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E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Grol Himmel auf Zeit

Die vergessene Künstlerin Anita Rée
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86915-223-3
Verlag: Ebersbach & Simon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die vergessene Künstlerin Anita Rée

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-86915-223-3
Verlag: Ebersbach & Simon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anita Rée – Ausnahmekünstlerin zwischen den Welten!

Anita Rée, eine der faszinierendsten Künstlerinnen der Avantgarde, war eine Wandlerin zwischen den Welten: als protestantisch erzogene Hamburgerin mit südamerikanischen und jüdischen Wurzeln, als selbstständige Künstlerin zwischen Tradition und Moderne und nicht zuletzt als eigenwillige Frau in einer von Männern dominierten Kunstwelt. Ermutigt von Max Liebermann, geschult an großen Vorbildern wie Renoir, Cézanne, Matisse und Léger, führt ihr Weg sie von der Alster über Paris nach Positano. Mit ihren Werken erwirbt sie sich in den 1920er-Jahren große Anerkennung. Doch die Zeitläufte bremsen Anita Rée immer mehr aus, sie flieht schließlich nach Sylt … Mit eindringlicher Erzählkraft entfaltet Karen Grol das einfühlsame Porträt der Ausnahmekünstlerin Anita Rée und ihrer ergreifenden Lebensgeschichte.

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Autoren/Hrsg.


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Teil 1
1910 – 1912
Schusterwerkstatt in Hittfeld
Der Unfall vor sieben Jahren mochte der Anfang von vielem gewesen sein. Vom Kopfschmerz, der bei einer Gehirnerschütterung gewöhnlich ist und vorübergeht. Vom Schwindel, der geblieben war. Aber von einer fortschreitenden Veränderung ihres Wesens bemerkte Anita selbst nichts. Ein simpler Sturz, eine Ungeschicklichkeit, mehr nicht. Alles andere beruhte schlicht auf Einbildung, war eine Erfindung der überängstlichen Mutter, die überall Absonderlichkeiten witterte, die Launen und Unvernunft hasste, besonders Anitas Wunsch, Malerin zu werden und ein Leben als Künstlerin zu führen. »Sei nicht kindisch! Glaubst du tatsächlich, deine Kritzelei taugt zu mehr als zum Zeitvertreib, weist gar auf ein verstecktes Talent hin?« Leider war die Mutter nicht allein mit ihren Zweifeln. Anita hastete die Hittfelder Bahnhofstraße hinunter, das Gepäck schwer und unhandlich. Sie hielt inne, schob die verrutschte Zeichenmappe zurück, klemmte sie fest unter den Arm. Hals über Kopf hatte sie ihren Koffer gepackt, sich nur vom Schuster verabschiedet. Nach Hamburg, nach Hause, so schnell wie möglich, selbst wenn sie wieder in die Fänge der Mutter geriet. Ein letztes Mal schaute sie zurück. Die Schusterwerkstatt geschrumpft zur Miniatur, kaum noch zu erkennen, aber sie konnte es sich vorstellen: Meister und Geselle hockten am Tisch vor dem Fenster, mit krummen Rücken über die Leisten gebeugt, in den konzentrierten Gesichtern Furchen von Anstrengung und Entschlossenheit. Keine Blicke für die Welt draußen. Dunkel war es. Eng ging es zu. Klagen fanden weder Raum noch Gehör, wenn die Männer die Sohlen formten, die Ledernutzen zuschnitten, sie energisch mit Nägeln befestigten und mit Geschick und Kraft vernähten. Anita hatte diese Szene seit Beginn ihrer Ausbildung bei Arthur Siebelist malen wollen. Sie hatte unzählige Wochen oben in der Mansarde über der Werkstatt logiert, wenn der Lehrer in den warmen Monaten aus seinem Hamburger Atelier auszog, die Freilichtmalerei anordnete und Schülerinnen und Schüler aufs Land ausschwärmen ließ. Sechs Jahre Sommerschule. Sechs Jahre Siebelist. Heute gingen sie zu Ende. Die feine Grenzlinie zum Unerträglichen war deutlich überschritten. Siebelist hatte sie bloßgestellt, lächerlich gemacht, vor aller Augen vorgeführt. Es reichte. Nun musste sie nach vorn blicken, die Bahnhofstraße hinauf. Sie blinzelte in die Sonne, die Vergangenheit im Rücken, doch das Klopfen des Hammers glaubte sie noch immer zu hören. Trotz der Entfernung vermochte es der scharfe Geruch des Schusterleims, ihr den Atem zu nehmen. Wenn sie ihn sich nur vorstellte, stach er in der Nase. Die Kunstakademien blieben Frauen verschlossen, deswegen hatte sie anfangs eine Ausbildung in dekorativer Malerei am Berliner Kunstgewerbemuseum erwogen. Die angewandte Kunst bot Vielseitigkeit, schien Anita sinnvoller, als sich auf die schönen Künste zu beschränken. Damit ließe sich Geld verdienen, ein gutes Argument, nicht von der Hand zu weisen, obwohl der Vater sie unterstützte. Er war inzwischen mehr Privatier als Kaufmann, die Familie Rée durchaus vermögend. Nein, sie wollte sich nicht auf den immerwährenden Beistand verlassen. Der geliebte Vater wurde älter und älter, und sollte er auch noch so gut für ihre Zukunft vorsorgen, es galt, einen eigenen Weg zu finden. Der warme Landwind blies ihr ins Gesicht. Lose Haarsträhnen flatterten vor den Augen. Anita verbannte die Störenfriede unter die Krempe des roten Huts, hielt ihn fest, dass eine plötzliche Brise ihn nicht forttragen konnte. Vieles war so leicht, dass es Halt brauchte, anderes so schwer, dass es niemals in Gang kam. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sich ein Mann an ihre Seite gesellte, einer, der ihr gefiel, am besten einer, der ein Auskommen garantierte und eine Familie ernähren konnte. So machten es die jungen Frauen. Das dachte sich die Mutter. Der Vater sähe es sicher gern. Solange Emilie, die ältere Schwester, unverheiratet war, blieb Anita noch Zeit. 25 Jahre alt war sie nun. »Studiere nur, Kind. Der richtige Mann wird deine Fähigkeiten zu schätzen wissen.« Vater scherte sich nicht um die Warnung der Mutter. Eine junge Frau mit Bildung, eine, die sich der Kunst verschriebe, verkümmere zu einem verbitterten Wesen, dem jede Weiblichkeit abgehe. So sagten die Leute. Vater hielt die Kunst für eine akzeptable, ja gar angemessene Beschäftigung für eine Frau, die auf die Ehe wartete. Anita verzieh dem Vater. Sie konnte ihm nicht böse sein. Doch sie befand sich nicht im Wartezustand, sondern im Aufbruch. Sie wollte lernen, Kunst nicht nur zu betrachten und zu verstehen, sondern sie zu schaffen, nicht die Werke der Männer zu kopieren, sondern sie mit eigenen Händen nach eigenen Ideen entstehen zu lassen. So schnell wie möglich. Heute, nicht morgen. Sie setzte sich in Bewegung, setzte Fuß vor Fuß auf die Bahnhofstraße von Hittfeld, machte große Schritte. Anita, die Schreitende. Die Frau an sich könne bestenfalls Dilettantin sein, war die gängige Meinung. Aus Frauen im Wartezustand mache man keine Kunstschaffenden, sondern bestenfalls Kunstverstehende. In jedem Fall solle die Frau eine schöne Künstlerin sein, eine, die gefalle. Von weiblicher Kunst war nie die Rede, nur von weiblicher Schönheit. Anita durfte dilettieren, aber nicht reüssieren. Sie durfte Kunstliebhaberin werden, jedoch niemals Expertin. Die Empörung wuchs zu einem widerlichen Kloß im Hals. Er ließ sich nicht schlucken. Erschöpft setzte Anita den Koffer ab. Sie atmete schwer. Einer plötzlichen Eingebung folgend, riss sie sich den Hut vom Kopf, löste den Knoten, überließ die dunklen Haare dem Wind. Sie flatterten wild. Anita, die ewige Dilettantin. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne, die Lider geschlossen, die Lippen zusammengepresst. Es prickelte auf der Haut. Dankbar sollte sie sein, dass Siebelist bereit war, auch Frauen auszubilden. Nie hatte sie einen winzigen Hauch von Dankbarkeit gespürt, nur Unzufriedenheit und Zweifel. In den vergangenen sechs Jahren war das Gefühl, sich auf dem falschen Weg zu befinden, zur Gewissheit angewachsen. Am Ende würde alles eine böse Wendung nehmen, wenn sich nicht etwas änderte, etwas Entscheidendes. Heute musste sich alles ändern. Vielleicht wäre sie längst in Berlin, hätte sich 1904, am Ende der Schulzeit, nicht Siebelist als Lösung angeboten. Eine einfache für die Eltern, doch gewiss nicht die beste. Die Antwort vom Berliner Kunstgewerbemuseum hatte zu lange auf sich warten lassen. Man stellte – oh Wunder! – bei Eignung und Talent sogar Privatunterricht in Aussicht, doch das Schreiben kam gründlich zu spät. Es erreichte Anita, als sich bereits unter Siebelists wohlwollenden Augen erste Studien entwickelten. Im Winter im Hamburger Atelier und im Sommer unter freiem Himmel, bei natürlichem Licht, mit Schatten, wie sie die Natur hervorbringt, und einer Farbigkeit, die keinem künstlichen Einfluss unterliegt. Pleinair lasse sich am besten erlernen, die Natur in ihrer Vielfalt und Proportionalität zu erfassen und ihre Perspektiven und Stimmungen in ein Landschaftsgemälde zu übersetzen. Die Freilichtmalerei war en vogue. Siebelist stellte sich mit Vorliebe hinter seine Schüler, schaute über deren Schulter hinweg auf die jeweilige Staffelei. Anita erstarrte stets, wenn sie den Lehrer kommen hörte, spürte die stechenden Blicke seiner Wieselaugen in ihrem Nacken. Sie lauschte regungslos, wenn er seinen Bart massierte. Er zog an der Zigarre. Es roch nach altem Leder wie von abgetragenen Schuhen. Immerhin hielt der Tabakqualm die Stechmücken fern. Siebelist wählte seine Worte mit Wohlwollen, seine Kritik entbehrte der Schärfe, trotzdem fühlte Anita sie tief. Jeder von Siebelists Einwänden, sogar der gutgemeinteste Vorschlag, nährte Zweifel, die in ihr hallten wie die Schiffssirenen der großen Frachter über der Elbe. Du bist nicht gut genug. Dein Talent reicht nicht. Das ist der falsche Weg. So wirst du eine Dilettantin. Zweifel sind einfallslose, aber wirkungsvolle Gegner. Einfallslos in der Wahl ihrer Waffen, wirkungsvoll wegen ihrer grenzenlosen Geduld. Am liebsten plagen sie Opfer, die besonders angreifbar sind. Im ersten Hittfelder Sommer ließ der Stolz, zu Siebelists Schülern zu gehören, die unerwünschten Stimmen verstummen. Anita malte den Bauern und seine Kuh mit Flecken von Schwarz und Schatten. Wenn ihr Blick sich in der Weite des Marschlandes verlor, schrumpften ihre Sorgen zu Belanglosigkeiten. In der Gemeinschaft, zusammen mit Freundin Lotte und den anderen, fiel das Lachen leicht. Sie liebte diese federgleichen Momente, wenn sogar die Sonne bunte Flecken ins Gras malte. Doch malte Anita sich selbst, fand sie nicht einmal ein Lächeln. Es gelang eine selbstbewusste Haltung, der...


Karen Grol, geboren 1964 in Westfalen, studiert Druckereitechnik an der Hochschule der Künste Berlin. Sie wird Ingenieurin, IT-Leiterin einer Buchdruckerei und Consultant bei einem Softwarekonzern. Die Gründung des Verlags STORIES & FRIENDS ist ein Herzens- projekt und die Rückkehr zu den Wurzeln. Nach über zehn Jahren Verlagsarbeit legt sie 2018 mit "Mackintoshs Atem", ein Roman u¨ber den schottischen Architekten Charles Rennie Mackintosh, ihre erste eigene literarische Arbeit vor. "Himmel auf Zeit. Die vergessene Künstlerin Anita Rée" ist ihr zweiter Roman.



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