E-Book, Deutsch, 394 Seiten
Graf Sein oder Spielen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-82300-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über Filmschauspielerei
E-Book, Deutsch, 394 Seiten
ISBN: 978-3-406-82300-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dominik Graf, geb. 1952, Sohn des Schauspielers Robert Graf und der Schauspielerin und Schriftstellerin Selma Urfer. Zwischen 1974 und 1979 Studium der Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen München (HFF), danach Regisseur und Autor. Filme u.a.: "Tatort: Schwarzes Wochenende" (1986), "Die Katze" (1987), "Die Sieger" (1994), "Tatort: Frau Bu lacht" (1995), "Der Skorpion" (1997), "Der Felsen" (2001), "Hotte im Paradies" (2002), "Der rote Kakadu" (2005), "Eine Stadt wird erpresst" (2006), "Im Angesicht des Verbrechens" (2008/2009), "Polizeiruf 110: Cassandras Warnung" (2011), "Die geliebten Schwestern" (2012), "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" (2020). Auszeichnungen u.a.: Bundesfilmpreis für Regie 1988 und Silberne Lola 2022, mehrere Grimme-, Bayerische und Deutsche Fernsehpreise.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Prolog
Ich wurde als erstes Kind eines Schauspielers und einer Schauspielerin geboren. Diese, in ihrem nackten Kern für den Betroffenen nicht ganz unproblematische Tatsache, prägte meine Faszination für den Beruf der Eltern, ohne dass es bei mir je ernsthafte Pläne gegeben hätte, denselben gleichfalls zu ergreifen. Und legte aber auch von Beginn an eine intime Perspektive auf meine späteren Erfahrungen mit vielen deutschen SchauspielerInnen. Immer waren Beruf und Leben, Spiel und Wirklichkeit unauflöslich miteinander verquickt. Bis heute bei mir ein Kuddelmuddel.
Ich will hier versuchen, über verschiedene Quellen der Kreativität im Spiel zu schreiben, über anspornende Fantasien, über Anstrengungen, Ängste, den Ehrgeiz, die Missverständnisse, über triumphale schauspielerische Ereignisse im Weltkino und über eigene Niederlagen, über etliche bahnbrechende Spiel-Ideen aus den bislang 130 Jahren Filmgeschichte – und über den Zauber und den Schauder, den Schau-Spiel bei mir noch immer erzeugen kann. Ich weiß nicht, ob meine sprachlichen Fähigkeiten hierfür genügen. Denn oft ist es doch so rätselhaft und unbeschreiblich, wie und woraus die singulären großen Momente ebenso wie all die kleinen, alltäglich übersehenen Schauspiel-Leistungen in Fernsehfilmen und Serien sich entwickeln, und wo sie sich ihre Inspiration holen.
Die Schauspiel-Inszenierung prägt die persönliche Handschrift eines Regisseurs oder einer Regisseurin beinahe mehr als die dramaturgische Erzählhaltung oder die Haltung zum „Bild“, zur Kameraführung etc. pp. Im Guten, im Besonderen, im Genialen wie im Schwachen, im Banalen, Konventionellen oder gar Gleichgültigen sieht man in der Führung der Schauspieler, im „Menschenbild“ gnadenlos die berufliche Befähigung, die Originalität und die Vision der RegisseurInnen.
Dies ist ein Buch über Schauspiel-Stile und damit zwangsläufig auch über Regie-Stile. Da es von einem Regisseur geschrieben ist, der selber vor der Kamera gespielt hat, ist es auch ein Erfahrungsbuch. Mein persönlicher Geschmack prägt die Schwerpunkt-Auswahl meiner Beispiele hier, er beeinflusst meine Begeisterungen, meine Zweifel sowie meine Ablehnungen.
Schlussphase des Drehs (180 Minuten Film in 34 Drehtagen) von Fabian oder Der Gang vor die Hunde (2019). Mail an die Casterin des Films, An Dorthe Braker vom 3. September 2019, 08:02:
„… es gab jetzt doch ein paar richtige Verzweiflungsanfälle, vorgestern zum Beispiel am Tag der Damen aus dem Künstleratelier Reiter in der Villa Labude. Schwere Anschlussfehler, weil unchronologisch gedreht werden musste, zuwenig Drehzeit bei Tageslicht, grosse Hetze, grosses Pensum auf der Dispo vorprogammiert. Trotzdem hab ich davon zunächst in Erinnerung, daß Anne Bennent und Luisa Aschenbrenner und Lena Baader sehr stark wirken … Ein grosser Schreckmoment als Tom (Schilling) sagte, er wisse nicht, wie er die Auffindung des Leichnams von Labude spielen sollte, ohne daß es ein „Tatort“ wird. „Ich bin kein Schauspieler“, riesige Selbstzweifel. Das hat mich doch sehr gerührt. Nicht nur der Kampf um die Figur, auch um den Anteil des „Realen“ an der Szene, und darum, so eine bekannte „Standardsituation“ anders zu gestalten. Irgendwie haben wir’s geklärt, eine Koproduktion der Ideen von mir und ihm: er sieht nun den toten Freund im Sterbezimmer nicht sofort auf der Liege, denn der Assistent des Kommissars steht ungeschickt dazwischen, Fabian ist verwirrt. Dann gibt der gleichfalls leicht irritierte Assistent den schlimmen Blick frei und Fabian ist konsterniert, geht nah zu dem Toten, kann es zunächst nicht fassen, daß es wirklich Labude sein soll, der sich erschossen hat, aber jetzt sickert die Tatsache zumindest oberflächlich in ihn ein, er murmelt „Sowas macht man ja nicht, Stefan, oder?“, und erstmal eine Zigarette … später könnte man da vielleicht einen Minizeitsprung im Schnitt machen, Fabian hat die Zigarette im Mund, sagt nochmal zum Toten: „Sowas macht man nicht“, findet kein Feuer, der Kommissar ist ihm behilflich. Man erklärt ihm knapp die Umstände der Todesnacht, soweit bisher bekannt, er nickt, raucht, wirkt ein wenig als sei er hier der eigentlich untersuchende Hauptkommissar … die Trauer kommt später, als er den Abschiedsbrief seines Freundes an ihn liest. Oder vielleicht noch viel später, wenn er nach dem grossen Auftritt an der Uni verzweifelt im Zug nach Hause fährt, was wir vor drei Tagen gedreht haben. Im Grunde haben Tom und ich in der schwierigen Situation eine Kette von Übersprungshandlungen eingebaut, um das „Tatortige“ in jedem Fall zu eliminieren, um die zunächst Verdrängungs-Haltung Fabians der Katastrophe gegenüber in Gesten und Bewegungen und Irritationen zu illustrieren. Du wirst es ja sehen. Ich glaube, Toms Widerstand oder Skepsis gegenüber der Figur, gegen einzelne Szenen, seine fast permanente Kritik und Selbstkritik erzwingen meine (und seine) fast ebenso permanente Kreativität … Die erste Woche in Berlin geht heute mit einer weiteren langen Nacht zu Ende. Manchmal denk ich, „Fabian“ ist mir über den Kopf gewachsen wie dem bizarren Doktor Moll anfangs im Film der Unterleib seiner Frau. Lieben Gruß Dominik“
FABIAN ENTDECKT DEN ABSCHIEDSBRIEF SEINES FREUNDES LABUDE. BEIDE BILDER SIND MOMENTAUFNAHMEN VOM DREH, DIREKT LIVE VON DER VIDEOAUSSPIEGELUNG MIT HANDY ABFOTOGRAFIERT, WAS IHR UNPERFEKTES, ABER SPONTANES AUSSEHEN ERKLÄRT. SO WIE VON WEITHER GESENDETE „FUNK“-BILDER FRÜHER AUSSAHEN.
Ich werde öfters als „Schauspieler-Regisseur“ bezeichnet. Einerseits stört mich in meiner Eitelkeit daran natürlich gleich die Ausschließlichkeitsklausel, die damit stillschweigend einhergeht. „Schauspiel“ als mein lobenswertes Spezialfach – ok, und was sonst? Andererseits erkenne ich auch im Blick auf meine Filmographie so ungeheuer viele Fehler oder falsche Konzepte oder nicht gegangene Wege, und dies auch in meiner angeblich so tollen „Schauspiel-Führung“, dass die Arbeit am Buch vielleicht auch dazu dient, meine Unterlassungen oder auch mein partielles Versagen mir selbst besser zu erklären. Dazu benötige ich unterwegs etliche Rückgriffe in die Filmgeschichte. Ich werde fragen: Welcher Spielstil, auf den ich in meinen Anfängerzeiten traf, hat sich wann und warum weiter entwickelt, und was wurde danach oder davor eigentlich historisch aus was geboren? Das Theatrale war dabei lange Jahre sicherlich eine Art „Gegner“. Denn im deutschen Autorenfilm war dahingehend ein Rubikon überschritten worden, die innere Bewegung der Film-Charaktere durfte damals stark in äußerliche Bühnen-Expressivität hineinragen. Die überhandnehmende Mimerei bei Fassbinder, Schlöndorff, Herzog (sie seien hier mal als Pauschal-Truppe benannt) war für die nächste Generation – meine, unsere – ein Gräuel. Aber indem ich in meinen Versuchen zunächst dringlichst das Schauspiel auf „realistisch“ wirkende Alltags-Gesten und -Mimiken zu reduzieren versuchte – was habe ich dabei vielleicht andererseits alles verpasst? Einige Experimente, die ich in eine neue, heftigere Richtung unternahm, überzeugen mich heute nicht sehr. Aber vielleicht auch nur deshalb, weil ich diese Richtung aus Unsicherheit dann nicht konsequent genug gegangen bin? Ich schreibe hier also aus den Defiziten, die ich in der Retrospektive – manchmal auch schon unmittelbar nach oder während einer Arbeit – erkannt habe oder erst heute erkenne. Und was folgt dann jeweils daraus? Jeder Film ist ja ein neues Haus, gebaut aus unterschiedlich ineinandergreifenden oder auch manchmal interessant widersprüchlich schief stehenden Entscheidungen.
Fast alle Spiel-Stile, die das Kino bislang gesehen hat, vom Stummfilm bis heute, hatten ihre künstlerische Wichtigkeit, ihre Berechtigung, ihre herausragenden ProtagonistInnen. Es geht in diesem Buch weniger um die Frage „gut“ oder „schlecht“. Schon gar nicht um den subjektiven „Geschmack“ der Zuschauer. Und Filmkritiker schreiben ja zu gerne über diese/n oder jene/n „große/n“ Darsteller/In schreckliche Gemeinplätze, sie verpassen ihnen Etikette wie „kühl“, „intensiv“, „geschmeidig“, „geheimnisvoll“, „vital“, „elegant“, „nahbar“ oder „unnahbar“. Das meint ihre Wirkung, ihre Aura. Aber das Spielen selbst, die „Herstellung“ – das ist ein ganz anderes Terrain, da muss man unterscheiden. Die Aura...