E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Geier Neapel sehen. Bettina Bolls zweiter Fall
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-944818-96-2
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-944818-96-2
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zwischen Apathie und Aggression brütet die Pfalz in der Sommerhitze. Nerven liegen blank, nicht nur bei Kriminalkommissarin Bettina Boll. Für die sorgenzermürbte Polizistin, deren schwerkranke Schwester spurlos verschwunden ist, bedeutet die Leiche im Steinbruch eine geradezu willkommene Ablenkung. Die Tote ist Aurelie, eine junge Lehrerin, die geholfen hat, wo sie konnte: Neben ihrem Engagement für den Naturschutz griff sie Sorgenkindern finanziell und sozial unter die Arme. Aber die allseits geschätzte Wohltäterin hatte nicht nur Freunde. Hat jemand sich gegen die obsessive Fürsorge mit Gewalt gewehrt? Die Ermittlungen führen zu den »üblichen Verdächtigen« aus der Containersiedlung am Galgenhübel: Aussteiger, Außenseiter, Verwirrte. Bettina Bolls Recherchen fördern allerlei kriminelle Umtriebe und dunkle Gelüste zutage. Doch welches Motiv genügt für einen Mord? »Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots. Ihre Bücher sind mehr als eine Entdeckung, sie sind eine Befreiung.« Besser als Tobias Gohlis kann man es nicht sagen!
Monika Geier, Jahrgang 1970, wurde in Ludwigshafen geboren. Nach dem Abitur folgte eine Ausbildung zur Bauzeichnerin. Für ihr Debüt wurde Geier mit dem Marlowe geehrt. Inzwischen ist sie Diplomingenieurin für Architektur, Mutter von drei Jungs, freie Künstlerin und Schriftstellerin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
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Sport hätte vielleicht wirklich geholfen. Lachhaft, da hatte er gut zwanzig Jahre gebraucht, um in Betracht zu ziehen, dass seine blöden Sportlehrer recht gehabt haben könnten. Der Aul, der immer die »Blinden und Lahmen« öffentlich verspottet hatte. Wolfgang warf von seinem Bett aus einen Dart. Zwanzig. Schau dir nur diese Schwächlinge an, hatte der Aul irgendwann zu ihm gesagt. Bulls Eye. Wolfgang hatte den Aul angesehen. Er hatte bis heute keine Ahnung, weshalb ausgerechnet er von dessen Verachtung verschont geblieben war. Triple Drei. Toll. Damals war er kräftig gewesen, jetzt war er fett. Und der Aul, der alte Sack, sicher lange tot. Wolfgang betrachtete von seinem Bett aus die Dartscheibe. Insgesamt 161 Punkte mit sechs Darts. Er hatte keine Lust, aufzustehen und die Pfeile rauszuziehen. Die Hitze war nicht zum Aushalten. Das offene Fenster weiter vorne sollte eigentlich kalte Nachtluft hereinlassen, doch die Nacht war ungefähr so kalt wie ein Wannenbad. Träge zockelte ein Satellit über die schwarzen Silhouetten der Obstbäume draußen. Grillen zirpten. Wolfgang lehnte seinen Kopf an die geschlossene Scheibe neben seinem Kopfende. Sein Bett stand direkt an dem Fensterband, das er oben in die Giebelseite der Scheune eingebaut hatte. Aurelie hatte das nicht gefallen. Sie hatte befürchtet, gesehen zu werden. Und sie wollte nicht gesehen werden; nicht hier, nicht mit ihm. Er hätte sein Bett für sie verschoben, aber sie würde ohnehin nicht mehr kommen, also war es sinnlos. Wolfgang nahm die Flasche Paddy’s, obwohl er vom Alkohol definitiv wusste, dass er nicht half. Nichts half. Allenfalls – vielleicht – an der Scheune zu arbeiten. Danach fühlte er sich meistens ganz gut. Doch es war vier Uhr nachts und zu schwül, um auch nur aus dem Bett zu steigen. Er hatte noch ein Glas auf dem Tisch weiter vorne stehen, das war ihm zu weit weg. Er trank aus der Flasche. Der Whiskey war zu warm. Erstaunlich, natürlich, bei der Witterung. Wolfgang schaltete den Fernseher ein und blaues Licht erfüllte die Scheune. Die Süße und der Wacholder brannten in seinem Mund. Er mochte Scotch lieber, aber der war nun mal nicht da. Eine Weile starrte er den Bildschirm an, bis er überhaupt registrierte, was er sah: geschminkte Frauen, die sich um Telefonnummern wanden. Er zappte durch die Programme, die Frauen wiederholten sich. Um diese Zeit gab es nur lasche Sexfilme und die Talkshows vom Vortag. Nichts, was ihn interessierte. Er schaltete den Ton aus und sah eine Weile einer blonden Frau zu, die ihn an Aurelie erinnerte. Sie tat so, als würde sie sich selbst befriedigen. Wolfgang drückte seine Stirn gegen die kühle Scheibe. Sein Körper fühlte sich schwer an (er war schwer!), und die Luft war zäh und umschloss ihn besitzergreifend. Er hob den Kopf wieder und musterte die Flasche. Wenn er weitertrank, hätte er morgen einen Kater, und das wäre nicht gut, denn er würde den ganzen Tag Auto fahren müssen, und Katrina, seiner Beifahrerin, musste er nicht unbedingt auch noch die Schnapsleiche geben. Katrina war ein kluges Mädchen. Außerdem schmeckte der blöde Paddy’s sowieso nicht. Dann ein Video. Nein, sagte sich Wolfgang. Deine ganzen Probleme kommen nur von diesen blöden Videos. Wenn es die Videos nicht gäbe, hättest du noch viel mehr Probleme. Genau das war eben die Frage. Eine theoretische allerdings, denn er konnte sowieso nicht ohne die Videos leben. Zumindest besitzen musste er sie, wenn er auch versuchte, kürzer zu treten. Die wirklich harten Sachen hatte er in letzter Zeit nicht mehr so oft gesehen. Und heute Nacht konnte er sich ohnehin nicht aufraffen, noch mal runter an den Stahlschrank zu gehen. Stattdessen schaltete er den Videorekorder ein und machte den Ton wieder an. Und wachte bis zum Morgengrauen über einem Film, der ein ganz guter Kompromiss war: dem dritten Teil einer frei verkäuflichen Videoserie mit dem Titel Die gefährlichsten Raubtiere der Erde: Löwen: Der schnelle Tod in der Serengeti. Ganz am Ende der Nacht, als ein Gewitter kam, träumte er doch von Blut. * * * Das kleine Gewitter bewirkte nichts, was der neue Tag nicht sowieso geschafft hätte: Wie jeden Morgen seit Beginn des Junis verwandelte sich die nächtliche Schwüle in strahlend frische Helligkeit. Vielleicht war die Landschaft ein bisschen feuchter; über dem Garten vor Livia Giallos Fenster hing zarter Dunst. Livia stand früh auf, obwohl sie zu Hause arbeitete und eigentlich nur die fünf Meter vom Bett zum Computer fallen musste – sie designte Homepages. Doch sie mochte die Frühe. Da war die Welt noch leer und ihr Sohn schlief. Und es gab niemanden, der sich als Besitzer aufspielen konnte – ihres Computers zum Beispiel, ihres Zimmers, dieses Hauses, der eleganten Uhr von Baume & Mercier, die so herrlich schwer und kühl in Livias Hand lag. Etwas kratzte an ihrer Zimmertür. Vor Schreck ließ Livia ihren Schatz fast fallen. Das konnte nicht Aurelie sein – durfte sie nicht sein – nein, es war der Hund. Nur der Hund. Rocco, so sein affektierter Name, kratzte erneut. Das tat er sonst nie und erst recht nicht um diese Zeit. Normalerweise schlief Rocco lang und ignorierte Livia. Er war Aurelies Hund und stand somit – seiner Meinung nach – in der Rangordnung ihres Haushaltes über Livia. Sie selbst hingegen fand Hunde im Haus schlicht unhygienisch, besonders wenn es ein Kleinkind gab. Doch Aurelie in ihrer Gedankenlosigkeit hatte ihn einfach mitgebracht, ohne vorher auch nur Bescheid zu sagen. Aurelies Mildtätigkeiten waren Livia in letzter Zeit ziemlich auf die Nerven gegangen. Sie warf einen Blick in das Bettchen ihres Sohnes. Er schlief fest, die kleinen Fäuste angestrengt zusammengeballt, ein dünner Faden Spucke lief ihm aus dem Mund. Draußen vor dem Fenster erhob sich die blassrote Sonne über den Wipfeln des angrenzenden Waldes. Schon wieder machte sich der Hund bemerkbar. Wenn er den Jungen aufweckte, wäre der Morgenfrieden zerstört. Livia erhob sich von ihrem Stuhl, verstaute die Uhr in einer Aktenablage aus Pappe und öffnete ihre Zimmertür. »Sch!«, zischte sie. Der Hund bellte. Er war dunkel, reichte Livia bis zur Mitte ihres Oberschenkels und hatte einen kräftigen Kopf. Seinen Zähnen wollte sie nicht zu nahe kommen, doch sie war so verärgert, dass sie ihn mit dem Handrücken von ihrer Tür wegschubste. Er knurrte tief und drohend, bellte wieder, dann winselte er. Und bellte. Laut. Aufgebracht trat sie in den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. Im Flur herrschte nur Dämmerlicht; der Hund schien sofort größer und gefährlicher zu sein. Er lief ein Stück vor, kam zurück und bellte auffordernd. Er hatte noch die Leine um, sie schleifte neben ihm auf dem Boden. Livia machte sie vom Halsband ab. Jetzt sollte das Vieh wohl Ruhe geben. Doch Rocco bellte wieder. »Halt deine blöde Schnauze!«, schimpfte sie im Flüsterton. »Du willst wohl raus, was? – Los, wir gehen in den Garten.« Er lief ihr voraus die Treppe hinunter bis zu der Tür, die aus dem Haus zum Carport führte und offen stand. Mitten in der Nacht offen stand. Das war auch typisch Aurelie. So ein Leichtsinn! Rocco rannte durch diese Tür aus dem Haus, an Livias schäbigem altem Corsa vorbei in den Vorgarten und bellte erneut. Livia machte die Tür zu. Jetzt hörte sie Rocco nur noch gedämpft Laut geben. Dann klickten seine Krallen wieder auf dem Zementboden des Carport, scharrten an der geschlossenen Tür. Sie hatte sich schon fast abgewendet, als sie von dem halbdunklen Flur aus sah, wie sich der Türgriff ruckartig nach unten bewegte. Selbstverständlich wusste sie, dass Rocco Türen aufmachen konnte. Dennoch hatte diese Klinke, die von außen, von einem wilden und sonst nicht sonderlich intelligenten Wesen gedrückt wurde, eine irrational bedrohliche Wirkung auf sie. Mit wenigen Schritten war sie an der Tür und hielt dagegen. Natürlich kein Schlüssel da. Also packte Livia einen der Klappstühle, die neben der Tür in einer Ecke standen, und klemmte ihn unter den Griff. Dann ging sie wieder hoch in ihr Zimmer, in dem Elia gerade vorzeitig aufzuwachen begann. Sie kniff die Lippen zusammen. Die dicke Lederleine hielt sie immer noch in der Hand. »Aurelie!« Zweieinhalb Stunden später schlug Livia gereizt gegen die helle Holztür zum Schlafzimmer ihrer Mitbewohnerin. Sie hatte keine Lust, die Tür zu öffnen. Doch Jeremy, ein englischer Kollege Aurelies, der zurzeit mit seiner Austauschklasse in Deutschland weilte und den die junge Lehrerin in ihrer unermesslichen Großherzigkeit in ihr Haus eingeladen hatte (selbstverständlich ohne Livia vorher zu fragen), saß unten am Frühstückstisch, trank den von Livia gekochten Tee und wurde nervös, weil es an der Zeit war, zur Schule zu fahren. Und natürlich war er zu verklemmt, um sich selbst an diese Tür zu wagen. Das war seiner Meinung nach die Aufgabe einer Frau. Genau wie Frühstück machen. Und Jeremy nahm als Brite ein üppiges Frühstück. Abgesehen vom heutigen Morgen. Denn Livia kochte nicht für Kerle. Ihr einziges Zugeständnis an die deutsch-englische Völkerverständigung war der Tee gewesen. Ihr eigenes Frühstück bestand aus drei Tassen Kaffee und ebenso vielen Zigaretten. Und den Resten von Elias Bananenbrei. Davon hätte sie Jeremy anbieten können. Sie hämmerte noch einmal laut gegen die Tür, sodass es im Treppenhaus widerhallte. Dann musste sie wohl rein. Sie hasste das. Egal, was dahinter war, egal, ob sie...