Greengrass | Das verlorene Paradies | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 782 Seiten

Greengrass Das verlorene Paradies

Europa 1517–1648

E-Book, Deutsch, 782 Seiten

ISBN: 978-3-8062-3757-3
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ob Bauer oder Prinz, niemand blieb unberührt von den gesellschaftlichen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts. Martin Luthers Kampfansage an die katholische Obrigkeit wirbelte die Grundfesten der christlichen Religion durch­einander. Die Glaubenskriege und das Ringen um die Vorherrschaft in Europa, aber auch die europäische Expansion und die naturwissenschaftliche Revolution verwandelten den ganzen Kontinent. Die Idee einer geeinten westlich-christlichen Glaubensgemeinschaft musste weichen. Es entstand Europa, wie wir es heute kennen. Mark Greengrass ist einer der führenden britischen Historiker. Brillant analysiert er die großen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen vor und während des Dreißigjährigen Kriegs. Er rückt dabei immer wieder die historischen Zeitgenossen in den Mittelpunkt seiner Erzählung, so entsteht ein lebendiges Bild dieser Umbruchzeit. Seine meisterhafte Darstellung lässt uns verstehen, was Europas heutiger Identität zugrunde liegt.

Mark Greengrass ist einer der führenden Historiker der Frühen Neuzeit. Der preisgekrönte Wissenschaftler ist bekannt gewor­den durch seine Werke zum frühneuzeitlichen Frankreich und zur Reformation. Greengrass studierte und promovierte in Oxford und wurde 1997 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit in Sheffield. Greengrass hatte Gastprofessuren in Pau, Paris und Tours inne, arbeitete für die EHESS in Paris, war - neben zahlreichen an­deren Stationen - Fellow der Royal Historical Society, Visiting Fellow at Trinity College in Oxford und Senior Fellow am Freiburger Institute for Advanced Studies (FRIAS).
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1. Das Ende des westlichen Christentums
Als Thomas Cockson 1609 nach dem umstrittenen Waffenstillstand zwischen dem katholischen Spanien und der gerade im Entstehen begriffenen Republik Holland seinen Kupferstich mit dem Titel The Revells of Christendome (Die Vergnügungen des Christentums) veröffentlichte, bediente er sich bereits bekannter satirischer Darstellungsweisen, um das Christentum zu verspotten. Ganz oben am Tisch steht Papst Paul V., während zu seiner Linken, dem Betrachter zugewandt, drei europäische Könige sitzen (Heinrich IV. von Frankreich, Jakob I. von England und Christian IV. von Dänemark). Ihnen gegenüber haben sich drei katholische Mönche niedergelassen, die mit den Königen würfeln, Backgammon und Karten spielen – um die Zukunft Europas. Ein Hund uriniert auf den Fuß eines Mönchs. Was der Stich sagen will, ist deutlich: Das Schicksal des Christentums liegt in dieser Runde niemandem am Herzen, es ist zu einem Witz geworden. Viele der Elemente, die zum Ende des westlichen Christentums beitrugen, waren in Europa schon vor 1500 wirksam, doch erst, als sie vollzählig waren und interagierten, war das Schicksal des Christentums beschlossene Sache. Der Einfluss der Renaissance
Schon lange vor 1517 hatte die Wiederentdeckung klassischer Texte und Ideen in den städtischen Kulturen Norditaliens, Flanderns und des Rheinlands begonnen. Bis dahin war die Scholastik die allgemein akzeptierte Verfahrensweise gewesen, um die philosophischen Probleme der europäischen Eliten anzugehen, und mit der Scholastik war die Vorherrschaft der aristotelischen Philosophie einhergegangen. Das wurde nun infrage gestellt. Die humanistischen Gelehrten sahen es als ihre Aufgabe an, die Texte der klassischen Antike unverfälscht wiederherzustellen und mit den Gedanken ihrer Verfasser in einen kritisch prüfenden Dialog zu treten. Die humanistisch inspirierten Lehrer betonten die Bedeutung der persuasio (Überzeugung): Gelernt werden sollte das geordnete Vortragen von Argumenten, um andere Menschen für die eigenen Ansichten zu gewinnen. Ihre Schüler lernten mit den lateinischen Texten (überwiegend von Cicero) eine neue Sprache und erfuhren etwas über die angemessene Lenkung eines Gemeinwesens. Das führte zu veränderten Vorstellungen über die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten, über das Politische und das Gesellschaftliche und zu einem anderen Universalismus – der „Öffentlichkeit“ (lateinisch publicum) – als dem tradierten des „Christentums“. „Öffentlichkeit“ war die größte begrifflich fassbare universitas, in den Augen des römischen Rechts eine fiktive Person, unterschieden von denen, die sie erschufen, eine Gesamtheit, die eine lebende Person nachzuahmen vermochte, Rechte und Pflichten sich aneignen und andere damit beauftragen konnte, sie in ihrem Namen wahrzunehmen. Die universitas einer Republik (einer „öffentlichen Sache“) verkörperte den Willen ihrer Mitglieder. Es konnte eine Vielzahl von Republiken geben, wobei einige virtueller waren als andere. So nutzte etwa die „Gelehrtenrepublik“ den Wandel der Kommunikationsmöglichkeiten und wurde von den humanistischen Gelehrten jener Epoche lebhaft gefördert. Ebenso aber spiegelte sich in ihr die Geschichte von Europas „geistigem Kapital“, das zunehmend aus den Händen einer kleinen geistlichen und höfisch-bürokratischen Elite in einen so vielschichtigen wie kosmopolitischen Markt von Produzenten und Konsumenten überging, auf dem Verleger, Drucker, Graphiker, Bibliothekare und Leser unterschiedlicher Provenienz ihre jeweiligen Interessen vertraten. Wie dieser Markt funktionierte, hing von den lokalen Gegebenheiten ab, was erklärt, warum die intellektuelle wie die soziale „Geometrie“ der Renaissance so verschieden ausfiel. Ihr Einfluss wechselte von Region zu Region, wobei die unterschiedlichen Konturen durch religiöse Spaltungen noch verstärkt wurden. Zu ihren wichtigen Komponenten zählten die Fürstenhöfe, und die Renaissance wandelte sich bereitwillig zu einer höfischen Kultur, indem sie sich den am Hof herrschenden Bedürfnissen und Bestrebungen anpasste. Wie die großen wissenschaftlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts besaß auch die Renaissance die Macht, zu verwandeln und zu zerstören. Sie konnte kirchliche und politische Obrigkeiten zementieren oder untergraben. Sie konnte grundlegende Vorstellungen über Gottes Vorsehung in der Welt infrage stellen oder bekräftigen. Ihre Pädagogiken zeigten auf ganz neue Weise, wie man lernen konnte, sich selbst, die Welt und ihren Schöpfer zu begreifen. Neben anderen Dingen entdeckten die humanistischen Gelehrten, dass die antike Philosophie ihre eigene Geschichte hatte. Um Aristoteles zu verstehen, musste man ihn in den Zusammenhang mit all jenen Denkern stellen, mit denen er sich auseinandersetzte. Dadurch war er keine einzigartige Autorität mehr, die allein Wahrheit und Legitimität verlieh. Dieser Prozess hatte damit begonnen, dass man den griechischen Text der Schrift Leben und Lehre der Philosophen von Diogenes Laertius übersetzte, veröffentlichte und popularisierte. Nun verfügte man über eine Genealogie für die miteinander wetteifernden „Sekten“ der griechischen Philosophen und konnte Ansichten, die im Mittelalter randständig geblieben waren, Glanz verleihen. Die Lehrer brachten ihren Studenten den Aristoteles nun in dieser vielschichtigeren Traditionslinie nahe und nahmen die Argumente und Debatten der griechischen Welt ernst. Einige Philosophen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts orientierten sich an den antiken Schulen der Epikureer, Stoiker, Platoniker und pyrrhonischen Skeptiker. So verlor die antike Philosophie ihre bisherige Rolle als Magd der christlichen Theologie und als Instrument zur Konstruktion einer universellen Ordnung, was die Philosophen freilich nicht daran hinderte, einem grundlegenden Ensemble von Wahrheiten nachzuforschen. Einige meinten, man könne, wie in jeder Genealogie, die Linie zu einer Urahnenschaft zurückverfolgen, von der sich auf alle Nachfolger ewig gültige Spuren vererben würden. Ein Beispiel dafür ist Francesco Patrizi da Cherso, der in seiner Nova de universis philosophia (Neue Universalphilosophie, 1591) die Schriften des Aristoteles über Platon zu Solon und Orpheus zurückverfolgte und noch weiter zum biblischen Bericht über die Erschaffung der Welt und zum Mystizismus der Ägypter, wie er in den Werken des Hermes Trismegistos gedeutet wird. Die hermetischen Schriften, die gut 1100 Jahre vor Platon entstanden sein sollen, enthielten, so behauptete Patrizi, mehr Weisheit als die „gesamte Philosophie des Aristoteles“. Andere zogen es vor, die Gemeinsamkeiten zwischen Platon und Aristoteles zu betonen, die ihrer Ansicht nach trotz der unübersehbaren Differenzen auf eine dem antiken Denken zugrunde liegende „Harmonie“ verwiesen. Gerade als dieser Synkretismus im Begriff war, sich zu konsolidieren, erhoben sich die radikal skeptischen Stimmen derer, die den griechischen Philosophen Sextus Empiricus gelesen hatten. Sextus Empiricus hatte die Auseinandersetzungen zwischen seinen Kollegen dazu benutzt, um nicht nur des Aristoteles Bemühungen, Wahrheit zu erlangen, grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Folgte man seiner Argumentation (und einige bedeutende Denker, wie etwa Michel de Montaigne, taten es), so steckte die klassische Philosophie voller Irrtümer. Gianfrancesco Pico della Mirandola, der Martin Luther der Philosophie des 16. Jahrhunderts, schrieb in seinem 1520 veröffentlichten Examen vanitatis doctrinae gentium (Untersuchung über die Nichtigkeit der heidnischen Lehren): „Die gesamte Lehre der Heiden steckt voller Aberglauben, Ungewissheit und Irrtum.“ Erst einem Genie wie René Descartes gelang es, diesen Pyrrhonismus zum Fundament einer Universalphilosophie zu machen, die eine neue, auf Experimenten beruhende Physik zu stützen in der Lage war. Doch konnte mittlerweile niemand mehr ernsthaft die Auffassung vertreten, das Christentum sei auf der Grundlage radikalen Zweifels bunt zusammengewürfelt worden. Humanistisch gebildete Geographen, Ärzte und Naturforscher waren gleichermaßen von der Wichtigkeit direkter praktischer Erfahrung und vom Wert des Experimentierens überzeugt. Dadurch veränderte sich das Bild, das man sich von der Welt der Natur machte. Europas geographische Entdeckungen jenseits seiner Grenzen trugen dazu bei, die natürliche Welt für ein Füllhorn reicher und seltener Phänomene, für ein Schatzhaus voller Geheimnisse zu halten. Diese Welt sollte von jenen entschlüsselt werden, die von dem dafür notwendigen Code wussten. Astrologen, Alchemisten, Kosmographen, Naturmagier und unorthodox praktizierende Mediziner wetteiferten miteinander um Erklärungen dafür, wie jene ungeheure Vielfalt der Natur auf geordnete, die Materie betreffende Grundsätze zurückgeführt werden könne. Zumindest aber wollte man zeigen, dass diese Vielfalt der empirischen Forschung zugänglich sei. Einige der Naturkundler suchten solche Prinzipien in übernatürlichen Mächten – in einer Zauberkraft, die der Natur innewohnte wie ein im Erdgeschehen verborgener Geist, oder die durch Wärme und Bewegung der Lüfte übertragen wurde. Den Philosophen gleich...


Greengrass, Mark
Mark Greengrass ist einer der führenden Historiker der Frühen Neuzeit. Der preisgekrönte Wissenschaftler ist bekannt geworden durch seine Werke zum frühneuzeitlichen Frankreich und zur Reformation. Greengrass studierte und promovierte in Oxford und wurde 1997 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit in Sheffield. Greengrass hatte Gastprofessuren in Pau, Paris und Tours inne, arbeitete für die EHESS in Paris, war - neben zahlreichen anderen Stationen - Fellow der Royal Historical Society, Visiting Fellow at Trinity College in Oxford und Senior Fellow am Freiburger Institute for Advanced Studies (FRIAS).

Mark Greengrass ist einer der führenden Historiker der Frühen Neuzeit. Der preisgekrönte Wissenschaftler ist bekannt geworden durch seine Werke zum frühneuzeitlichen Frankreich und zur Reformation. Greengrass studierte und promovierte in Oxford und wurde 1997 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit in Sheffield. Greengrass hatte Gastprofessuren in Pau, Paris und Tours inne, arbeitete für die EHESS in Paris, war - neben zahlreichen anderen Stationen - Fellow der Royal Historical Society, Visiting Fellow at Trinity College in Oxford und Senior Fellow am Freiburger Institute for Advanced Studies (FRIAS).


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