Heiden / Feuchert / Roth | Eine Nacht im November 1938 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Heiden / Feuchert / Roth Eine Nacht im November 1938

Ein zeitgenössischer Bericht

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-8353-2465-7
Verlag: Wallstein
Format: PDF
Kopierschutz: Kein



Die Geschichte der Reichspogromnacht wurde bereits wenige Wochen nach dem 9. November 1938 von dem Journalisten Konrad Heiden akribisch aufgezeichnet. Heiden hatte den Aufstieg des Nationalsozialismus seit seinen Anfängen in München beobachtet und in mehreren Büchern beschrieben. In Paris erreichten den Exilanten die ersten Augenzeugenberichte von den Ereignissen in Deutschland. Er erkannte sofort die Bedeutung der Eskalation der Gewalt und verfasste den zeitgenössischen Bericht »Eine Nacht im November 1938«, der 1939 in England unter dem Titel »The New Inquisition« erschien.Sein Text, der nun nach 75 Jahren erstmals auf Deutsch publiziert wird, ist einer der frühesten Versuche einer einordnenden Gesamtdarstellung des »Zivilisationsbruchs« Reichspogromnacht. Scharfsinnig beschreibt Heiden mit bisweilen bissiger Ironie die Rassenideologie der Nationalsozialisten. Mit Hilfe zahlreicher Berichte von jüdischen Augenzeugen und gestützt auf Zeitungsartikel der NS-Propaganda und der freien Welt schildert er die Vorgeschichte und die mörderischen Ereignisse jener Nacht, die schon für die Zeitgenossen einen entscheidenden Wendepunkt in der Verfolgung der Juden darstellten.
Heiden / Feuchert / Roth Eine Nacht im November 1938 jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Grynszpan
Die Fäulniserscheinung hat geschossen. Ein siebzehnjähriges Bürschlein; in Deutschland aufgewachsen, doch polnischer Nationalität; nach Frankreich geflüchtet; dort, gleich Tausenden von Leidensgefährten, ausgewiesen; von einer alten Tante und ihrem Mann in einer Dachkammer versteckt gehalten; angstvoll bewacht, damit er nicht von den »Flics«19 entdeckt werde; an Geld knapp gehalten, damit er nicht durchbrenne – dieses siebzehnjährige, ratlose Menschenwesen hat geschossen. Es hat einen Brief von seinem Vater bekommen, der dreissig Jahre lang ruhig und bescheiden als Kaufmann in Hannover gelebt hatte, dann plötzlich von der Strasse weggefangen, nach Polen transportiert und dort zwischen den Grenzen hinter Stacheldraht interniert wurde. Zehntausenden ist es so gegangen. Sie haben still dahingelebt in Deutschland; dem Lande, in dem die meisten von ihnen seit Jahrzehnten wohnten, in dem Viele von ihnen geboren sind, dessen Sprache die Jüngeren als ihre Muttersprache sprechen, für das ein Teil der Aelteren im Felde geblutet hat. Das dritte Reich brach an; sie lebten weiter in diesem Lande, weil sie nicht wussten, wohin sich sonst wenden; sie lebten weiter, geduckt, scheu, von den Behörden gequält, von der herrschenden Partei verfolgt und bespieen, von der übrigen Bevölkerung meist geduldet, bemitleidet, nicht selten mit ihr befreundet. Nun mussten sie binnen acht Stunden weg. Ihre Kinder wurden aus den Schulen geholt und auf die Eisenbahn geführt, wo die Eltern bereits in überfüllten Zügen sassen. Dann rollten sie nach Osten, dem unbekannten »Vaterlande« Polen zu, das sie oft gar nicht kannten und das sich nun weigerte, sie aufzunehmen. So blieben die meisten im Niemandsland zwischen den Grenzen hocken, in Baracken von Militärposten bewacht, von ihren im Land ansässigen Glaubensgenossen, meist selbst bitterarmen Menschen, gefüttert und mit Bettdecken versehen. Auch Herschel Grynszpans Vater war unter ihnen.20 Herschel Grynszpan, der Siebzehnjährige, der aus Deutschland Geflohene, der von der französischen Polizei Ausgewiesene, der Pole, der Polen nie gesehen, der Ausgestossene dreier Nationen, liest es in Paris. Er liest es in den Zeitungen, er liest es in den Briefen seines Vaters. Das also ist das Los der Juden: Ausweisung, Flucht, Abschub auf der Eisenbahn, Einkerkerung hinter Stacheldraht. Das heisst Jude sein. Wenn man Glück hat, bleibt es einem eine Zeitlang erspart; aber einmal kommt es. Man muss es sich gefallen lassen, sich ducken, schweigen. Die andern haben die eisenbeschlagenen Stiefel und die Knute, wir haben den Rücken. Duck dich und bete still, dass du erst möglichst spät getreten wirst. Muss das so sein? Gibt es kein Recht? Auch Herschel Grynszpan hat die heisere Stimme gehört; am Lautsprecher, versteht sich. Vielleicht hat er das Buch21 gelesen, das der Mann mit der heiseren Stimme geschrieben hat. Sicher kennt er den einen oder andern der Ratschläge, die dieser seinen Anhängern gab: »Was der Güte verweigert wird, hat die Faust sich zu nehmen«22, »in der ewig gleichmässigen Anwendung der Gewalt allein liegt die allererste Voraussetzung zum Erfolge«23; »der Erfolg ist der einzige irdische Richter über Recht oder Unrecht«24; »Terror ist nur durch Terror zu brechen«25 usw. Wenn Herschel Grynszpan belesen genug ist, kann er darauf verweisen, dass die genannten Sprüche auf den Seiten 152, 188, 377 und 550 des Buches »Mein Kampf« stehen.26 Das ist die Weisheit, die heute die Welt beherrscht. Solchen Ratschlägen folge, dann bringst Du es weit! Haben sie nicht auf diese Weise Deutschland erobert? Liegt ihnen nicht schon fast die Welt zu Füssen? Jawohl, sie liegt ihnen, den Anhängern des Mannes, der diese Ratschläge gab, zu Füssen. Gross, mächtig und bewundert sind sie, nachdem sie … obwohl sie … aber nein – weil sie:27 den deutschen Minister Erzberger ermordet haben;28 den deutschen Minister Rathenau ermordet haben;29 den General von Schleicher ermordet haben;30 die Frau des Generals von Schleicher ermordet haben;31 den konservativen Schriftsteller Dr. Edgar Jung ermordet haben;32 den General von Bredow ermordet haben;33 den ehemaligen Ministerpräsidenten von Kahr ermordet haben;34 die Katholikenführer Klausener35 und Probst ermordet haben;36 ihre eigenen Kameraden Ernst Röhm37 und Gregor Strasser38 ermordet haben; den österreichischen Bundeskanzler Dr. Dollfuss ermordet haben;39 und noch unzählige andere ermordet haben, deren Namen die Welt schon lange wieder vergessen hat. Den Mördern des Ministers Rathenau, Fischer und Kern40, wurde im nationalsozialistischen Deutschland ein Denkmal gesetzt; ein Reichsminister hielt die Gedenkrede. Den Mördern des Bundeskanzlers Dollfuss, Holzweber und Planetta41, wurden im nationalsozialistischen Oesterreich Denkmäler gesetzt, und Strassen wurden nach ihnen genannt; ein Reichsminister hielt die Gedenkrede.42 Herschel Grynszpan ist zu jung; darum erinnert er sich wohl kaum der tierischen Mordtat im Dorfe Potempa in Oberschlesien, wo fünf Nationalsozialisten im Jahre 1932 einen polnischen Arbeiter zu Tode trampelten und dann von ihrem Führer ein Telegramm erhielten, das mit den Worten begann: »Meine Kameraden …«43 Als die Kameraden vor fast zwanzig Jahren ihr Werk begannen, lachte man entweder über sie oder kannte sie gar nicht. Heute fürchtet die Welt sie und bettelt um ihre Freundschaft. Es scheint, dass mit den wachsenden Leichenhaufen auch der Respekt wuchs. Der siebzehnjährige Jude Herschel Grynszpan hat jedenfalls in dieser Schule lernen können. Er begeht das, was man eine Wahnsinnstat zu nennen pflegt und was, bei allem Verständnis für die Psyche eines erschütterten Siebzehnjährigen, eine tief verurteilenswerte Tat bleibt. Er schiesst den ersten beliebigen Nationalsozialisten nieder, der ihm in den Weg kommt. Das Opfer ist der dreissigjährige Botschaftssekretär an der deutschen Botschaft zu Paris, Ernst vom Rath. Grynszpan hat sich heimlich von zu Hause weggestohlen, Onkel und Tante in einem hinterlassenen Brief mit mysteriösen Worten irregeführt, in einem Waffenladen44 einen billigen Revolver gekauft, ist dann auf die deutsche Botschaft gegangen und hat dort den ersten besten Beamten niedergeschossen, zu dem er vorgelassen wurde. Alle Umstände sprechen eine einheitliche deutliche Sprache. Es ist die Tat eines fassungslosen Siebzehnjährigen, eines verirrten Kindes dieser Zeit, in der der Mord regiert und Mördern Denkmäler gesetzt werden. Der junge Mensch vermochte nicht mehr zu unterscheiden, was Recht und Unrecht war. Es wurde so viel geschossen in der Welt. Immer wieder wurden die Schiessenden als Helden gefeiert und hatten das Vaterland gerettet. Also glaubte er, im Recht zu sein, wenn auch er schoss; denn »der Erfolg ist der einzige irdische Richter über Recht und Unrecht.« So beging er seine unselige Tat. So schoss er. Eine Viertelstunde später war er in den Händen der Pariser Polizei und wurde tagelang verhört. Seine Verwandten wurden festgenommen und verhört, die Umstände und die Vorbereitung der Tat wurden bis ins einzelne erforscht. Die Pariser Polizei informierte die Oeffentlichkeit genau. Es gab keinen Zweifel darüber: die Tat Grynszpans war die Tat eines einzelnen, verirrten, kaum für sich selbst verantwortlichen Jugendlichen. Niemand ausser ihm hatte von ihr gewusst, niemand ihm geholfen. Seine Verwandten wurden einige Wochen in Haft behalten, weil sie dem Ausgewiesenen verbotenerweise Obdach gewährt hatten; sie wurden dann wegen Uebertretung der Beherbergungsvorschriften für Fremde zu drei und sechs Monaten Gefängnis verurteilt,45 aber eines Komplottes wurden sie keinen Augenblick lang verdächtigt und darum wurden sie wieder auf freien Fuss gesetzt. Ein Richter verhörte sie öffentlich, und die Verhandlung bewies: von einem Komplott nicht die leiseste Spur. Aber die jungen Leute von der S.S. wissen Bescheid. Ein Jude hat geschossen. Der Jude hat geschossen. Die Juden haben geschossen. Die Fäulniserscheinung hat geschossen. Vor fünfzehn Jahren brachte das Weltjudentum den Führer schon einmal zu Fall. Nun richtet es wieder die Revolverläufe auf die Bewegung und ihre Häupter. Die Pariser Polizei weiss es zwar anders. Aber Goebbels, unser Doktor, weiss es besser. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda stellt öffentlich fest: »Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass er (Grynszpan) von einer jüdischen Organisation versteckt und auf diese zynische Mordtat systematisch vorbereitet worden ist.«46 So weit ist es also mit den Juden...


Heiden, Konrad
Konrad Heiden (1901 -1966) war Journalist in München, wo er seit den frühen zwanziger Jahren den Aufstieg Hitlers und der NSDAP kritisch beobachtete. 1933 floh Heiden ins Exil. Er lebte lange in Frankreich, bevor er sich 1940 in die USA retten konnte. Heiden hat mehrere Bücher über den Nationalsozialismus und das »Dritte Reich« veröffentlicht, bekannt wurde er vor allem durch seine erfolgreiche Hitler-Biographie 1936/37.

Roth, Markus
Markus Roth, geb. 1972, ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main.
Veröffentlichungen u. a.:
Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht (Mithg., 2013); Andrea Löw und Markus Roth: Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939 -1945 (2011).

Weber, Christiane
Christiane Weber, geb. 1984, ist Literaturwissenschaftlerin und Historikerin.

Feuchert, Sascha
Sascha Feuchert ist Professor für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Didaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er leitet dort die Arbeitsstelle Holocaustliteratur.

Sascha Feuchert, geb. 1971, ist Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Honorarprofessor für »German Literature« an der Eastern Michigan University, Michigan (USA). Er leitet das Literarische Zentrum in Gießen und ist Vizepräsident des deutschen P.E.N.

Konrad Heiden (1901 -1966) war Journalist in München, wo er seit den frühen zwanziger Jahren den Aufstieg Hitlers und der NSDAP kritisch beobachtete. 1933 floh Heiden ins Exil. Er lebte lange in Frankreich, bevor er sich 1940 in die USA retten konnte. Heiden hat mehrere Bücher über den Nationalsozialismus und das »Dritte Reich« veröffentlicht, bekannt wurde er vor allem durch seine erfolgreiche Hitler-Biographie 1936/37.

Markus Roth, geb. 1972, studierte Germanistik, Westslawische Philologie sowie Neuere und Neueste Geschichte in Münster. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen und stellvertretender Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur. Veröffentlichung u.a.: Theater nach Auschwitz. George Taboris »Die Kannibalen« im Kontext der Holocaust-Debatten (2003).

Christiane Weber, geb. 1984, ist Literaturwissenschaftlerin und Historikerin.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.