptstadt zu herrschen; und das ist es ja wohl kaum, was die Randalierer für Hitler und Berlin prognostizieren wollen.18 Auf der Leinwand tobt derweil furchterregend der Erste Weltkrieg: Die Angehörigen der Schulklasse, die sich nach einer nationalistischen Brandrede ihres Lehrers geschlossen »freiwillig« meldeten, verlieren beim ersten Einsatz im Menschen wie Material verschlingenden Grabenkampf der Westfront teils ihr Leben, teils ihre Illusionen. Ausgerechnet den Heißhunger, den die geschockten Halbwüchsigen daraufhin in der Etappe entwickeln, nimmt Goebbels zum Anlass, den Skandal zu erklären. »So benimmt sich kein deutscher Soldat!« schreit er aufspringend - und gibt seinen Getreuen damit das Signal. Vom Rang werden Tanzmäuse und weiße Ratten ins Parkett geworfen. Tumult bricht aus, das Licht geht an, die Vorstellung muss unterbrochen werden. NS-Führer steigen abwechselnd auf die Sitze und brüllen Ansprachen. Vor der vereinten Belästigung durch Viecher und Parolen ergreift eine Mehrheit des Publikums die Flucht. Drei, vier Stinkbomben fliegen, die Fliehenden werden von den SA-Leuten brutal attackiert. Schließlich erscheint ein Zug Schutzpolizei und schafft die Randalierer unter Knüppeleinsatz aus dem Saal - wobei ein übermäßiges Arsenal weiterer Stinkbomben sichergestellt wird, die man, wohl aus Gründen der Selbstschonung, nicht geworfen hat.19 Auf dem inzwischen abgeriegelten Nollendorfplatz setzen die Nazis ihre Aktion fort.20 Vor seinen Anhängern hält Goebbels, unter reichlicher Verwendung antisemitischer Parolen, eine geifernde Rede gegen Buch und Film.21 Die Zuhörer jubeln, schwenken die Hüte und leisten den Tschako-geschützten Polizeitruppen so hartnäckig Widerstand, dass die Neun-Uhr-Vorstellung abgesagt werden muss. Das Chaos ist perfekt. Menschenmassen verstopfen die Straßen, die...


Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth ist Gründungsdirektor des Cologne Game Lab an der Technischen Hochschule Köln. Er lehrt dort "Media and Game Studies" sowie als Associate Professor an der ifs internationale filmschule köln "Comparative Media Studies". Er studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Amerikanistik an der Freien Universität Berlin und war dort auch wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Parallel zu seiner wissenschaftlichen Arbeit war er seit 1980 als Redakteur, Reporter und Fachautor für Literatur, Film und digitale Medien tätig.
Zwischen 1994 und 2004 arbeitete er als freier Autor in den USA. Zuletzt erschien von ihm "Games | Games Design | Game Studies. Eine Einführung." (2015)


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