E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Genova Im Traum höre ich dich spielen
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7325-6071-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7325-6071-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Virtuos, aufwühlend und zutiefst berührend - der neue Roman der Bestsellerautorin von STILL ALICE
Karinas Traum war eine glanzvolle Karriere als Pianistin. Für ihre große Liebe Richard verzichtete sie darauf. Als die Ehe scheitert, ist er ein gefeierter Star, und Karina fühlt sich um ihr Lebensglück betrogen. Jahre später erfährt sie, dass Richard unheilbar krank ist, und fasst einen Entschluss: Sie wird ihren Exmann zu sich holen. Doch was zunächst aus Pflichtgefühl geschieht, wird schon bald zu einer ungeahnten Chance. Karina begreift, dass Versöhnung so viel mehr sein kann als Frieden schließen, denn manchmal öffnet sie das Herz für einen lang ersehnten Neuanfang ...
»Genovas neuster Roman ist einer ihrer stärksten - ein sprachgewandtes und berührendes Porträt zweier Menschen, die im Angesicht einer verheerenden Diagnose ihren Frieden finden.« KIRKUS REVIEWS
»Lisa Genova gelingt es auf beeindruckende Weise, die Gedanken und Gefühle ihrer Figuren lebendig werden zu lassen.« USA TODAY
Nach ihrem Psychologiestudium promovierte Lisa Genova an der Universität Harvard in Neurowissenschaft. Ihr Debütroman, Still Alice - Mein Leben ohne Gestern, entwickelte sich zu einem internationalen Bestseller, stand lange auf der New-York-Times-Bestsellerliste und wurde mit Julianne Moore in der Hauptrolle fürs Kino verfilmt. Im Traum höre ich dich spielen ist Lisa Genovas fünfter Roman. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Massachusetts. www.lisagenova.com
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EINS
Wäre Karina fünfzehn Kilometer weiter westlich oder östlich aufgewachsen – in Gliwice oder in Bytom statt in Zabrze –, ihr ganzes Leben hätte einen vollkommen anderen Verlauf genommen. Schon als Kind hat sie daran nicht den geringsten Zweifel gehegt. Beim Schicksal zählt, wie bei Immobilien, auch die Lage.
In Gliwice hatte jedes Mädchen das angestammte Privileg, Ballettunterricht zu nehmen, und zwar bei Fräulein Gosia – eine bis zur Verhängung des Kriegsrechts gefeierte Primaballerina beim Polnischen Nationalballett. In dem ansonsten trostlosen Ort war es der Stolz eines jeden Mädchens, zu einer so herausragenden Lehrerin zu gehen. Diese Mädchen wuchsen gewissermaßen in ihren Trikots und mit dem tüllgesponnenen Traum auf, Gliwice eines Tages auf Spitzenschuhen trippelnd zu verlassen. Auch wenn Karina nicht weiß, was aus diesen Mädchen aus Gliwice im Einzelnen geworden ist, ist sie sich beinahe sicher, dass die meisten von ihnen – wenn nicht alle – dort hängen geblieben sind, als Lehrerinnen oder Bergarbeiterfrauen, und ihre unerfüllten Ballerina-Träume an ihre Töchter weitergegeben haben, Fräulein Gosias nächste Schülerinnengeneration.
Hätte Karina ihre Kindheit und Jugend in Gliwice verbracht, wäre sie mit größter Wahrscheinlichkeit nicht Ballerina geworden. Sie hat Plattfüße, fast ohne Wölbung und schrecklich breit; auch sonst ist sie eher stämmig gebaut, hat einen langen Oberkörper und kurze Beine, scheint eher fürs Kühemelken geschaffen als für pas de bourrées. Sie wäre nie der Star unter Fräulein Gosias Schülerinnen gewesen. Karinas Eltern hätten schon lange vor den ersten Spitzenschuhen aufgehört, für ihre Ballettstunden auf kostbare Eier und Kohle zu verzichten. Hätte ihr Leben in Gliwice begonnen, wäre sie immer noch in Gliwice.
Für die Kinder in Bytom, an derselben Straße weiter nach Osten, gab es keinen Ballettunterricht. Die Kinder von Bytom hatten die katholische Kirche. Die Jungen bereiteten sich auf das Priesterseminar vor, die Mädchen aufs Kloster. Nach einer Kindheit in Bytom wäre Karina vielleicht Nonne geworden. Ihre Eltern wären so stolz auf sie gewesen. Vielleicht wäre ihr ein genügsames, ehrwürdiges Leben beschieden, hätte sie Gott gewählt.
Doch was aus ihrem Leben wurde, hat nie wirklich in ihrer Hand gelegen. Sie ist in Zabrze aufgewachsen, und in Zabrze wohnte Herr Borowitz, der Klavierlehrer. Er blickte nicht wie Fräulein Gosia auf eine ruhmreiche Karriere zurück, und er hatte auch kein professionelles Studio. Vielmehr fand der Unterricht in seinem Wohnzimmer statt, das nach Katzenpisse, vergilbten Büchern und Zigaretten stank. Doch Herr Borowitz war ein guter Lehrer. Er war mit Leib und Seele bei der Sache, fordernd und fördernd, und vor allem lernte jeder Schüler bei ihm, Chopin zu spielen. In Polen wird Chopin genauso verehrt wie Papst Johannes Paul II und Gott. Polens heilige Dreifaltigkeit.
Karina ist zwar nicht mit dem geschmeidigen Körper einer Ballerina zur Welt gekommen, dafür aber mit den starken Armen und langen Fingern einer Pianistin. Sie kann sich noch an ihre erste Stunde bei Herrn Borowitz erinnern. Da war sie fünf. Die glänzenden Tasten, der augenblickliche Wohlklang, wenn man sie drückte. Es gefiel ihr sofort. Anders als die meisten Kinder, brauchte man sie nie zum Üben anzuhalten. Ganz im Gegenteil. Hör auf zu spielen, und mach deine Hausaufgaben. Hör auf zu spielen, und deck den Tisch. Hör auf zu spielen, du musst ins Bett. Der Lust zu spielen konnte sie nie widerstehen. Bis heute hat sich das nicht geändert.
Schließlich war das Klavierspiel ihr Freifahrschein aus dem repressiven Polen, nach Amerika, ans Curtis Conservatory und zu allem, was dann folgte. Diese eine Entscheidung – Klavier spielen zu lernen – hat wie der erste Dominostein alles Weitere in Gang gesetzt. Sie wäre in diesem Moment auch nicht zu Hannah Chus Abschlussparty unterwegs, hätte sie nie Klavier spielen gelernt.
Sie parkt ihren Honda hinter einem Mercedes, dem letzten in einer Conga-Line von Autos, und mindestens drei Blocks von Hannahs Haus entfernt – näher kommt sie wohl nicht heran. Sie sieht auf die Uhr am Armaturenbrett. Sie kommt eine halbe Stunde zu spät. Gut. Sie wird sich kurz blicken lassen, Hannah gratulieren und wieder verschwinden.
Ihre Absätze klackern auf dem Pflaster wie ein Metronom, und in ihrem Takt spinnt sie den Gedanken weiter. Ohne das Klavier hätte sie Richard nie kennengelernt. Wie hätte ihr Leben ausgesehen, wäre sie ihm nie begegnet? Wie viele Stunden hat sie schon in dieser Fantasie geschwelgt? Sie würden sich zu Tagen, Wochen, wenn nicht mehr, summieren lassen. Noch mehr Zeitverschwendung. Was alles hätte sein können. Und niemals sein wird.
Vielleicht wäre sie ja ganz zufrieden, hätte sie ihr Heimatland nicht verlassen, um Pianistin zu werden. Sie würde noch bei ihren Eltern wohnen, in ihrem alten Kinderzimmer schlafen. Oder sie wäre mit einem langweiligen Mann aus Zabrze verheiratet, einem Kohle-Kumpel, der sein Geld mit harter, aber anständiger Arbeit verdiente, während sie als Hausfrau und Mutter fünf Kinder großzuziehen hätte. Beide schaurigen Szenarien erscheinen ihr nun gar nicht mehr so trostlos, und zwar aus einem Grund, den sie sich nur widerwillig eingesteht: Sie wäre dann weniger einsam.
Oder wenn sie statt ans Curtis Conservatory an die Eastman School of Music gegangen wäre? Sie hatte die Wahl und hat nach dem Zufallsprinzip entschieden. Dann hätte sie niemals Richard kennengelernt. Sie hätte nie einen Schritt zurück gemacht und mit dem arroganten, leichtsinnigen Optimismus einer Fünfundzwanzigjährigen darauf gebaut, dass sich das Rad der Fortuna ein zweites Mal drehen und den mächtigen goldenen Pfeil direkt auf sie richten würde. Seit Jahren wartet sie nun schon auf eine zweite Chance. Manchmal gibt einem das Leben nur eine.
Andererseits gäbe es ihre Tochter Grace nicht, wäre sie Richard nie begegnet. Karina stellt sich eine Realität vor, in der sie ihre einzige Tochter nicht empfangen hätte, und diese Variante hat so viel Reiz, dass sie sich sehnsüchtig darin verliert. Sie erschrickt und schämt sich für einen so furchtbaren Gedanken. Sie liebt Grace über alles in der Welt. Allerdings ändert das nichts daran, dass auch Grace eine entscheidende Weggabelung bedeutet hat, genau wie damals die von Gliwice, Bytom und Zabrze. Links abbiegen hat Karina zu Grace gebracht und an Richard gebunden. Die folgenden siebzehn Jahre hat sie an der Leine gelegen, an manchen Tagen hat es sich sogar wie ein Galgenstrick angefühlt. Nach rechts ist sie nicht gegangen. Wer weiß, wo sie da gelandet wäre.
Das Bedauern folgt ihr auf Schritt und Tritt wie ein treuer Hund, als sie jetzt über einen gewundenen Steinpfad in den Garten der Familie Chu strebt. Hannah hat eine Zusage von der University of Notre Dame bekommen, ihre erste Wahl. Schon wieder eine Klavierschülerin auf dem Absprung. Wenn sie erst einmal studiert, wird Hannah nicht weiterspielen. Wie die meisten von Karinas Schülern hat sie nur Stunden genommen, weil sich der Vermerk »spielt Klavier« im Lebenslauf gut macht. Die Eltern leitet dasselbe Motiv, nur unverhohlener und um ein Vielfaches stärker. Zu diesem Zweck hat Hannah pro forma ihren Unterricht absolviert, und ihre halbe Stunde pro Woche war für Lehrerin wie Schülerin eine leidige Pflicht.
Nur wenigen von Karinas Schülern macht das Musizieren wirklich Freude, ein paar von ihnen haben sogar Talent und Potential, doch keiner liebt es genug, um es ernsthaft zu verfolgen. Man muss es lieben. Und wie könnte sie es ihnen verübeln? Diese Jugendlichen sind viel zu eingespannt und darauf fixiert, ans »beste« College zu kommen, als dass sie ihre Passion so pflegen könnten, dass sie sich entfalten kann. Ohne Sonne und Wasser würde auch kein Samen eine Blüte treiben.
Doch Hannah ist nicht irgendeine von Karinas Klavierschülerinnen. Vom sechsten Lebensjahr an bis zum Ende der Mittelschule war sie die beste Freundin von Grace. Spielverabredungen, Übernachtungen, Pfadfindererlebnisse, Fußballtraining, gemeinsame Ausflüge zum Shoppen und ins Kino – die meiste Zeit ihrer Kindheit war Hannah für Grace wie eine kleine Schwester. Als Grace dann auf die Highschool kam und Hannah an der Mittelschule blieb, haben sich die Mädchen naturgemäß verschiedenen Freundeskreisen zugewandt, die jeweils ihrem Alter entsprachen. Ein Zerwürfnis hat es nie gegeben, vielmehr sind sie langsam auf ihre benachbarten, doch getrennten Inseln gespült worden. Ab und zu haben sie sich noch getroffen.
Hannahs Immatrikulation – für das Mädchen ein Meilenstein – sollte für Karina eigentlich keine besondere Bedeutung haben, doch ihr Verlust trifft sie ungleich härter als der von anderen Klavierschülern. Er ruft Erinnerungen an das letzte Jahr wach, und Karina durchlebt noch einmal das Ende von Graces Kindheit. Sie legt ihre Glückwunschkarte auf Hannahs Gabentisch und seufzt.
Obwohl Hannah am anderen Ende des weitläufigen Gartens ist, entdeckt Karina sie sofort; sie steht lachend an der Kante des Sprungbretts, hinter ihr eine Warteschlange nasser Mädchen und Jungen. Im Pool sind andere Jugendliche, vor allem Jungen, die ihren Namen rufen und sie zu irgendetwas anfeuern. Karina bleibt stehen, um zu sehen, um was es geht. Hannah springt ab und landet mit einer Arschbombe im Wasser, sodass die Eltern dicht am Beckenrand eine Fontäne abbekommen. Sie protestieren und wischen sich das Wasser von Gesicht und Armen, doch sie lächeln. Es ist ein heißer Tag und die kleine Dusche vermutlich erfrischend. Karina sichtet Pam, Hannahs Mom, unter...




