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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Geipel Schöner Neuer Himmel

Aus dem Militärlabor des Ostens

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-608-11851-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Idee war so ambitioniert wie anmaßend: den Kommunismus auch im All real werden zu lassen. Und die Realität? Um einen 'Körper mit optimaler Normierung' zu kreieren, wurde ab den 70er Jahren im Osten in hochgeheimen Laboren geforscht. Was surreal klingt, findet sich belegt in den Akten des ostdeutschen Militärs, aber auch bei denen, deren Körper zum Material dieses Staatstraumas gemacht wurden. Eine dichte Erzählung, die ein scharfes Licht auf ein bislang ausgeblendetes Erbe der DDR wirft - und eine Zeitdiagnose über entgrenzte Körperforschung.

Der Neue Mensch im All galt im Weltraumprogramm der Sowjetunion als absoluter Leitstern und löste in der DDR zwischen 1972 und 1989 eine gründliche Forschungstätigkeit aus. Die Unterwerfung und Beherrschung des Kosmos sollte durch Hochleistungsflieger, die sich über Jahre im All aufhalten konnten, möglich werden. Wie erschafft man diesen maximal normierten und bedürfnislosen Körper? Aus den Verschlussakten der DDR-Militärforschung, heute zugänglich im Militärarchiv Freiburg, setzt Ines Geipel ein verstörendes Bild zusammen: Experimentiert wurde nicht nur an Tieren, sondern auch an Menschen, in Krankenhäusern, Gefängnissen, an Soldaten und im Hochleistungssport. Das Streben nach der Vorherrschaft im Kosmos ist nicht Vergangenheit, sondern erfährt heute eine Renaissance.
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Wohlsinn und Totale. Was hatte Jacob mit Sigmund Jähn zu tun? Hatte ich etwas mit unknown soldier zu tun und wieso? Wo war der Link? Heute, drei Jahre später, dürften sich diese Fragen erübrigt haben. Im April 2018 aber tappte ich völlig im Dunkeln, lag nichts anderes als die Kosmonauten-Studie auf dem Tisch. In ihr war ich hängengeblieben. »Die Menschheit steht am Beginn der Überwindung des Geozentrismus als des bisher vorherrschenden und historisch bedingten Weltbildes des Menschen«, steht auf Seite 23. Weiter hieß es, es gehe um die »Überwindung des organbezogenen Denkens«[9]. Aber wie sollte das aussehen? Lagen die Organe dann sorgsam aufgereiht nebeneinander und fanden höchstens noch zum Morgenrapport vorm zerfledderten Herz zusammen? Der Neue Körper und die forcierten Konzeptzonen des vergangenen Jahrhunderts. Dazu ist viel gesagt. Ich meine, über die neuen Wahrnehmungen und die neuen Realitäten des Einzelnen innerhalb des neuen Kollektivs. Was das angeht, dürfte es für die Laboranten und Konstrukteure der unterschiedlichsten Forschungsszenen jedes Mal ein konkretes Datum und einen präzisen Ort gegeben haben. Man wird an einem Tisch gesessen, gesprochen und sich die Dinge überlegt haben. Das Entscheidende dürfte, wie meist in solchen Fällen, nicht aufgeschrieben worden sein. Und dann, was ist dann geschehen? »Irgendwann kannst du das sicher mal jemandem erzählen, aber man wird dir nicht glauben.«[10] Ein Satz aus dem Film »Das Schlangenei« von Ingmar Bergman. Ich sah ihn im Herbst 1980 in Jena. Da war ich 20. Ich erinnere mich noch immer an das Gefühl vor der Leinwand oder eher daran, dass ich es nicht haben wollte. Als ob mir etwas zu nah gekommen war. Die Bilder, das Nervöse, Exzessive, Strudelnde. »Durch die dünne Membran erblickt man bereits das vollkommen ausgebildete Reptil.« Dieser Satz kam mir vor wie eine Chiffre, wie der gesamte Film offenbar als Chiffre gedacht war. Das Leben wie im Kokon, die Wände, die Spiegel, die Kameras dahinter. Als ich aus dem Kino kam, war der Abend milde. Ich stand an der Bushaltestelle und fuhr in eine Trabantensiedlung an der Autobahn. Etwas in mir schloss den Film ein wie eine Konserve, wie einen Ort in meinem Kopf. Manchmal sind die Wörter so zart, als wollten sie sich selbst aufheben. Die dünne Membran. Wir blicken auf das vergangene Jahrhundert, wir stehen im Jetzt. Wir wollen das Individuelle, die Balance, den Wohlsinn, das Milde. Aber wie zwischen all dem diese dünne Membran ausmachen, wie sie verteidigen, wie überhaupt noch gegenhalten? Der Neue Mensch und der Kommunismus. Das war mein Anfang. Ich komme von da. Die Sehnsucht danach, es so genau wie möglich zu erzählen, von Anfang an. Vermutlich gab es keinen. Die Angst davor, es nicht genau genug erzählen zu können, es nicht hinzukriegen. Der Kommunismus als Utopie, Verheißung, Illusion, Mythos, Wahn, Verbrechen. Der Kommunismus als Realität. Als konkretes Zeiterleben, als konkretes Raumerleben, Wahrnehmungserleben, Empfindungserleben, Körpererleben. Was in ihm im Grunde bedeutete, dass alles Leben von einem einzigen Zentrum aus gelenkt wurde. Im Gegenzug lief jeder Gedanke, jede Bewegung, jedes Gefühl der Gesellschaft hin zu ihm. Die Welt als Totale. Ich sitze in Freiburg und blicke in die 70er Jahre im Osten. Die Zeit kriecht aus den Wörtern. Sie schmeckt noch heute nach utopischer Unschuld. Immer besser, heiterer, friedlicher, solidarischer. Immer progressiv-fortschrittlicher. Ein dichter rhetorischer Wald. Was zwischen den Wörtern steht und nicht bis in die Buchstaben kommt, ist schon auch da. Aber was bedeutete das? Und vor allem: Was heißt es heute? Als ob man die Realität in einem fort über die Ränder der Wörter hinausschieben könne. Die 70er Jahre. Wir tragen Schlaghosen, Plateauschuhe und surreale Frisuren. 1976 die Biermann-Ausbürgerung, ein Jahr später die »Charta 77« in Prag. Schließlich der August 1978 und Sigmund Jähn im All. Ein Propagandacoup sondergleichen. Während der erste Deutsche 125-mal um die Erde kreiselt, wird an allen Schulen des Landes der Militärunterricht als Pflichtfach beschlossen. Auch die Mädchen lernen jetzt schießen. Sie marschieren, werfen Handgranaten, laufen mit Gasmasken über Sturmbahnen, retten in brennenden Bunkern ihre Mitschüler. Später im Militärlager haben wir abends, bevor das Licht gelöscht wird, unsere Stiefel vor den Betten Richtung Westen auszurichten. Wir liegen wach und warten auf die Trillerpfeife des Lagerchefs im Flur. Sie teilt uns mit, dass wir jetzt durch die Nacht laufen werden, um uns dem Feind entgegenzuwerfen. Staatstrauma. Die Freiburg-Woche. Nur Tage später die Pressekonferenz. Berliner Alltag. Ich fuhr in die Hochschule, traf mich mit Freunden, arbeitete in der Beratungsstelle der Doping-Opfer-Hilfe. Das zweite Entschädigungsgesetz lief auf Hochtouren. Ich hatte Jacob vor Augen und das, was an ihm so herumflatterte. Johanna mit den nervösen Flecken im Gesicht, von der alle drei Monate ein Brief ankam, in dem sie schrieb, dass ein Riss durch ihr Leben gehe, der nicht zu kitten sei. Karla, eine erfolgreiche Chefärztin heute in Leverkusen, die über Nacht nicht mehr laufen konnte und nun nachts weinend in den Turnhallen ihrer Kindheit hockt. Es ging ums Zuhören und darum, da zu sein. Im Jahr 2000 fand der große Berliner Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Staatsdopings statt. 20 ehemalige Athletinnen und ein Athlet bezeugten und wurden im Gerichtssaal angehört. Auch ich war Nebenklägerin. Das erste Entschädigungsgesetz erfasste knapp 200 ehemalige Aktive, nach dem zweiten Gesetz waren es zusammen fast 2000. Zahlen sind Zahlen. Aber zwischen ihnen hockt eine Wunde. Sie erzählt sich nur stockend, nur manchmal, nur in Ausrissen, sie muss über viele Löcher und Hürden. Und dennoch war diese Wunde mit den Jahren immer größer geworden. Nach dem Mauerfall gab es langwierige Ermittlungen, dann viel Forschung, Prozesse, Urteile, schließlich Entschädigungen. Ging es anfangs um Aufklärung und Skandal, verschob sich der Fokus zunehmend hin zu denen, die dem System ausgesetzt waren. Zu der Frage also, was ein staatliches Zwangsdoping an Alltag produziert hatte, an Gewalt, Missbrauch, Abhängigkeit, Zersetzung. Nach und nach war dieser Raum kenntlicher geworden. Ich hielt es für meinen Job, zusammen mit anderen das Staatstrauma der Körper ins Politische zu übersetzen. Es ging um Aufmerksamkeit und ums Beharren der Erinnerung. Strahlenkörper. Aber wo kam die Konditionierung der Staatskörper im Osten überhaupt her? Was lag da drunter? Welche Ideen, welche Hoffnungsprojekte, welche Realitäten? Der Neue Mensch als anthropologische Traumschleife, als ein sich immerzu transformierendes Hoffnungsprojekt, als große Entlastungserzählung. Heilung durch das Neue, Tröstung durch die Natur, viel Vitalismus-Manna, der Glaube an die wahre Gemeinschaft, ultimative Aussteigerprojekte. In dieser Hochstimmung startete das wacklige Europa in sein 20. Jahrhundert und schmolz seinen alten Jenseitsglauben zusehends in diesseitige Sozialutopien um. Vor allem die beiden politischen Religionen Nationalsozialismus und Kommunismus bezogen sich in ihrer Heilserwartung auf christliche Traditionen, die sie in ihre Radikalisierungsprogramme einzuspeisen vermochten. »Zur Dynamik der totalitären Bewegungen gehört es, dass die Ambitionen, Ideen und Interessen, von denen sie getragen wurden, nichts Statisches, sozialökonomisch Vorgegebenes waren, sondern nach vorn in ein Niemandsland unbestimmter Ansprüche und Erwartungen wiesen«, schreibt der Historiker Gerd Koenen in seinem Buch Utopie der Säuberung.[11] Aber der Abgrund der Geschichte lässt sich nicht in Anfangserwartungen, Hoffnungen oder Zukünfte zurückerzählen. Auch die Wörter haben Angst, vermutlich genauso viel wie wir Menschen. Auch sie müssen über das Unüberbrückbare, durch das, was Gerd Koenen »ein grausam verfehltes Experiment« nannte.[12] Dabei würden sie vermutlich auch gern ausweichen, ihre Ruhe haben wollen, sich einrollen, dichtmachen, eine Weile in sich wegdämmern. Aber sie sind da, um zuzuhören. Sie haben die Zeit einzufangen, zu erfassen, zu beruhigen. Und? Ist nicht genau das ihr Problem? Die biopolitischen Utopien in Russland hatten die Revolution von 1917 nicht als initialen Schock nötig. Ihre Anfänge lagen deutlich früher und lesen sich wie ein schillerndes Konglomerat der unterschiedlichsten Ideengeschichten. So hatte Nikolaj Fedorow (1829–1903), auch Gesprächspartner von Tolstoj und Dostojewski, Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner »Philosophie der Tat« einen kühnen Deal zwischen Vergangenheit und Zukunft, genauer zwischen allen Lebenden und Toten vorgeschlagen, um sie in einem »ewigen Universum« zu...


Geipel, Ines
Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch'. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch 'Verlorene Spiele' (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.

Ines Geipel, geboren 1960, ist Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch'. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch 'Verlorene Spiele' (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.
Ines Geipel hat neben Doping auch vielfach zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Amok, der Geschichte des Ostens und auch zu Nachwendethemen publiziert. 2020 erhielt sie den Lessingpreis für Kritik, 2021 den Marieluise-Fleißer-Preis.


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