Haumann | Die Russische Revolution 1917 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 218 Seiten

Haumann Die Russische Revolution 1917

E-Book, Deutsch, 218 Seiten

ISBN: 978-3-8463-4530-6
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Russische Revolution hat die Welt verändert. Das Studienbuch wählt einen neuen Blick auf die Ereignisse. Im Mittelpunkt stehen die Menschen und ihre Lebenswelten. Aus der Sicht von Akteuren, ihren Wahrnehmungen, Erfahrungen und Verhaltensweisen in den beiden Metropolen Petrograd und Moskau, in kleineren Städten und in Dörfern, im Zentrum und an der Peripherie des Reiches verfolgen die Autorinnen und Autoren den revolutionären Prozess: die Voraussetzungen der Revolution, den Verlauf des Jahres 1917, die Hoffnungen und Enttäuschungen, die mit der Revolution verbunden waren, das Leid, das sie über viele Menschen brachte, ihre Resonanz in der Welt ebenso wie die Ziele der Revolutionäre und die langfristigen Utopien, schließlich das Schicksal der Revolution in den folgenden Jahrzehnten. Gefragt wird auch danach, was von der Russischen Revolution bleibt, wie sie erinnert wird.
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Zielgruppe


Europäische Geschichte; Europäische Länder; Marxismus, Kommunismus; Mentalitäts- und Sozialgeschichte; Politische Geschichte; Russische Revolution


Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Einleitung

Lebenswelten im Zarenreich

Ursachen der Revolution von 1917

Alternative Entwürfe zu einer Umwälzung

der russischen Gesellschaft

Die Revolutionäre im Exil

Prägungen einer Generation

Das Jahr 1917 in den Metropolen und in den Dörfern

Die Revolution an der Peripherie

Die Resonanz der Revolution in globaler Perspektive

Das Schicksal der Revolution

Sozialismus, Gegenrevolution und der Weg in den Stalinismus

Veränderungen von Lebenswelten Ideale, Hoffnungen, Enttäuschungen

Utopien der Revolution

Von der Erschaffung des Neuen Menschen zur Eroberung des Weltraums

Erinnerung an 1917 Sichtweisen der Russischen Revolution

Zeittafel

Glossar

Literaturhinweise


Lebenswelten im Zarenreich
Ursachen der Revolution von 1917
Heiko Haumann
„Mein Vater, das stimmt, war wirklich ein Bauer, und ich hier in weißer Weste, gelben Schuhen. […] Nur dass ich reich bin, viel Geld habe, aber wenn man sich’s genau überlegt, dann bleibt der Bauer eben Bauer“, sagt der Kaufmann Ermolaj A. Lopachin in Anton P. Cechovs 1903 geschriebener Komödie „Der Kirschgarten“.1 Er ist so reich geworden, dass er das Gut samt Garten kaufen kann, auf dem sein Großvater und sein Vater noch Leibeigene waren, „wo man sie nicht mal in die Küche gelassen hat“ und er selbst als halber Analphabet im Winter barfuß herumlaufen musste. Die Herrschaftsverhältnisse haben sich umgekehrt. Zweihundert Jahre lang hatten die adligen Gutsbesitzer über „lebende Seelen“ geherrscht und auf deren Kosten gelebt – eine Anspielung auf Nikolaj V. Gogol’s berühmten Roman „Tote Seelen“ von 1842, der als Kritik am Leibeigenschaftssystem gelesen werden konnte. Manche Leibeigene, wie der Diener Firs, haben die frühere Ordnung derart verinnerlicht, dass sie die 1861 erfolgte Befreiung als „Unglück“ empfinden. Jetzt aber kann der „Garten Russland“ neu bewirtschaftet werden, „neues Leben“ geschaffen werden. Lopachin, der aus der Leibeigenschaft aufgestiegene Unternehmer, steht nicht zufällig im Mittelpunkt dieses Theaterstückes. Bedeutende Industrielle zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten sich in ihm wiedererkennen. Traditionell übten Bauern auf dem Land Nebengewerbe aus. Die dörfliche kustar’-Industrie umfasste kleine Handwerksbetriebe ebenso wie große Gerbereien, Leinenwebereien oder Schnapsbrennereien. Einigen Bauern, häufig Altgläubigen, gelang es namentlich in der Moskauer Region, riesige Textil- und Nahrungsmittelfabriken zu errichten. Zusammen mit einer Anzahl Adliger und Kaufleute bildeten sie den Typus des „Moskauer Unternehmers“: Dieser betonte das „echt Russische“, lehnte ausländische Elemente und auch Auslandskapital [<<17] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe  ab und strebte eine Eigenfinanzierung seiner Firma an. Er fühlte sich durchaus als „Herr“. Maksim Gor’kij lässt in seinem Cechov gewidmeten Roman von 1899, „Foma Gordeev“, den Kaufmann Majakin auf den „Adel, die Beamten und allerhand andre, die nicht zu uns gehören“, herabsehen, obwohl sie noch „kommandieren“. „Wer ist aber heutzutage der eigentlich Mächtige unter den Menschen? Der Kaufmann ist im Staate der Mächtigste, denn er hat die Millionen!“2 Kulturell orientierten sich diese Unternehmer häufig am adligen Lebensstil. Die „Moskauer“ kritisierten die staatliche Industrialisierungsstrategie, weil diese die Produktionsmittelindustrie begünstigte. Nach der Jahrhundertwende führte dies manchen „Moskauer“ folgerichtig in eine gemäßigte Opposition zur Regierung, nach der Revolution von 1905 dann in Parteien, die Änderungen des Wirtschaftskurses verlangten. Darüber hinaus förderten sie Wohlfahrtseinrichtungen oder als Mäzene die Künste. Mit prachtvollen Bauten prägten sie das moderne Stadtbild. Ihre Verbindung von geschäftlichem und gesellschaftlichem Engagement brachte sie dazu, nach der Februarrevolution von 1917 die Provisorische Regierung zu unterstützen, teilweise sogar als Minister. Einen anderen Typus bildete der „Petersburger Unternehmer“. Dieser stammte in der Regel nicht aus der Bauernschaft, sondern hatte als Staatsbeamter, Ingenieur oder Techniker seine Berufslaufbahn begonnen. Charakteristisch war eine Tätigkeit als „Manager“ oder leitender Angestellter in Aktiengesellschaften und Banken. Er befürwortete eine Fremdfinanzierung der Riesenbetriebe in den Bereichen des Brenn- und Rohstoffwesens, der Metallindustrie und dabei vor allem der Rüstungsindustrie durch Auslandskapital und Staatsaufträge. Entsprechend eng sah seine Verflechtung mit dem Staatsapparat aus, zumal ihn die staatliche Politik begünstigte. Selbstverständlich traten diese Unternehmertypen nicht nur in den beiden Metropolen des Zarenreiches auf, und selbstverständlich gab es auch andere Formen des Unternehmertums in Russland. Sie verdeutlichen aber besonders gut die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs, die Vielfalt der Verhaltensweisen und Lebensformen sowie die Zusammenhänge von wirtschaftlicher Aktivität und politischer Orientierung. Obwohl die Unternehmer zahlenmäßig nur eine kleine Schicht darstellten, stieg ihr Einfluss stetig. Zahlreiche Bauern verließen ihre Dörfer, um in ländlichen oder städtischen Industriezentren als Arbeiter ein besseres Leben zu suchen. Der überwiegende Teil der [<<18] Industriearbeiterschaft kam vom Land. Dieser Zuzug in die Stadt war an sich gar nicht so einfach. Die „Bauernbefreiung“ von 1861 hatte zwar die persönliche Freiheit aus der Leibeigenschaft gebracht, nicht aber die Freizügigkeit. Die Dorfgemeinde, die obšcina , musste die Erlaubnis geben, wenn jemand wegziehen wollte. Auf diese Weise sollte die Steuerkraft des Dorfes, für die die obšcina solidarisch haftete, erhalten bleiben. Ebenso wurde beabsichtigt, eine Verarmung der Stadtbevölkerung durch eine Massenzuwanderung von Arbeitskräften, die weder hätten beschäftigt noch angemessen untergebracht werden können, zu verhindern. Doch die seit den 1880er-Jahren rasch anwachsende Industrie verstärkte die Hoffnungen auf ein höheres Einkommen außerhalb der Landwirtschaft und damit auch die Bereitschaft der Dorfgemeinden, etliche Bewohner gehen zu lassen: Meistens behielten diese „Bauern-Arbeiter“ ihren Landanteil und damit das Recht, jederzeit – zu Saisonarbeiten oder zur eigenen Sicherheit in Notfällen – wieder zurückkehren zu können. Dafür zahlten sie ihre Steuern weiter und schickten auch, wenn möglich, zusätzlich Geld, so dass sich insgesamt die finanzielle Situation im Dorf verbessern konnte. Die Bewirtschaftung des Landes übernahmen Angehörige. Die Erwartungen, in den Städten ein schöneres Leben als in den Dörfern zu finden, erfüllten sich allerdings häufig nicht. Lange Arbeitszeiten von zwölf Stunden, die bis 1913 allmählich auf zehn Stunden sanken, oft schwierige Arbeitsbedingungen und eine strenge Arbeitsdisziplin, deren Verletzung hohe Strafen nach sich zog, wurden im Durchschnitt mit einem verhältnismäßig niedrigen Lohn entgolten. Die Lebenshaltungskosten lagen hingegen sehr hoch. Besonders erbärmlich waren die Wohnverhältnisse. Vielfach wurden Männer und Frauen in Baracken oder riesige Schlafsäle gepfercht. Daneben gab es zahlreiche „Schlafgänger“, die lediglich ein Anrecht auf eine Schlafstelle besaßen und diese sich noch mit einem zweiten Mieter teilen mussten, der ihren Platz einnahm, während sie arbeiteten. In den Slums herrschten katastrophale hygienische Zustände, verbreiteten sich Alkoholismus, Prostitution und Kriminalität. Allein in St. Petersburg fielen 1908 14.000 Menschen einer Choleraepidemie zum Opfer. Abb 1   Dieser Arbeiterschlafsaal mit hölzernen Pritschen in der Moskauer Textilfabrik „Trechgornaja“ galt seinerzeit als modern, weil er hell, luftig und gut beleuchtet war. Fotografen: Édouard und Auguste de Jongh, um 1898. [Bildnachweis] Wie in anderen Ländern versuchten auch in Russland die Arbeiterinnen und Arbeiter, wenigstens etwas an „Eigen-Sinn“ unter den drückenden Verhältnissen zu retten. Unternehmer klagten immer wieder über Bummelei und „Schwänzen“, über Krankmeldungen und raschen Arbeitsplatzwechsel. Die größte Hilfe, in den Betrieben und städtischen Lebensbedingungen zurechtzukommen, stellten genossenschaftliche Organisationen dar: die arteli, in denen sich „Bauern-Arbeiter“ zusammenschlossen, sowie Landsmannschaften. Diese vermittelten den Zuwandernden – überwiegend waren es junge Männer – eine Arbeitsstelle und eine Wohnung, handelten oft den Lohn aus, standen bei auftretenden Alltagsproblemen zur Seite und zeigten sich bei Arbeitskämpfen [<<19] solidarisch. Darüber hinaus gelangten über die Landsleute Nachrichten von der Stadt ins Dorf und umgekehrt. Ein Informations- und Kommunikationsnetz entstand, das seinesgleichen suchte und in den späteren Revolutionen eine wichtige Rolle spielte. So wie die „Bauern-Unternehmer“ in gewissen Verhaltensweisen Bauern blieben – Fedor M. Dostoevskij nannte den Kaufmann einmal einen „verdorbenen Bauern“3 –, so streiften „Bauern-Arbeiter“ nicht ohne weiteres bäuerliche Gepflogenheiten ab. Heiratstermine richteten sich oft immer noch nach kirchlichen Traditionen oder nach [<<20] landwirtschaftlichen Erfordernissen: Während der Fasten-, der Aussaat- und der Erntezeit wurde auch in der Stadt selten geheiratet. Eine ganze Reihe von Arbeiterfamilien hielt sich Hühner, Schweine oder Schafe – mit unvorstellbaren Folgen für die Hygiene unter den beengten städtischen Wohnverhältnissen. Das Rollenverständnis von Mann und Frau spiegelte häufig das patriarchalische bäuerliche Muster. In Ess- und Trinksitten, in Begriffen von...


Haumann, Heiko
Prof. Dr. Heiko Haumann ist emeritierterUniversitätsprofessor an der Universität Basel.

Prof. Dr. Heiko Haumann ist ein deutscher Historiker und emeritierter Hochschullehrer. Heiko Haumann studierte Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Pädagogik an den Universitäten Marburg und Frankfurt am Main. Von 1991 bis 2010 war er Professor für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Basel.


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