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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 180 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

Reihe: Kurzstrecke

Heuchert Kleiner Glanz


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-946086-63-5
Verlag: Verlag duotincta GbR
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, Band 1, 180 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

Reihe: Kurzstrecke

ISBN: 978-3-946086-63-5
Verlag: Verlag duotincta GbR
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



'Er sitzt auf der Hollywoodschaukel, die sich nicht bewegt, die stillsteht. Ich spüre das kurz geschnittene Gras unter meinen nackten Füßen. Er lächelt, als ich mich neben ihn setze. Der Plastiküberzug der Kissen drückt sich kalt gegen meinen Rücken. Ich atme den Rauch seiner Zigarette ein. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Die Glühbirne gibt ein leises Summen von sich, und irgendwo draußen in der Dunkelheit bellt ein Hund.' Ein Trinker, der ziellos durch die Nacht fährt, auf der Flucht vor der Vergangenheit und dem ersten Schluck. Ein Rentner, der sein Dasein in einem Billardsalon fristet, um dort ein Spiel nach dem anderen zu verlieren. Ein junges Mädchen, das sich auf der Suche nach Liebe und Zuneigung in einer düsteren Sackgasse verirrt. Sven Heuchert erzählt verknappt und prägnant. Schlaglichter, minimalistische Charakterstudien, einfühlsame Porträts, die sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Geschichten über Niederlagen, die niemand sieht, und über den Stolz, einfach weiterzumachen.

Sven Heuchert, geboren 1977 in der rheinländischen Provinz. 1994 dann Lehre, seitdem in Arbeit. Erste Kurzgeschichte 'Zinn 40' noch in der Schule. Mit neunzehn Umzug nach Köln. Liebe, Reisen, kleine Niederlagen, große Niederlagen. Rückkehr in die Provinz. Mehrere Veröffentlichungen bei Ullstein und Bernstein. Einen Preis.
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Autoren/Hrsg.


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Am Engk vun der wieße Ling


Ich bin seit ein paar Wochen raus aus der Eschenberg-Wildpark und habe gedacht, diesmal bleibe ich weg vom Saft. Aber es kriecht in mir hoch wie schlechter Atem. Vor Jahren hat mir ein stationärer 35er gesagt, er setze sich in Bewegung, wenn der Saufdruck kommt. Weglaufen vor dem ersten Schluck. Kannst ja nicht immer mit Flacker in den Pfoten rumsitzen, die Wände anstarren oder tote Fliegen zählen. Dein Gehirn schiebt dir irgendwann doch wieder die alte Floppy Disk rein – und da ist noch alles drauf, jeder süße Nektar, von dem du jemals gekostet hast.

Meine Mutter sitzt in der Küche, auf dem Tisch der Stadt-Anzeiger und eine Tasse Kaffee. Sie zuckt mit der Schulter und sagt: »Ich seh’ nur was aus dem Fenster.«

Ich nehme eine Zigarette aus ihrer Schachtel, sie raucht Peer 100. »Mach das manchmal auch, einfach so Leute beobachten«, sage ich, obwohl das nicht stimmt. In letzter Zeit starrt sie für meinen Geschmack zu oft aus dem Fenster, außerdem übertreibt sie es mit dem Melissengeist. Ich sehe die Flaschen nie, die hält sie in ihrem Schmuckschränkchen versteckt, und damit ich nicht auf Gedanken komme, schließt sie die Schlafzimmertür ab, selbst wenn sie Zigaretten unten vom Büdchen holt. In ihrem Atem, da rieche ich die Dosis, die sie jeden Morgen löffelt.

»Was möchtest du von mir?« Sie streicht sich mit der Hand über den Kopf, eine Strähne löst sich aus dem Haarknoten im Nacken.

»Nur den Wagen«, sage ich und sehe sie nicht an dabei, ich sehe woanders hin, in die Spüle, die voller gebrauchter Kaffeebecher und schmutziger Teller ist.

»Wofür brauchste den Wagen?« Sie murmelt die Worte, als sei sie unendlich müde, und dann sehe ich sie doch an.

»Was durch die Gegend fahren. Nur so.«

»Nur so?«, wiederholt sie und hebt die Augenbrauen. Da ist ein Rest Lidstrich, wie eilig weggewischt.

»Ja«, sage ich. »Bisschen auf andere Gedanken kommen. Geh’ doch kaputt, wenn ich immer nur in der Bude häng’.«

Sie atmet aus und legt ihre schmale Hand auf die Zigaretten. »Wie lange willst du noch bleiben?« Sie hält die Hand so auf der Schachtel, dass ich nur die 100 erkennen kann. Was für eine Zahl, denke ich, einhundert. Hundert Bier. Hundert Kippen. Hundert schlechte Ficks, halb besoffen auf durchgelegenen Matratzen. Hundert Tage, solange war ich im Rattenbau, belagert von Weißkitteln und Pappenschmeißern, und alle wollten was von mir, alle wollten einen Teil aus mir herausreißen, um ihn für sich zu behalten.

»’ne Woche«, sage ich, »dann wird’s schon gehen.«

Sie fährt mit dem Ellenbogen über die Tischplatte, und das Geräusch macht mir eine Gänsehaut. »Schlüssel ist im Flur, du weißt ja wo. Und hier!«, sie hebt den Zeigefinger, spricht dann leise weiter, »Du weißt, was ich meine, ne?«

»Nee, was denn?«

»Nich auf dumme Gedanken kommen, ja?« Eine weitere Haarsträhne löst sich, jetzt sieht sie wie ein Mädchen aus, ein ganz junges mit zwei lustigen Zöpfen, und wenn ich die Augen zusammenkneife und durch die Wimpern schaue, wenn ich alles wie durch Milchglas sehe, glaube ich für einen Moment tatsächlich daran. Aber die Wahrheit ist, dass ihr Haar verloren und farblos neben den Ohren hängt, wie etwas Totes.

»Könnt’ mir was beim Büdchen auf der Kaldauer holen«, sage ich und nicke Richtung Fenster. Das Büdchen ist im gleichen Block, unten an der Ecke, ich brauche fünfzig Schritte, dann stehe ich vor einem der summenden Kühlschränke. Schon wieder so eine Zahl – fünfzig. Fünfzig Schritte, ich habe sie gezählt. Fünfzig Bier. Fünfzig Mal den gleichen Song hören. Mit fünfzig Stundenkilometern vor die Wand fahren. »Brauch ich kein Auto für, is gleich hier, schon isses passiert.«

Sie öffnet die Zigarettenschachtel, tippt mit der Zeigefingerspitze einmal auf jeden Filter und klappt sie wieder zu. »Ich mein’ ja nur.«

»Bin ich mit fertig, endgültig«, sage ich. Der Kühlschrank gibt ein hohles, metallisches Klacken von sich, und das ist das Signal, dass es irgendwie weitergehen muss.

»Ach«, macht meine Mutter, sie sitzt auf einmal ganz steif da, »der Lupo hat angerufen. Wegen der Stelle bei Lüghausen.«

Ich lehne mich in den Türrahmen. »Hat er was gesagt?«

»Sollst ihn zurückrufen«, sagt sie und verzieht ihre Mundwinkel. »Und dann noch die Frau Gaspary.«

»Wer?«

»Frau Gaspary«, sie spricht den Namen langsam und deutlich aus, ich mache eine Handbewegung und sage: »Ach so, die«, als sei die ganze Sache unwichtig.

Sie räuspert sich, öffnet wieder die Zigarettenschachtel, und diesmal nimmt sie eine heraus. »Weißt du ganz genau.«

Ich sehe aus dem Fenster, draußen in der Einfahrt steht der alte Göke und kehrt Laub zusammen, ich tue so, als denke ich darüber nach, über Frau Gaspary und ihren Anruf, lasse ein paar Augenblicke verstreichen und sage dann: »Ich ruf’ zurück, wenn ich wieder da bin, ja?«

Meine Mutter zündet sich die Zigarette an. »Ja«, sagt sie, Rauch kriecht aus den Nasenlöchern, »wenn du wieder da bist«, ihre Stimme wird immer leiser, die letzten Wörter sind kaum zu verstehen. Ich gehe in den Flur, und sie bleibt sitzen, raucht, starrt weiter aus dem Fenster. Der Autoschlüssel liegt auf einer Kommode, einem altmodischen, schweren Teil, mit Schubladen und einem Fach für Schuhe. Ich rieche die Holzpolitur – da ist sie eigen, meine Mutter, einmal in der Woche werden die Oberflächen poliert, damit die Möbel auch lange halten. Sie hustet, spuckt in die Spüle und dreht den Hahn auf. Ich stecke den Schlüssel in meine Hosentasche und ziehe die Wohnungstür zu.

Im Hausflur stehen zwei Müllsäcke, einer ist offen, ganz oben liegen Knochenreste, ich höre leises Rascheln, und als ich den Sack mit den Fingern ein Stück weit aufziehe, fallen ein paar Maden auf den Fußboden. Ihre weißen, fetten Körper winden sich hin und her, wie blind sind sie, nur auf der Suche nach Fressen. Dann höre ich wieder meine Mutter, und durch die geschlossene Tür klingt ihr Husten fast wie Bellen. Wie das Bellen eines räudigen Hundes.

Das Auto steht in einer der Garagen zwischen den Genossenschaftshäusern. Es sind ein paar Meter zu gehen, ich nehme den Trampelpfad über die Wiese. Bettlaken hängen an halb verrosteten Wäschespinnen, türkische Frauen sitzen auf den Holzbänken vor den Häusern, es riecht nach Weichspüler und Scheiße – ich weiß, dass nachts die Penner kommen, weil fast alle Kellerschlösser kaputt sind und keiner sie repariert. An einer Straßenlaterne, in drei Metern Höhe, da klebt ein Aufkleber, auf dem steht: Zieht mit! Wählt Schmidt!

Die Kiste meiner Mutter ist ein Corsa, Baujahr 1992. Auch schon zwanzig Jahre alt. Knappe sechzigtausend runter. Hat sie damals einem Rentner abgekauft, der kurz danach gestorben ist. Der Corsa riecht neu, das liegt an dem Duftbaum, der vom Rückspiegel baumelt.

Der 35er, der mir den Ratschlag gegeben hat, war ein polytoxikomaner Typ namens Torben. Zweiundzwanzig Jahre alt und siebenmal chemisch gereinigt. Einmal ganz ums Absitzen gekommen, eine Reststrafe in LZT umgewandelt gekriegt. Kannte die Paragrafen, war ein richtiger Kalfaktor. Der Erste, wenn es was zu holen gab, der Erste beim Verteilen. Nie was kassiert in der Boxerbude, schön wie ’n Mädchen geblieben. Im Wildpark waren die 35er bei den Spritfressern auf Station gefürchtet, weil die sich immer zusammenrotteten und in Gruppen auf den Gängen rumstanden. Das verbreite eine bedrohliche Atmosphäre, meinten die Schluckis, selbst natürlich alles Hemdchen.

Im Schritttempo aus der Garage. Langsam, wie mit’m Trinken, so fängste auch an, Gas, Bremse, Gas und Bremse, bisschen mehr, noch was mehr, bis es richtig läuft, bis es ganz locker läuft, wie geschmiert, sag ich dir, und dann spürst du’s, wenn du einmal auf Level bist, spürst du’s, ich seh’ nach vorn, alles wird zu Schatten in den Augen, Häuser, Fabriken, Häuser, Menschen, klein, verzerrt, Sekunde, Sekunde, Sekunden, alles in einer Blende …

Hauptschule Innere Stadt, fünfte, sechste Klasse, da gab es diesen Jungen, ich habe seinen Namen vergessen, sehe ihn aber vor mir, wie er da in der letzten Reihe sitzt, der Stuhl neben ihm immer leer: Colabodenbrille, fussige Haare, aufgetragene Klamotten. Einmal nach dem Sportunterricht hat er Maden gegessen. Alle starrten auf seine dünnen Finger, wie er sie sich aus dem Mülleimer schnappte. Eins der Mädchen kotzte ins Gebüsch.

Ich selbst war immer für die Verdopplung und keiner, der sich dosiert hat, aber eigentlich denke ich nicht an Torben oder den Madenjungen, das erzähle ich nur so.

An der Stiftsgarage halte ich auf dem Seitenstreifen, steige aus und kaufe in dem Büdchen gegenüber eine Schachtel Marlboro und eine Halbliterflasche Coke light. Was ich trinke, muss eiskalt sein, sonst krieg’ ich’s nicht runter. Was Kaltes, das durch die Kehle fließt, und eine Wirkung – dass es dir in die Augen fährt, dich kitzelt, irgendwas. Ich prüfe zehn Flaschen, bevor ich eine aus dem Kühlfach nehme, der Typ hinter der Kasse guckt schon komisch.

Als ich wieder in der Kiste sitze und am...


Heuchert, Sven
Sven Heuchert, geboren 1977 in der rheinländischen Provinz. 1994 dann Lehre, seitdem in Arbeit. Erste Kurzgeschichte „Zinn 40“ noch in der Schule. Mit neunzehn Umzug nach Köln. Liebe, Reisen, kleine Niederlagen, große Niederlagen. Rückkehr in die Provinz. Mehrere Veröffentlichungen bei Ullstein und Bernstein. Einen Preis.



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