Gysi | Unser Vater | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 155 Seiten

Gysi Unser Vater

Ein Gespräch

E-Book, Deutsch, 155 Seiten

ISBN: 978-3-8412-2597-9
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Über Privilegien und Prinzipien, Gott und andere Größen, deutsche Wahrheiten und jüdischen Witz – Gregor und Gabriele Gysi sprechen über ihren Vater Klaus Gysi Klaus Gysis Leben ist geprägt von den Extremen des 20. Jahrhunderts: 1912 als Berliner Arztsohn in bürgerliche Verhältnisse geboren, wird er in jungen Jahren zum überzeugten Kommunisten und muss während der Nazizeit wegen seiner Überzeugungen, aber auch als Jude um sein Leben fürchten. Er sieht die DDR als große Chance und wird zeitlebens an ihren politischen Widersprüchen leiden: als Mitbegründer des Aufbau Verlages und späterer Verlagsleiter, Kulturminister, als Botschafter in Italien und Staatssekretär für Kirchenfragen. Funktionär - und Feingeist. Genosse - und Lebemann.Vor allem aber auch: Vater. Seine Tochter, die Schauspielerin Gabriele Gysi, und sein Sohn, der Politiker Gregor Gysi, zeichnen ein vielschichtiges Bild ihres Vaters.
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I.
Man rennt nicht gleich weg, nur weil man klüger ist
G.G.: Du hoffst auf die sanfte Kraft der Verklärung. G.G.: Du siehst das natürlich nüchterner. Die Eltern verstehen die Kinder nicht, die Kinder die Eltern nicht, die Geschwister untereinander nicht, so hat es mir mal ein amerikanischer Botschafter gesagt, und nun kommen wir und wollen, dass sich die Völker verstehen. Dahinter steckt eine tiefe Weisheit: Man muss sich große Mühe geben, um ein Stück Verständigung zu erreichen. KLAUS GYSI »Freundlichkeit als Philosophie« Klaus Gysi, Sommer 1938 HANS-DIETER SCHÜTT: Gabriele Gysi, Sie haben Ihren Vater geliebt? GREGOR GYSI: Fragen Sie das etwa nur meine Schwester? Wollen Sie etwa Zwietracht säen? (Lacht.) GABRIELE GYSI: Unsere Unterschiede werden schon herauskommen. Die Liebe zu unseren Eltern jedenfalls teilen wir uneingeschränkt. (Lacht.) Ja, meinen Vater habe ich sehr geliebt. Mit Liebe ist ganz klar Bejahung, Einverständnis mit ihm gemeint. Mit allem, was er tat und wie er war. Was nicht Übereinstimmung bedeutet. HANS-DIETER SCHÜTT: Trotzdem. Das klingt gleich zu Beginn – polemisch. Betont schützend. Der Satz klingt nach dem Bedürfnis, Ihrem Vater gewissermaßen, und sei es im Nachruf, Mut zuzusprechen. GABRIELE GYSI: Fürs Beschützen gibt es gute Gründe. Meine Eltern haben sich natürlich gegen Ende ihres Lebens mit Schuld und Sühne beschäftigt … HANS-DIETER SCHÜTT: Glauben Sie denn, dass Ihr Vater sich – vom Ende des Staates her betrachtet – schuldig fühlte? GABRIELE GYSI: Es gibt einen schönen Satz von Thomas Pynchon: »Wer die Frage stellt, muss die Antwort nicht fürchten.« In den Fragestellungen kann ein ungeheurer Druck liegen. Diese Textvoraussetzungen muss ich – zum Beispiel auch auf der Bühne – immer bedenken. Genau wie im Leben. Denn alles, was ab 1989 über die DDR, über die Zukunft, über die Vergangenheit gesagt wurde – es wurde gesagt unter gewaltigem Druck. Von allen Seiten. Ein anderer Druck als vorher, gewiss, aber ebenfalls Druck, oft sogar Existenzdruck. Druck, ein Scheitern zu gestehen, um neue Verteilungskämpfe zu rechtfertigen. HANS-DIETER SCHÜTT: Betraf das auch Ihren Vater? GABRIELE GYSI: Die meisten Situationen erlauben im Grunde keine nachdenklichen Sätze. Und die Entwicklung heute geht leider dahin, dass Stereotypen immer stärker in all unsere Lebensbereiche eingreifen und jeden differenzierten Ausdruck verhindern. Nur eine bewusste Gegenwehr ermöglicht Selbstschutz. Da sind wir ja sofort bei diesem Druck, dem Existenz ausgesetzt ist. Jede Existenz. Leider ist es so, dass Leute, die selber nie etwas ausstehen mussten, heute vor allem gegen Kommunisten donnern: Reue, Reue, Reue! Das ist empörend. Aber noch einmal: Ich habe diesen Satz vom Einverständnis mit unserem Vater erst mal nicht polemisch gemeint, sondern ganz einfach – liebevoll. GREGOR GYSI: Gabriele spricht da auch für mich … Liebevoll, ja … Was nichts mit Verklärung oder etwa mit einer Art Akzeptanz zu tun hatte, die keine Fragen mehr stellt. GABRIELE GYSI: In unserer Familie gab es keine falsche Harmonie. GREGOR GYSI: Was bei uns zu Hause galt, war zum Beispiel eine sehr zivile Umgangsart, und vor allem erinnere ich mich an Großzügigkeit. HANS-DIETER SCHÜTT: Die familiären Linien führen ja weit zurück ins Bürgertum, auch in die Welt des Adels. GREGOR GYSI: Sie meinen, es ging bei uns vornehm zu? Ja. Und nee. Bestimmte Gepflogenheiten, die vielleicht mit einem bestimmten Stil zu tun hatten, die waren bei uns überhaupt kein Gegensatz zur Direktheit, in der man miteinander umging. Man schaute einander in die Augen, dann aber legte man los. GABRIELE GYSI: Zu unserer Familie gehörte und gehört generell, dass alle gern und viel reden. Der endlose Dialog ist ein Teil unserer Kultur. In dieser Weise haben unsere Vorfahren gesprochen … GREGOR GYSI: … mit Gott und untereinander. GABRIELE GYSI: Und das ist uns als Methode des Denkens geblieben. (Lacht.) Manchmal bewegte sich unser Vater in rhetorischen Schleifen wie ein Eiskunstläufer. GREGOR GYSI: Er zog diese Schleifen elegant – sie konnten dich auch einwickeln. HANS-DIETER SCHÜTT: Gabriele Gysi, ich möchte noch bei besagtem Einverständnis bleiben. GABRIELE GYSI: Ja, bitte. Erst dieses Einverständnis gab uns Kindern die Möglichkeit, uns wirklich auseinanderzusetzen mit Leben und Einfluss der Eltern. Ja, wir lebten offen miteinander. Wir gluckten nicht zusammen und hockten nicht umeinander, das ließen schon die Berufe unserer Eltern nicht zu. Aber wir interessierten uns füreinander. Das klingt profan, ich glaube jedoch sagen zu können, dass so etwas keine Selbstverständlichkeit war. Und schon gar nicht mehr ist. Wir leben ja in einer Zeit, da das bedeutungssüchtige Ich vor allem dazu verführt wird, mit Bindungslosigkeit anzugeben und sich selbst als eigene göttliche Schöpfung zu begreifen. Jeder ist heute seine eigene Spiegelglasfestung. Sicher wurde gestritten, aber es gab bestimmt keine filmreifen Szenen in diesem Haus hier. HANS-DIETER SCHÜTT: Was meinen Sie mit filmreif? GABRIELE GYSI: Tragödie. Drama. Schepperndes Geschirr vom Faustschlag auf den Tisch. Bis auf die Tatsache, dass wir uns als Kleinkinder auch prügelten, herrschten gewaltlose Umgangsformen. Es war belebend und bereichernd an den Tischen im Haus. GREGOR GYSI: Die übrigens immer auch Spieltische waren. Da gab es Bridge und das chinesische Spiel Mahjong. Später haben wir auch Skat gespielt. Unsere Mutter hatte aus dem Westen Monopoly mitgebracht. Wir spielten das leidenschaftlich gern und machten die Erfahrung, wie geldgierig man in diesem Kapitalismusspiel werden kann, lernten aber auch, dass man sich bei Käufen nicht übernehmen darf und dass es sehr langweilig wird, wenn man gewinnt – weil alle anderen pleite sind. Als Einziger ein Kapitalist zu sein – das lohnt und rentiert sich also nicht. Es gibt den Unterschied zwischen einem kapitalistischen Egoismus der Gier und einem planvollen unternehmerischen Egoismus, der seine soziale Verantwortung begreift: Kaufkräfte zu stärken, statt die Mitstreiter mehr und mehr in die Armut zu treiben. GABRIELE GYSI: Na, na, das ist jetzt aber eine Menge nachträglicher Interpretation. (Beide lachen.) HANS-DIETER SCHÜTT: Das Einverständnis mit dem Leben Ihres Vaters zu betonen, das lässt Assoziationen zu. Als seien Sie betont solidarisch und – da sind wir doch bei der Polemik – grenzten sich somit ab gegen andere Ansichten über Klaus Gysi. Sichten, die vielleicht keinesfalls von Einverständnis geleitet werden. GABRIELE GYSI: Er war politisch aktiv, und er lebte in einer Zeit, in der das Handeln ganz andere Konsequenzen hatte als heute. Oft ging es im wahrsten Sinne ums Überleben. Falls Sie das Leben dieser Menschen mit den heutigen Karrierevorstellungen begreifen wollen, wird Ihnen das nicht gelingen. GREGOR GYSI: Sie sprechen von anderen Ansichten über Klaus Gysi. Nach dem Ende der DDR wird alles nach der Entschiedenheit bewertet, mit der man sich vom versuchten Sozialismus distanziert. Ich weiß das zur Genüge, aus eigener Erfahrung. Aber ich will es überspitzt formulieren: Wir unterhalten uns hier ja nicht schlechthin über Klaus Gysi, sondern über unseren Vater. Wir blicken also auf keinen Fremden. Und es ist schön, wenn man beim Urteil über bestimmte Menschen, die in der eigenen Biografie eine große Rolle spielten, im besten Sinne des Wortes auch befangen bleibt. HANS-DIETER SCHÜTT: Das heißt? GREGOR GYSI: Dass man sich gegen Urteile wehrt, die mit ideologischen Kriegen und Nachkriegen zu tun haben. Denn natürlich muss man mitdenken, dass unser Vater Person einer speziellen Zeitgeschichte war: der kommunistischen Geschichte, der antifaschistischen Geschichte, der SED-Geschichte. Da gerät man, wenn es um die eigenen Eltern geht, auch selbst ein wenig ins Visier, und Ansichten über die Vergangenheit, über die DDR sind auch Auskünfte darüber, wie man selber über gegenwärtige politische Dinge denkt, über Macht, über Linkssein, über Utopien. HANS-DIETER SCHÜTT: Distanz bei der Betrachtung ist eine Tugend. GREGOR GYSI: Ja. Aber nicht immer und nicht überall. Klar, der Abstand zu den eigenen Eltern gehört ab einem bestimmten Punkt in der Jugend, wenn man erwachsen wird, zur Selbstfindung, aber zum Beispiel mit dem Systemwechsel 1989/90 ist das Verhältnis zu unseren Eltern in keine Zerreißprobe geraten. Es geriet zu keiner Zeit in Zerreißproben....


Gysi, Gregor

Gregor Gysi, geboren 1948, Rechtsanwalt und Politiker. Vertrat als Rechtsanwalt u. a. Robert Havemann, Rudolf Bahro und andere Regimekritiker. 1989–1993 Parteivorsitzender der PDS. 1990-2002 und 2005 - 2015 Fraktionsvorsitzender der PDS und der Partei die Linke. MdB ist er weiterhin. Von Dezember 2016 - Dezember 2019 Präsident der Partei der Europäischen Linken.  Zahlreiche Publikationen. Bei Aufbau erschienen zuletzt die Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“, "Unser Vater", "Marx & wir" und "Gysi vs. Sonneborn".

Gysi, Gabriele

Gabriele Gysi, geboren 1946, lebt als Schauspielerin und Regisseurin in Berlin. Nach dem Studium wurde sie an die Volksbühne Berlin unter der Intendanz von Benno Besson engagiert und spielte während dieser Zeit auch bei Frank Castorf in Anklam. 1984 verließ sie die DDR und ging als Schauspielerin zu Claus Peymann nach Bochum. Seit 1987 inszeniert sie an verschiedenen Theatern im deutschsprachigen Raum und ging 2006 zu Frank Castorf an die Volksbühne zurück, wo sie zuletzt als Chefdramaturgin tätig war. Heute arbeitet sie freischaffend an verschiedenen Theatern und unterrichtet an der Universität für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg.  


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