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E-Book, Deutsch, Band 2198, 130 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Haarmann Geschichte der Schrift

E-Book, Deutsch, Band 2198, 130 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-77328-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Schrift gehört zu den ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Die Herausforderung an die Gedächtnisleistung in Kulturen ohne Schrift wird mit der Entwicklung von Schrift abgelöt durch neue, revolutionäre Möglichkeiten, Wissen zu speichern und weiterzugeben. Aber wer entwickelt, wer nutzt diese neuen Möglichkeiten? Welche Funktion erfüllt die Schrift und wie verändert sie das Zusammenleben der Menschen? Ob Wortschreibung oder Lautschrift, Harald Haarmann schildert knapp und anschaulich, welche unterschiedlichen Schriftsysteme sich seit den ersten bildlichen Vorstufen vor 7000 Jahren entwickelt haben und wie unser Alphabet entstanden ist. Dabei bietet er einen faszinierenden Einblick in die Kulturgeschichte der Menschheit und das Leben in längst untergegangenen Hochkulturen.
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2. Wer hat wann, wo und warum mit dem Schreiben angefangen?

Wenn man davon ausgeht, dass der Schriftgebrauch die Möglichkeiten der Informationsspeicherung enorm erweitert hat und dass höhere Kulturentwicklung von der Verwendung dieser Informationstechnologie abhängig ist, stellt sich die Frage, wer wann von dieser Technologie erstmals profitiert hat.

Wer besaß zuerst Schrift und wer kontrollierte Wissen?

Die ökologischen Bedingungen der Schriftverwendung sind in den Zivilisationen der Antike grundlegend andere als in der Neuzeit. Wir sind heute daran gewöhnt, dass neue Informationstechnologien ihren eigentlichen Nutzen entfalten, indem sie einer breiten Bevölkerung zugänglich sind. Genau dieser Aspekt der Breitenwirkung war in der Antike unbekannt. Der Schriftgebrauch stand in keiner der alten Zivilisationen im Dienst einer Verbesserung des Informationsflusses oder einer Anhebung des Bildungsstandes bei breiten Bevölkerungsschichten.
In allen archaischen Zivilisationen hatte der Schriftgebrauch elitäre Züge, denn die Schrift wurde von Spezialisten für spezielle Zwecke verwendet. Die traditionelle Schriftforschung weiß davon zu berichten, dass der Schriftgebrauch im Dienst staatlicher Institutionen stand, denn nach herkömmlicher Auffassung war die Entstehung der alten Zivilisationen ursächlich an den Aufstieg machtpolitischer Zentren und damit an eine frühe staatliche Ordnung lokaler Gesellschaften gebunden. Diese Verhältnisse treffen in der Tat auf die Entwicklung im Alten Orient zu.
Heute gilt aber die Annahme als überholt, dass das mesopotamische Zivilisationsmodell mit seiner frühen Staatsbildung gleichsam der Prototyp für alle Experimente mit zivilisatorischen Institutionen – und dementsprechend auch mit der Schrift – in der Alten Welt gewesen sei. Aufgrund einer Neubewertung archäologischer und kulturhistorischer Daten weiß man, dass es frühe Gesellschaften mit Schriftgebrauch gegeben hat, die noch keine staatliche Ordnung kannten, dass diese also im Formationsprozess früher Zivilisationen nicht die entscheidende Rolle spielte, die man ihr lange Zeit beigemessen hat.
In Südosteuropa, an den Stätten der alten Donauzivilisation, haben die Archäologen keine Spuren gefunden, die auf die Existenz eines Staatsgebildes oder auf eine hierarchische Sozialordnung deuten würden. Wohl aber gab es entlang der Donau und ihrer Nebenflüsse Einrichtungen, die auch aus anderen Regionen mit frühen Zivilisationen bekannt sind: Großsiedlungen von städtischen Ausmaßen, Ackerbau und Vorratswirtschaft, ein reich verzweigtes Netzwerk spezialisierter Handwerksberufe, Metallverarbeitung und ein differenziertes Repertoire von Kultursymbolen.
Die Zivilisation, die sich im Verlauf des 6. Jahrtausends v. Chr. in Südosteuropa herausbildete, wurde von einer Gemeinschaft getragen, in der der soziale Status der Männer wie der Frauen nicht hierarchisch, sondern egalitär organisiert war (egalitarian commonwealth). Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, in der keine soziale Elite tonangebend war, sondern wo Menschen mit aufeinander abgestimmten Interessen den Aufbau eines agrarischen Gemeinwesens mit urbanen Großsiedlungen vorantrieben, das in seiner Entwicklung eine Vorreiterrolle spielte. Und diese Gesellschaft kannte auch eine der zentralen Institutionen, ohne die keine Hochkultur der Welt funktioniert: Schrift.
In anderen Regionen der Welt gab es damals noch nichts Vergleichbares. In Mesopotamien sollte es noch bis ins 5. Jahrtausend v. Chr. dauern, bis die ersten städtischen Agglomerationen entstanden (Samarra), und die sumerischen Stadtstaaten blühten erst im 4. Jahrtausend v. Chr. auf. Weshalb waren gerade in Südosteuropa die Bedingungen für die Entstehung von Zivilisation günstiger als anderswo, warum ging also das «Licht der Zivilisation» zuerst im Westen auf («ex occidente lux»)?
Jede der Zivilisationen der Alten Welt hat ihre eigene Entwicklungsdynamik, die von vielerlei Faktoren abhängt. Allerdings gibt es besondere Umstände, die es plausibel machen, warum gerade in Südosteuropa früher als anderswo mit zivilisatorischen Institutionen experimentiert wurde. Offensichtlich hat ein zufälliges Ereignis, das von Geologen um 6700 v. Chr. angesetzt wird, die Region am westlichen Schwarzen Meer entscheidend verändert: Als Folge der Erwärmung nach der letzten Eiszeit füllten sich die Weltmeere mit dem Schmelzwasser der enormen Eismassen, die sich in vielen Jahrtausenden aufgetürmt hatten. Auch im östlichen Mittelmeer stieg der Wasserspiegel an. Damals existierte noch eine Landbrücke zwischen dem Mittelmeer und dem späteren Schwarzen Meer, das als Binnensee isoliert war. Eine Klimaschwankung brachte eine zeitweilige Erwärmung, und der Wasserpegel im Gebiet der Dardanellen stieg auf Höchstmarken. Dann brach der Riegel, möglicherweise ausgelöst durch ein Erdbeben. Gigantische Massen von Wasser und Schlamm ergossen sich in den ehemaligen Binnensee. Da der Niveauunterschied über siebzig Meter betrug, donnerten die Wassermassen jahrelang durch die Enge und überfluteten weite Teile der angrenzenden südrussischen Ebene. Rings um das Schwarze Meer, auch im nordwestlichen und nördlichen Küstengebiet, gab es zur Zeit dieser Naturkatastrophe neolithische Siedlungen früher Ackerbauern, die nun aufgegeben werden mussten. Die Fluchtbewegung ging hauptsächlich in Richtung Südosteuropa, ins Donautal. In der materiellen Hinterlassenschaft jener Region zeichnete sich ein drastischer Wandel ab.
Etwa um 6500 v. Chr., also bald nach der Flutkatastrophe, entstanden viele neue Siedlungen, außerdem wurde das Gelände alter Siedlungsplätze erweitert. Ganz offensichtlich gingen die Menschen aus der Schwarzmeerregion mit beachtlicher Dynamik daran, neue Wohnsitze anzulegen und die Infrastruktur der agrarischen Lebensweise wiederherzustellen. Aus diesem kollektiven Aufschwung entstand einige Jahrhunderte später die älteste Zivilisation der Welt an der Wasserstraße, die mit ihrem Verkehrsnetz ganz Südosteuropa durchzieht.
Auffallend an den Institutionen dieser frühen Zivilisation, die Donauzivilisation oder alteuropäische Zivilisation genannt wird, ist die vielgestaltige religiöse Symbolik. Sie wurde aus dem Inventar alter Kultplätze mit ihren Opferaltären und Kultgegenständen, aus Votivbeigaben in Gräberfeldern und anhand zahlreicher Skulpturen rekonstruiert, die bei den Ausgrabungen ans Licht kamen. Viele der Skulpturen und Kultgegenstände sind mit allerlei geometrischen Mustern verziert. Eine eigene Gruppe von Gegenständen sind solche mit Sequenzen eingeritzter Zeichen, die aufgrund ihres asymmetrischen Charakters unschwer als Inschriften erkennbar sind und nicht mit Ornamenten verwechselt werden können.

Religiöse Funktionen des Schriftgebrauchs in Alteuropa und Altchina

Beschriftete Objekte sind an alteuropäischen Ausgrabungsstätten bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts gefunden worden. Aber die Fixierung der damaligen Forscher auf die Exklusivität der mesopotamischen Schrifttradition mit ihrem hohen Alter und das Fehlen einer zuverlässigen Chronologie standen einer Identifizierung der frühen Schriftfunde auf europäischem Boden im Wege. Inzwischen ist das hohe Alter des Schriftgebrauchs in Südosteuropa in mehreren Studien unabhängig voneinander bestätigt worden. Die Verwendung der Schrift setzt dort um 5500 v. Chr. ein. Zu den ältesten längeren Zeichensequenzen gehören die auf den Tontafeln von Tartaria in Transsylvanien (Rumänien), deren absolutes Alter auf ca. 5300 v. Chr. angesetzt wird.
Es hat nicht an phantastischen Versuchen gefehlt, das kulturelle Umfeld der Schrifttafeln von Tartaria zu ergründen. Das Phänomen Schrift hat so manchen Forscher verleitet, nach Assoziationen mit dem Alten Orient zu suchen. In den 1960er- und 1970er-Jahren bemühte man sich, die Tafeln von Tartaria in eine direkte Beziehung zu den Sumerern zu stellen. Man vermutete in Transsylvanien die Existenz einer sumerischen Kolonie (!), und man stellte sich die Anwesenheit sumerischer Kulturheroen (Schriftexport) und von Prospektoren vor, die die nahen Kupfervorkommen ausbeuteten.
Eine weitere Diskussion über die mesopotamische These erübrigt sich angesichts des inzwischen bekannten Zeitgefälles zwischen der älteren Kultur Alteuropas und der jüngeren Kultur Sumers. Vielmehr wird bereits die Frage gestellt, ob nicht die alteuropäische Schrifttradition ihrerseits der sumerischen Impulse vermittelt haben könnte. Ob es für solche Impulse den konkreten Hintergrund einer alten west-östlichen Kulturdrift gibt, wird derzeit diskutiert.
Die Schrifttafeln von Tartaria reihen sich ein in die Sammlung...


Harald Haarmann gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern und ist Mitglied des Forschungsteams des "Research Centre on Multilingualism" (Brüssel).


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