Hikel / Schraut | Terrorismus und Geschlecht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 61, 326 Seiten

Reihe: Geschichte und Geschlechter

Hikel / Schraut Terrorismus und Geschlecht

Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert

E-Book, Deutsch, Band 61, 326 Seiten

Reihe: Geschichte und Geschlechter

ISBN: 978-3-593-41686-1
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Terroristische Akte gab es in den letzten 200 Jahren in zahlreichen Ländern, von Deutschland und Russland über Irland und Zypern bis in die USA. Gemeinsam ist ihnen, so zeigen die Autorinnen und Autoren des Bandes, dass sie die tradierten Geschlechterrollen infrage stellen. Terroristen werden meist entmännlicht/verweiblicht und Terroristinnen entweiblicht/vermännlicht. Dabei werden Terroristen im eigenen Lager zu Helden und Märtyrern stilisiert, während die Terroristin für beide Seiten das bürgerliche Geschlechtermodell ins Wanken bringt.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Terrorismus - Geschlecht - Erinnerung: Eine Einführung7
Sylvia Schraut

Zu den Beiträgen23
Christine Hikel

Wissensproduktion

Unsterbliche Jungfrauen und paradiesische Zustände:
Zur Historisierung von Selbstmordattentaten am Beispiel
der Assassinen-Legende37
Claudia Brunner

Zarte Hände: Terrorismus, Frauen und Emanzipation im Werk
von Karl Heinzen61
Daniel Bessner

Aus dem kriminologischen Verbrecheralbum:
Zur geschlechterpolitischen Rezeption des Nihilismus
durch Cesare Lombroso79
Vojin Saša Vukadinovi?

Das feminisierte Geheime: Der Terrorismusbegriff
der 1970er- und frühen 1980er-Jahre99
Dominique Grisard

Das Archiv als Ort der Wissensgenerierung über Terrorismus123
Gerhard Fürmetz

Deutung und Tradierung

"Wie der Hass gegen den Staatsrath von Kotzebue,
und der Gedanke, ihn zu ermorden, in Sand entstand":
Ein politischer Mord und seine Nachwirkungen145
Sylvia Schraut

(Un)Sicherheit: Terror, Angst und Männlichkeit in
den Anfangsjahren der Weimarer Republik169
Christine Hikel

Makellose HeldInnen des Terrors: Die Organisation der Ukrainischen Nationalisten im Spannungsfeld zwischen Heroisierung und
Diffamierung191
Olena Petrenko

Österreichische Terrorbuben? Zeitgenössische und retrospektive Deutungen des Linksterrorismus in Österreich während der
1970er-Jahre209
Irene Bandhauer-Schöffmann

Repräsentation

Gefallene Mädchen: Die Terroristin und/als Prostituierte
im ausgehenden zaristischen Russland233
Lynn Patyk

Das Unsichtbare sichtbar machen: Auf den Spuren des Bildes vom Terroristen im zypriotischen Unabhängigkeitskrieg (1955-1959)257
Gabriel Koureas

Men in Troubles: IRA-Männer und Männlichkeit in Filmen
zum Nordirlandkonflikt279
Bernd Zywietz

Zum schwierigen Verhältnis zwischen Feminismus und Terrorismus:
Die Darstellung der Terroristin in der zeitgenössischen Kunst303
Sue Malvern

Autorinnen und Autoren 323


Terrorismus - Geschlecht - Erinnerung
Eine Einführung

Im Anfang war Charlotte Corday. Am 13. Juli 1793, knapp zwei Jahre nach der Verabschiedung einer ersten auf Volkssouveränität beruhenden Verfassung und rund einen Monat nach dem Beginn der Grande Terreur, setzte die Attentäterin dem Leben des berühmt-berüchtigten Jakobiners Jean-Paul Marat ein Ende. Ihren politisch motivierten Anschlag, das erste, auf dem Gedanken politischer Partizipationsrechte beruhende Attentat seit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters, verstand sie als mahnenden Aufruf an das französische Volk, der drohenden revolutionären Diktatur entgegenzutreten und die Spaltung der republikanischen Kräfte zu überwinden.
Charlotte Corday hat ihre Ziele nicht erreicht, doch ihr tödlicher Anschlag auf Marat gehörte und gehört zu den "erfolgreichsten Themen der neueren Kunst- und Literaturgeschichte". Nicht nur die Frage nach der Legitimität einer solchen Tat beschäftigte Zeitzeugen und Nachwelt. Auch der Umstand, dass eine Frau sich zur politisch motivierten Mordtat berechtigt fühlte, irritierte die Kommentatoren. Das politische Attentat drohte die Grenzen der herrschenden Geschlechterrollen zu beschädigen. Anlässlich der Gedenkfeier für Marat, die wenige Wochen nach dem Attentat stattfand, sprach Marquis de Sade von der Meuchelmörderin als einem jener "zwitterhaften Wesen, denen man kein Geschlecht zuerkennen kann, sie wurde zur Verzweiflung beider Geschlechter aus der Hölle gespieen und gehört selbst keinem von ihnen an". 115 Jahre und zahlreiche schriftstellerische Auseinandersetzungen später war der österreichische Psychoanalytiker und Schriftsteller Fritz Wittels überzeugt: "Die weiblichen Attentäter sind die feuerspeienden Berge der eingeschmiedeten weiblichen Libido."

Die als Beispiele angeführten Auseinandersetzungen mit Charlotte Corday lassen die enge Verbindung von Geschlechterrollen- und Gewaltdeutung erkennen, welche die Debatten um die Legitimität von politischer Gewalt oder Terrorismus seit der Französischen Revolution begleiten. Diese Vermengung kennzeichnet auch die Bemühungen um die Stiftung einer adäquaten Erinnerung an politisch motivierte Gewalt bzw. Gewaltbekämpfung. Der hier einzuführende Band präsentiert Fallbeispiele solcher Debatten aus der europäischen Geschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert. Die Themenfelder Terrorismus, Geschlecht und Erinnerung durchziehen als roter Faden die Beiträge. Es sind Themenkomplexe, die in der Geschichtsforschung nur selten gemeinsam analysiert werden, die jedoch - jeder für sich betrachtet - auf einem breiten interdisziplinären Forschungsstand beruhen.

Politische Gewalt, noch dazu in ihrer terroristischen Form, gehört zu den bislang von der Geschichtswissenschaft vernachlässigten Forschungsgebieten. Zwar beteiligt sich die Zeitgeschichte derzeit zunehmend an der politikwissenschaftlich dominierten Forschung zum bundesdeutschen Terrorismus der 1970er-Jahre. Aber es gibt tatsächlich bislang kaum ernsthafte Versuche, den Terrorismus des 20. und 21. Jahrhunderts in geschichtswissenschaftlicher Perspektive mit seinen historischen Wurzeln zu verbinden und somit zu historisieren.
Der Befund hat vielerlei Ursachen. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Terrorismus um ein historisches Thema mit Hindernissen handelt. Dies ist zum einen dem schwierigen Zugang zu den Quellen einer per se klandestinen Organisationsform geschuldet. Weitaus schwerer mag der Umstand wiegen, dass sich die Forschung bislang auf keine konsensfähigen Terrorismusdefinitionen geeinigt hat, die über das jeweils behandelte Phänomen hinaus wesentliche Elemente dieser spezifischen Form politischer Gewalt benennen. Der konstatierte Mangel wiegt für die Geschichtswissenschaft umso schwerer, als Vorformen des aktuellen Terrorismus zeitgenössisch in der Regel nicht als solcher etikettiert wurden. Nur wenige historische Studien beschäftigten sich bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren mit den historischen Frühformen oder Vorläufern des aktuellen Terrorismus. Wohl angeregt durch den gegenwärtigen politikwissenschaftlichen Boom der RAF-Forschung, wendet sich in den letzten Jahren auch die Geschichtswissenschaft dem Thema verstärkt zu. Mit einem Verständnis von Gewalt als konstituierendem Element, Gegenstand, Impulsgeber und Medium politischer Kommunikationsräume sind insbesondere die neueren zeitgeschichtlichen Arbeiten nicht nur anschlussfähig an die interdisziplinäre aktuelle Terrorismusforschung, sie tragen auch zu einer Historisierung eines zentralen Fragenkomplexes der politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung bei. Geschlecht spielt hierbei bislang allerdings so gut wie keine Rolle. Es fehlt auch an Überlegungen, welche Elemente einer historischen Terrorismusdefinition denn konstituierend für diese Erscheinungsform politisch motivierter Gewalt in langer Zeitlinie sind und ab wann folglich von Terrorismus gesprochen werden kann.


Prof. apl. Dr. Sylvia Schraut, Universität Mannheim, vertritt zurzeit die Professur für Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität der Bundeswehr, München. Christine Hikel, M.A., ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.


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