Gstrein Die Winter im Süden
1. Auflage 2008
ISBN: 978-3-446-23338-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-446-23338-6
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt u.a. den Alfred-Döblin-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Uwe-Johnson-Preis, den Österreichischen Buchpreis 2019, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Thomas-Mann-Preis. Bei Hanser erschienen Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013), In der freien Welt (Roman, 2016), Die kommenden Jahre (Roman, 2018), Als ich jung war (Roman, 2019), Der zweite Jakob (Roman, 2021), mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war, sowie zuletzt Vier Tage, drei Nächte (Roman, 2022) und Mehr als nur ein Fremder (2023).
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Es war in ihrem zweiten Monat in Zagreb, im Herbst, in dem der Krieg begonnen hatte, als Marija die Nachricht erreichte, die ihr das eigene Leben für immer fremd machte. Sie hatte ihren Vater seit mehr als fünfundvierzig Jahren nicht mehr gesehen und ihn fast genauso lange für tot gehalten und reagierte zuerst gar nicht auf die Anzeige, die ihr die Nachbarn vor die Tür gelegt hatten und die unmöglich von ihm sein konnte. Es mußte sich um ein Mißverständnis handeln, und doch, als sich das ein paar Tage später wiederholte, eilte sie hinunter auf die Straße, kaufte sich an einem Kiosk die Zeitung, die sie trotz des Windes sofort auseinanderfaltete, und starrte mit dem Gefühl, die Dinge um sie würden ihre Umrisse verlieren und konturlos ineinander verschwimmen, auf das nicht besonders große Kästchen mitten in den »Vermischten Nachrichten«. Dann verging eine Woche, in der sie nichts tat, aber voller Unruhe war, und als sie schließlich auf eine weitere Annonce stieß, saß sie in einem Café, und sie hatte augenblicklich Tränen in den Augen und sah sich um, ob die Leute an den anderen Tischen sie beobachteten und merkten, was mit ihr da geschah.
Im Dezember davor war sie fünfzig geworden, ihr Mann hatte mit ihr eine Woche auf Elba verbracht, und die Unbeholfenheit, mit der er sich dort um sie kümmerte, weckte in ihr den Verdacht, daß er wieder einmal eine Geliebte hatte. Über Mittag saß sie mit ihm, in eine Decke gehüllt, in der Sonne, schaute hinaus auf das Meer und wußte nicht, ob sie es riechen konnte, in der feuchten Luft, oder sehen, draußen an der Horizontlinie, oder ob es ihr Gehör war, das sie alarmierte, aber sosehr sie sich dagegen wehrte, der Rechnerei um ihren Geburtstag nachzugeben, gerade im Stillstand merkte sie, wie die Zeit verflog. Obwohl sie zu Hause längst schon getrennt schliefen, nahmen sie sich für diese paar Tage ein gemeinsames Zimmer, und am Ende lohnte sie ihm seine Anstrengungen, ihr zu zeigen, wie sehr er sie immer noch begehrte, beugte sich über ihn, erweckte mit ein paar Handgriffen den verschlafenen Wurm zum Leben, dem sie früher einmal wie eine Schlangenbeschwörerin die zärtlichsten Namen gegeben hatte, und hörte erst auf, sich an ihm abzumühen, als er sich mit ein paar schlaffen Zuckungen blind in ihren Mund ergoß. Damit hatte sie es hinter sich, denn er entschuldigte sich umständlich dafür, wie er es immer getan hatte, wenn es ihm nicht gelungen war, sich ihr rechtzeitig zu entziehen, und wußte am nächsten Morgen nicht mehr, wie er sie anschauen sollte, warf ihr verstohlen die verzweifelten Blicke des Internatsschülers zu, der er einmal gewesen war, und alberte mit den jungen Engländerinnen herum, mit denen sie sich in ihrem Hotel den Frühstücksraum teilten, während sie still neben ihm saß und dachte, was war seine Sehnsucht schon gegen ihre, sie hätte den überkandidelten Damen folgen können, wenn sie sich später mit großen, ganz und gar unzeitgemäßen Hüten aufmachten, die Insel zu erkunden, und einen Tag lang wieder ein Mädchen sein.
Zurück in Wien, ließ sie ein paar Monate verstreichen und erkundigte sich schließlich mehr, um ihm zu schmeicheln, als daß sie es wirklich hätte wissen wollen, warum er abends so viel außer Haus sei. Es wäre für sie keine Katastrophe gewesen, die Wahrheit zu erfahren, und sie sah ihm zu, wie er sich wand, bis er soweit war, sich alles von ihr anzuhören. Dann fragte sie ihn, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie eine Weile nach Zagreb ginge, und ärgerte sich darüber, daß sie es in derselben Sekunde auch schon abschwächte.
»Es wäre nur für den Sommer.«
Das klang, wie wenn sie selbst die größten Bedenken hätte, und als er sie bat, ihm zu erklären, was sie dort wolle, hob sie nur beide Hände, und er hatte es leicht, sie zu verunsichern.
»All die Jahre verschwendest du keinen Gedanken daran, und gerade jetzt, wo dort jeden Augenblick alles in Flammen stehen kann, willst du unbedingt hin«, sagte er. »Warum stellst du dich nicht gleich vor eine geladene Kanone und hoffst, sie wird schon nicht abgehen?«
Er hätte in seiner Ablehnung nicht deutlicher sein können, aber wie es seine Art war, wenn er sich einmal echauffiert hatte, lenkte er gleich wieder ein.
»So extravagant das ist, du mußt es selbst wissen.«
Darüber hinaus beschränkte er sich darauf, das zu sagen, was er in den Wochen davor immer gesagt hatte, wenn sie ihm in den Ohren gelegen war, was die Zeitungen über das »Pulverfaß« schrieben, als das sich der Balkan von neuem erwies, und sie sich zu der Prophezeiung hatte hinreißen lassen, es würde nicht bei den paar Toten bleiben, die es schon gab.
»Fängst du wieder damit an?«
Mehr als zwanzig Jahre früher, in ihrer ersten gemeinsamen Nacht, hatte sie ihm erzählt, daß sie in Jugoslawien geboren war, und auf seine Bemerkungen dazu reagierte sie immer noch empfindlich. Damals hatte er sie sofort ausgefragt, in seinem Kellerzimmer im zweiten Bezirk, und ihr war nichts anderes übriggeblieben, als die Antworten zu erfinden oder ihm etwas möglichst Belangloses entgegenzuhalten, um sein Schwärmen zu stoppen, daß sie aus einem Land stamme, in dem der Kommunismus gesiegt habe, seine immer neu aufflackernden Reden zwischen zwei Küssen für den Großen Vorsitzenden und für die treuen Gefährten im Kampf. Er hatte eine Trophäe in ihr gesehen, mit der er vor seinen Freunden renommieren konnte, die mit ihm zu der Zeit Tag für Tag einen eigens angemieteten Proberaum für den Ernstfall vollqualmten und die Weltrevolution planten, hatte ihr das Gefühl gegeben, ein Schmuckstück im doppelten Sinn zu sein, eine mediterrane Schönheit, wie das unter Kennern wohl hieß, und ein politisches Prachtexemplar, und vielleicht war der Anfang aller Mißverständnisse in ihrer Angst gelegen, ihm zu sagen, daß das alles nicht so einfach war, ihrer Furcht, ihn sofort zu verlieren, wenn sie ihm mehr von sich und ihrer Herkunft anvertraute und ihn aus seinen Träumen riß.
Tatsächlich hatte sie damals nur ihr Widerspruch in sein Bett gebracht, oder genaugenommen nicht in sein Bett, sondern auf den nackten Fußboden seines Unterschlupfs gleich hinter dem Praterstern, in dem es kein Bett gab, und sie dachte immer noch voll Scham daran, wie es dazu gekommen war, nach einem Abend, an dem er sie als reaktionäre Gans abgekanzelt hatte, weil sie so unvorsichtig gewesen war, sich über eine seiner Parolen lustig zu machen. Sowenig ihr der Gedanke gefiel, wußte sie doch längst, daß sie nur mit ihm gegangen war, weil er sie vorher gedemütigt hatte und sie alles wiedergutmachen wollte, auf den Knien oder auf Händen und Füßen vor ihm kriechend, wenn es sein mußte, alles aus der Welt schaffen, was gegen sie sprach, und zeigen, daß sie eine gelehrige Schülerin war. Wie es sich für einen richtigen Revolutionär gehörte, hatte er nur eine Hängematte gehabt, die unter ihrer beider Gewicht aus der Verankerung riß, und sie erinnerte sich noch an den wundgescheuerten Rücken, den sie sich dann auf den rohen Dielen geholt hatte, Striemen, als wäre sie bis aufs Blut ausgepeitscht worden, und an die vollkommene Dunkelheit, in der alles geschah, weil er seine Rechnungen nicht zahlte und ihm schon vor Wochen der Strom abgestellt worden war, eine Dunkelheit wie in den Nächten im Krieg.
Dazu gehörte auch, wie er am Morgen danach aus dem unteren der beiden übereinandergestapelten Überseekoffer, die seine einzigen Möbel bildeten, ein Exemplar der von ihm selbst verfaßten Broschüre hervorgeholt hatte, die kleine Schrift mit dem Titel »Die Partisanenkrankheit als Chance«, die er in ein paar hundert Exemplaren hatte drucken lassen und nach einem halbherzigen Versuch, sie auf der Straße zu verteilen, nach und nach an seine Freunde verschenkte. Wahrscheinlich war sie weitum die einzige gewesen, die sie noch nicht besaß, aber als er sich anschickte, eine Widmung hineinzuschreiben, wußte sie vor dem ersten Strich, wie sie lauten würde, so oft hatte sie in den Bücherregalen von anderen Studenten die zwei Möglichkeiten gesehen, die in Frage kamen. Den Männern hatte er immer ein »Genosse« zugedacht und den Frauen ein machohaftes »für diese Nacht«, als wären sie davor unterschiedslos alle durch die Finsternis und Muffigkeit seines Zimmerchens geschleust worden und hätten sich dadurch erst für die höheren Weihen qualifiziert, und welche Ehre, sie bekam beides, »compañera« stand da, weil er gerade seine südamerikanische Phase hatte, mit einem nicht anders als phallisch zu nennenden Ausrufezeichen, und »para esta noche«, beglaubigt mit Namen und Datum, allein ein Stempel, der fehlte, ein fünfzackiger Stern, eine geballte Faust oder sonst ein bedrohlich aussehender Kringel.
In der Aufregung jener Tage hatte er dann von ihren jugoslawischen Geschichten nicht genug kriegen können, und die Mischung aus Müdigkeit und Gereiztheit, mit der er sie jetzt zum Schweigen zu bringen versuchte, war erst viele Jahre später in ihm aufgekommen.
»Sieh zu, daß du dich endlich davon befreist«, sagte er. »Das Traumland deiner Kindheit gibt es nicht mehr und hat es wahrscheinlich auch nie gegeben.«
Es war die alte Leier.
»Dein Leben ist hier.«
Sie wollte ihm schon soufflieren.
»Etwas anderes habe ich auch nie behauptet«, sagte sie statt dessen und wünschte sich, sie hätte genausowenig Zweifel wie er. »Das wäre ja noch schöner, wenn ich das täte.«
Das Sommersemester war zu Ende und damit auch der Serbokroatisch-Kurs, den Marija an der Universität hielt, und bis zum Herbst hatte sie Spielraum und konnte alles als eine Art Urlaub verbuchen, auch wenn jeder, der bei Sinnen war und es sich leisten konnte, aus Zagreb verschwand und nicht dorthin fuhr. Sie hatte keine genaue Vorstellung von der Reise, aber ihre...




