E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Glattauer Ewig Dein
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-552-06191-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-552-06191-0
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Supermarkt lernt Judith, Mitte dreißig und Single, Hannes kennen. Kurz darauf taucht er in dem edlen kleinen Lampengeschäft auf, das Judith, unterstützt von ihrem Lehrmädchen Bianca, führt. Hannes, Architekt, ledig und in den besten Jahren, ist nicht nur der Traum aller Schwiegermütter - auch Judiths Freunde sind restlos begeistert. Am Anfang empfindet Judith die Liebe, die er ihr entgegenbringt, als Genuss. Doch schon bald fühlt sie sich durch seine intensive Zuwendung erdrückt und eingesperrt. All ihre Versuche, ihn wieder aus ihrem Leben zu kriegen, scheitern - er verfolgt sie sogar bis in ihre Träume ...
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Phase zwei
1.
Auf Judiths kleiner Dachterrasse blühte erstmals nach drei Jahren wieder das Hibiskus-Bäumchen, knallrot. Das waren gute Wochen. Es war etwas im Entstehen. Es entstand täglich neu und nahm alles eben erst Entstandene mit. Judith versuchte, die Anzahl der Begegnungen mit Hannes so gering wie möglich zu halten, also nicht fünfmal am Tag, was in seinem Sinne gewesen wäre, sondern nur ein- oder zweimal. Sie hatte Angst, der Reiz könnte für ihn verlorengehen, er hätte sich bald sattgesehen an ihr, ihren Drehbewegungen und Gesichtsausdrücken, Angst, er wüsste nicht mehr, welche Blumen er ihr noch schenken, welche Botschaft in Briefchen- oder E-Mail-Form er ihr noch zukommen lassen, welches Kompliment er ihr noch machen sollte und mit welchen Worten er ihr per SMS noch »guten Morgen« oder »gute Nacht« wünschen könnte. Judith fand sich in einer neuen Situation. Nicht sie war es, die sich wieder einmal mehr von einem Mann erwartete, als dieser schon im Ansatz zu geben bereit oder fähig zu sein schien. Nein, da war nun ein Mann, der es offensichtlich nicht erwarten konnte, ihre Erwartungen zu erfüllen. Nun schraubte sie diese ihre Erwartungen so weit wie möglich herunter, damit der Vorrat seiner Erfüllungen noch lange reichen würde. Mit etwas Glück konnte sie damit erfüllt über den Sommer gelangen. Erfüllt von Hannes Bergtaler: 1,90 groß, 85 Kilo schwer, wuchtig, ungelenk, 42, ledig, sonnenfältchenäugig, ausgestattet mit Omas blendendem Gebiss. Vieles an ihm fiel ihr auf, nichts davon störte sie. Nicht sein Wortwitz, der die Pointen voranstellte und die Vorgeschichten erst nachher zu erzählen pflegte. Nicht sein gewöhnungsbedürftiger Begriff von Frühjahrsmode. Nicht seine sattsam ausgewaschenen Unterleibchen, die man beim besten Willen nicht als T-Shirts bezeichnen konnte. Nicht einmal seine alle paar Minuten wiederkehrende Lieblingsformel »Wie-von-den-Socken«. Judith hatte es bislang vermieden zu fragen, ob er nicht zufällig noch bei seiner (Socken stopfenden) Mutter lebte. Er war ein anderer Typ als alle bisher, nicht ihrer und auch keiner, den sie von irgendeiner Frau her kannte. Er war schüchtern und wagemutig zugleich, verschämt und unverschämt, beherrscht und getrieben, auf tolpatschige Weise zielstrebig. Und er wusste, was er wollte: ihr nahe sein. Das war ein durchaus ehrenwertes Verlangen, dachte Judith. Sie nahm sich vor, behutsam damit umzugehen und nichts zu überstürzen. Sie wollte keine falschen Hoffnungen in ihm wecken. Hoffnungen schon, aber keine falschen. Welche die richtigen waren, würde die Zukunft der Gegenwart früh genug einflüstern. Die späten Abende und Wochenenden fanden vorerst noch ohne ihn statt, zumindest physisch. So paradox es klang: Die Zeit ohne ihn zählte für Judith zu den schönsten und stärksten Zeiten mit ihm. Egal welcher ihrer gewohnten Tätigkeiten sie nachging, alles rückte in den Hintergrund, alles geschah wie unter dem Einfluss von Glücksdrogen. Ja, sie war erstmals, wenn auch vermutlich nur kurzfristig, ein rundum glücklicher sorgenfreier Single. Sie konnte tun, was sie wollte: an Hannes Bergtaler denken. Es war wundervoll, ihre Sehnsucht nach ihm beim Wachsen zu beobachten. Möglicherweise war es auch bloß ihre Sehnsucht nach seiner Sehnsucht nach ihr, die da wuchs, aber Sehnsucht blieb Sehnsucht, und Judith war endlich wieder einmal süchtig danach. 2.
Am zweiten Samstag im Mai war sie abends bei Ilse und Roland zum Revanche-Essen für Ostern eingeladen. Auch Gerd und das beharrlich Händchen haltende Paar Lara und Valentin waren wieder dabei. Es war warm genug, um auf der Terrasse zu sitzen. Die billigen und wenig originellen Gartenlaternen störten nicht weiter, vier dicke Partykerzen rund um den Tisch wärmten das elektrische Licht auf und gaben ihm Farbe. Gegen acht Uhr, als Roland den mit Shrimps besetzten, von Avocado belegten und mit Koriander geschmückten »Gruß aus der Küche« auftrug, waren Mimi (4) und Billi (3), nach aufwühlender Beschlagnahme jedes einzelnen Besuchers, bereits müde und quengelig. Um zehn Uhr, als Ilse zum Abschluss die »kinderleichte Käsetorte« nach Jamie Oliver servierte, hatten sich die Kleinen endlich erfolgreich in den Schlaf geplärrt, und so etwas wie Unterhaltung für Erwachsene konnte entstehen. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte Judith unter Zuhilfenahme ihres dritten Glases Cabernet Sauvignon. »Wie heißt er?«, fragte Gerd. Er hatte sie beobachtet. Sie hatte kein Geheimnis daraus gemacht, ein schönes Geheimnis in sich zu tragen. »Er heißt Hannes, und er wird euch gefallen«, erwiderte Judith, leider viel zu enthusiastisch, was sich sogleich rächen sollte. »Warum ist er nicht hier?«, fragte Ilse, beinahe fassungslos. Auch Roland wirkte gekränkt. Und plötzlich baute sich eine mit künstlicher Empörung geladene Stimmung auf, die in Gerds absurder Idee gipfelte, Judith könnte ihren Fehler wiedergutmachen und jenen Hannes, der allen gefallen würde, anrufen, um ihn spontan dazuzuladen. So neugierig waren sie auf ihn. Judith wehrte sich heftig dagegen. Sie wollte ihn noch eine Weile nach Lust und Laune frei verfügbar im Kopf genießen und nicht bereits unverrückbar auf der Sitzbank neben sich haben. Es war auch kaum anzunehmen, dass er samstagnachts auf Abruf bereit war, sich von fremden Gastgebern an den Westrand Wiens locken zu lassen. Aber schließlich gab sie dem Druck der Freunde nach und schickte Hannes, mehr als Geste als aus Verlockung, ein SMS, er möge doch zu der Gruppe dazustoßen, sie saßen gerade so nett beisammen, er wäre herzlich eingeladen, die Adresse lautete so und so. Sie tat dies in der Gewissheit, dass er sich nicht melden würde, dass er unterwegs oder beschäftigt war, dass er die Nachricht wahrscheinlich gar nicht registrieren würde, jedenfalls nicht früh genug, um zu kommen, selbst wenn er, was sie erst recht für ausgeschlossen hielt, tatsächlich nichts Besseres zu tun gehabt hätte. Keine Minute später langte auf Judiths Handy die Meldung ein: »Vielen Dank für die Einladung!!! Bin in zwanzig Minuten da! Hannes.« 3.
An die folgenden Stunden hätte sich Judith später gerne genauer erinnert. Aber sie brauchte zwei weitere vollbauchige Gläser Rotwein, um die Wartezeit zu überstehen, um ihre für sie selbst unerklärlich große Nervosität zu ertränken. So reichte ihre Aufnahmefähigkeit gerade noch für die äußerst bizarre Begrüßungsszene. Das Gespräch verstummte. Da stand er plötzlich vor ihnen, in brauner Cordhose, weißem Hemd, zugeknöpft bis zum Kragen, und hellblauem Pullunder, mindestens so euphorisch wie ein soeben aufgerufener bester männlicher Hauptdarsteller bei der Oscar-Verleihung. Sein breites Lachen überstrahlte mühelos die Gartenlichter, als er verkündete: »Ich bin der Hannes.« Judith hatte den Wunsch, sich zu verkriechen. Er beugte sich über den Tisch, drückte jedem fest die Hand, rückte ganz nah an ihre Gesichter, fixierte jedes Augenpaar, wiederholte jeden Namen, mit einer Bedächtigkeit, als ginge er daran, über jeden Einzelnen von ihnen eine Studie zu verfassen. Noch immer deutete nichts darauf hin, dass Judith für ihn anwesend war, am wenigsten sie selbst. Aus einem Jutesack holte er zwei gelbe Schachteln: möglicherweise Schokobananen. »Für die Kleinen«, sagte er. Woher wusste er, dass die Gastgeber zwei Kinder hatten? Hatte Judith ihm überhaupt schon einmal von Ilse und Roland erzählt? Hatte sie Mimi und Billi erwähnt? Das hatte er sich tatsächlich gemerkt? Für Ilse zauberte er ein Fläschchen Olivenöl aus der Tasche und beließ es bei der flüchtigen Bemerkung: »Meiner Meinung nach das beste in ganz Umbrien, extrem fruchtig, ich hoffe, ihr mögt es.« Roland drückte er schließlich eine Flasche goldgelben Inhalts, vermutlich Whiskey, in die Hand. Dazu sprach er getragen, als wollte er ein Muttertagsgedicht aufsagen: »Nochmals herzlichen Dank für die liebe Einladung.« Man mochte meinen, er war vor zwanzig Jahren das letzte Mal Gast gewesen und hatte sich auf den Wiedereinstieg in das gesellschaftliche Leben mindestens drei Wochen vorbereitet. Jetzt erst drehte er sich demonstrativ zu Judith, holte sie aus ihrem Schattenversteck, umfasste sie mit beiden Händen. Sie spürte einen leichten Druck nach oben, der sie dazu veranlasste, aufzustehen. So stand er nun vor ihr, fast zwei Kopf größer, eine Armlänge von ihr entfernt, seine Hände auf ihren Schultern, und betrachtete sie mit einer Ergriffenheit, als wäre sie der weltweit erste Sonnenaufgang im Meer, der sich anfassen ließ. Und nach einer beinahe unerträglich langen Pause, in der ihr die Knie bedenklich weich wurden und der Alkohol im Kopf erste Schleudergänge einlegte, sagte er, für alle anderen gut vernehmbar: »Judith, ich freu mich so sehr, dich heute noch zu sehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr!« An dieser Stelle endeten nicht nur sämtliche ihrer Vorstellungen des Abends, sondern der gesamte Film. Ab da lief nur noch der Nachspann, bis in den frühen Morgen. Judith hatte noch ein paar lichte Momente, die sie dazu nutzte, ihr Weinglas zu den Lippen zu führen. Die Gesichter rund um sie verschwammen und verschwanden der Reihe nach. Einzig Hannes tauchte immer wieder von neuem auf. Einmal weit weg, dann wieder ganz nah bei ihr. Einmal roch sie seinen Atem, dann blitzte von der Ferne Omas Gebiss. Wo seine tiefe Stimme dröhnte, gab es Bewegung, Gemurmel und Gelächter. Irgendwann wachte sie auf, weil sie plötzlich kein Geräusch mehr vernahm, und Hannes war die Wand, an der sie lehnte. Ob ihr übel war? Wie sollte sie das wissen? Sie war zu wenig bei sich, um es zu beurteilen. Irgendwann öffnete sich ein Seitenfenster und der Wind blies ihr angenehm kühl ins Gesicht. Und...