Höftmann Ciobotaru | Alef | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Höftmann Ciobotaru Alef


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7530-5000-3
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-7530-5000-3
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Maja wächst in Ostdeutschland auf. Ihre Mutter Astrid ist eine Karrierefrau, sie hat zwar ein Alkoholproblem, geht aber aus der Wende als Gewinnerin hervor. Majas Vater Wolf weiß hingegen nach der Wende nichts mehr mit sich anzufangen. Ein Teil der Familie driftet nach rechts.
Eitans Vater ist mit Holocaust-Überlebenden aufgewachsen - Eitans Großmutter hat Theresienstadt zwar überlebt, sitzt seitdem aber tagtäglich am Fenster und wartet auf die Rückkehr ihres in Auschwitz ermordeten Bruders Sigi. Seine Mutter stammt aus dem Irak, aus dem ihre Familie nach einem Pogrom nach Israel geflohen ist. Als Maja und Eitan sich begegnen, prallen zwei Welten und zwei Leben aufeinander. Eigentlich ist es die eine, die ganz große Liebe. Aber Eitan fühlt sich nicht wohl in Deutschland und Maja nicht in Israel. Für Eitan ist es wesentlich, dass Maja Jüdin wird, doch sie kämpft mit dem Glauben.
Alef erzählt die Geschichte zweier Familien, einer deutschen und einer israelischen. Es ist eine Geschichte von Schicksalsschlägen und Veränderungen, von Schuld und davon, was Liebe überwinden kann - und was nicht.

»Kompromisslos, vielschichtig und bewegend.« Samerberger Nachrichten, 23.03.2021

»Die Autorin erzählt in suggestiver Bildsprache und mit psychologisch überzeugender gezeichneten Figuren eine atmosphärisch dichte Geschichte.« Samerberger Nachrichten, 23.03.2021

»Die Autorin schreibt eindrücklich über die Geschichten, die wir in uns tragen.« FRIZZ, 31.03.2021

»Ich möchte es allen empfehlen - ich möchte es Frauen und Männern empfehlen!« Johanna Mildner, hr2 Kultur, 09.04.2021

»Eine aufrichtige Zeitgeschichte, die universell für mehr Verständnis steht.« Westfälischer Anzeiger, 03.04.2021

»Ich verspreche Ihnen ein großartiges Leseerlebnis.« Freies Radio für Stuttgart, 17.05.2021

»'Alef' ist ein äußerst lesenswerter Roman, der sich eines Themas annimmt, über das es hierzulande viel zu wenig zu lesen gibt.« Stefan Härtel,Lesart, 06.2021



Katharina Höftmann Ciobotaru wurde 1984 in Rostock geboren. Sie studierte Psychologie und deutsch-jüdische Geschichte in Berlin, ist freie Journalistin und hat bereits mehrere Kriminalromane und Sachbücher veröffentlicht, darunter . Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Tel Aviv. Nach erscheint 2023 mit ihr zweiter literarischer Roman bei Ecco.

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DAS LETZTE KIND

Als Maja geboren wurde, an einem unter drückender Hitze ächzenden Nachmittag im August 1984, raste ein mit fünf Tonnen Kies beladener Lastwagen mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde über die Sperranlagen am Grenzübergang Friedrichstraße / Zimmerstraße. Im LKW, auf dem mit einem Stahlboden ausgebauten Führerhaus, kauerte Tante Susi. Majas Mutter wäre auch lieber in die Freiheit gerast, als in einem stickigen Kreißsaal mit ihrer Freiheit abzuschließen. Und so dachte ihre Mutter, während sie Maja aus ihrem Uterus presste, an ihre Schwester Susi. Und fragte sich zwischen Wehen, deren einziger Zweck es zu sein schien, ihren Körper in der Mitte auseinanderzureißen, ob Susi noch lebte. Ob die Soldaten geschossen hatten. Ob die Anlage zur Verriegelung des Sperrschlagbaumes reagiert hatte, bevor der LKW drüben war. Oder ob sie gar schon Dokumente erhalten hatte und bereits im Zug Richtung Hannover oder Hamburg saß? Das neue Westgeld in den Händen. Sie fragte sich, wann sie Susi wiedersehen würde und wie alt das Kind, das ihr gerade mit seinem Kopf den Damm eingerissen hatte, dann sein würde. Ein paar Monate? Ein paar Jahre? Erwachsen?

Majas Mutter und ihre Schwester Susi hatten oft gemeinsam von der Flucht geträumt, aber Wolf, Majas Vater, stellte immer nur Gegenfragen, wenn das Thema aufkam. »Wie stellst du dir das Leben drüben vor? Meinst du wirklich, da geht’s uns besser? Ist es nicht in Wahrheit Wahnsinn, ein echtes – und nicht schlechtes, das muss man ja auch mal sagen! – Leben für eine vage Idee aufzugeben?« Und ging dann, wie immer, wenn er nicht weiterwusste, zu philosophischen Grundsatzfragen über: »Ist es nicht naiv, zu denken, dass alles besser sein könnte? Ist es nicht sogar falsch, zu denken, dass alles besser sein könnte? Was, wenn der Kapitalismus noch viel schlimmer ist, als die Genossen sagen? Und eigentlich ist das hier doch unser Zuhause. Trotz allem. Warum können wir denn nie zufrieden sein?«

Und er erzählte dann von dieser Studie, die er immer anbrachte in solchen Momenten, bei der Psychologen festgestellt hatten, dass Menschen zwölf Monate nach einem heftigen Schicksalsschlag wieder genauso zufrieden oder unzufrieden waren wie vorher. Es änderte sich nämlich nie etwas. Man blieb immer, wer man war. Und Astrid war überall unzufrieden, das wusste Wolf ganz genau.

Majas Mutter sah das freilich anders. Erstens: Sie, die einst Astrid Klatt hieß und seit der Geburt ihrer Tochter vor allem Majas Mutter, hatte ein fast symbiotisches Verhältnis zu ihrer Schwester Susi. Mit nur elf Monaten Altersunterschied waren sie wie Zwillinge. Susi brauchte Astrid, und Astrid brauchte Susi. Deswegen war Astrid am liebsten so nah wie möglich bei ihr. Oder wenigstens nicht durch eine unüberwindbare, von Scharfschützen bewachte Mauer von ihr getrennt. Die beiden Frauen, aufgewachsen in einem Haus, in dem die Mutter nie da war und der Vater nicht oft genug weg sein konnte, aufgewachsen in einem Haus, in dem man immer fror – egal, wie viel Kohle man in den Ofen schippte –, aufgewachsen in einem Haus, in dem es keine Schokolade, aber immer Schnaps gab, waren nämlich miteinander verwachsen. Verwachsen wie zwei Rotbuchen, deren Äste der Wind bewegt, bis sie einander aufreiben und dort, wo die Rinde aufgerissen ist, zu einem Ast verschmelzen. Diesen Ast in der Mitte auseinanderzubrechen und in zwei verschiedene Länder zu werfen, ging eigentlich nicht. Schon dass sie vor Susis Flucht in verschiedenen Städten gelebt hatten, war eigentlich unmöglich, lag aber, und das war der zweite Grund für Astrids Traum vom Rübermachen, daran, dass Astrid nie da sein wollte, wo sie war. Majas Mutter hatte die Angewohnheit, sich wegzuträumen. Egal wo sie gerade war. In dem eisigen Haus, in dem sie aufwuchsen, träumte sie von vier Wänden ohne den Vater, den sie nur das Ekel nannten (»Ist das Ekel weg?«) und der in ihnen nur das Schlechteste hervorbrachte. In der besetzten Altbauwohnung im Prenzlauer Berg, die sie sich mit Susi und ihren wechselnden Männergeschichten teilte, träumte Astrid von einem Heim mit einem Mann, der ihr, nur ihr, gehörte. In dem Dachgeschoss in der Sandstraße, 200 Meter Luftlinie von der Elbe, ihre beiden Namen auf dem Klingelschild, Wolf und Astrid, Außentoilette auf halber Treppe, träumte sie von einer Neubauwohnung mit eigenem Bad. Im Taklerring, in einer Zweiraumwohnung in Groß Klein, Neubau, Vollbad ohne Fenster, saß sie mit Wolf und Maja auf dem Balkon im elften Stock, beobachtete Schiffe, die in den Rostocker Hafen einliefen, und träumte von der weiten Welt. In einer Hand das Fernglas, in der anderen den Atlas, schlug sie die unbekannten Flaggen nach und fragte sich, ob sie all diese Orte jemals mit eigenen Augen sehen würde. Und dachte: wahrscheinlich nicht.

Wenn ihre Schwester bei ihr war, dann ließ Astrids Rastlosigkeit immerhin ein bisschen nach. Aber jetzt war Susi weg. Hockte im Stahlboden über Kraftwagenfahrer Rico, und sie, Astrid, lag allein in diesem Kreißsaal und quälte sich mit der Geburt eines Kindes, von dem sie nicht wusste, ob sie es wirklich wollte. Wobei Letzteres sie nicht beunruhigte, denn sie glaubte, dass man immer Kinder bekam, ohne zu wissen, ob man sie wirklich wollte. Nur die Dummen wollten Kinder und hatten keine Zweifel. Nur die Dummen waren so blind, dass sie nicht begriffen, was ein Kind mit dem eigenen Leben machte. Nur die Dummen konnten nicht erfassen, was mit einem Kind auf sie zukam. Die Dummen wollten Kinder, um ihre eigene Dummheit zu vergessen. Astrid aber war nicht dumm. Sie wusste, dass dieses Kind, das sie ja schon hier im Kreißsaal ganz genau spüren ließ, wer der Boss war, alles verändern würde. Es würde sie fesseln. An einen Ort, an einen Mann, an ein Leben, in dem vor lauter Verantwortung für einen anderen Menschen nichts mehr zum eigenen Vorteil entschieden werden konnte. Und es würde sie Liebe spüren lassen, eine Liebe, so riesig, so total, so endgültig, dass sie ihr Angst machte. Denn mit einer so unendlichen Liebe kam immer auch die Panik vor dem Verlust. Und diese Panik ließ Frauen merkwürdige Entscheidungen treffen. Das nannte man dann Mutterschaft. Astrid war jetzt zwei Menschen. Für immer. Seit sie den ersten Tritt aus dem Inneren ihres Bauches heraus gespürt hatte, einen Tritt, der nicht sanft war, nicht flatterhaft, sondern voller Stärke, ein Hieb geradezu, wusste Majas Mutter, dass sie nie wieder allein sein würde. Und während das andere Frauen, dumme Frauen, so sehr beruhigen mochte, dass sie ein Kind nach dem anderen bekamen, wie blökende Schafe, die sich ohne Widerstand zur Schlachtbank führen ließen, versetzte es Astrid zuerst in Panik, dann in Trauer und schließlich in Resignation. Seit den ersten elf Monaten ihres Lebens war Astrid nie wieder allein gewesen. Und man hätte denken können, dass sie sich deshalb vor dem Alleinsein fürchtete, aber die Wahrheit war, dass sie sich danach sehnte. Denn von klein auf liebte Astrid es, wenn Dinge wie am Schnürchen liefen, und hasste es, Rücksicht auf andere nehmen zu müssen. Rücksicht auf ihre Mutter, eingehüllt in anhaltende Dunkelheit, ihren Vater, eingehüllt in Fahnen aus Bier und Schnaps, ihre Schwester, eingehüllt in das Verlangen nach Anerkennung und Leidenschaft. Astrid hatte immer nur allein sein wollen. Auch wenn sie das nie zugegeben hätte, denn wer war sie, dass sie, die geborene große Schwester, plötzlich von eigenen Bedürfnissen sprach. Und doch: Hätte sie jemand in diesem Moment im Kreißsaal – in diesem Moment zwischen Leben und Tod, Himmel und Hölle, Ende und Anfang – gefragt, was sie wirklich wollte, sie hätte zum ersten Mal die Wahrheit gesagt: Allein sein will ich. Allein sein und dann sterben.

Wolf, Majas Vater, bekam von alledem nichts mit. Als Astrids Fruchtblase endlich platzte, der Startschuss zu den Presswehen, schoss Wolf gerade ein Tor. Es war das erste Tor seines Lebens. Wolf Pagel war keiner, der Tore machte, und dementsprechend überraschte der Treffer alle um ihn herum. Am meisten ihn selbst. Er hatte gerade am Spielfeldrand herumgelungert, in dem Versuch, möglichst wenig im Weg herumzustehen, als Ecke, der sein Arbeitskollege war und ein bisschen auch sein Konkurrent, ihm einen Pass zuspielte. Ecke hatte vor dem Spiel drei Kurze getrunken und dachte eigentlich, er spiele Genosse Trotzki an, der ein sehr guter Stürmer war, und wenn jemand Tore gegen die Mannschaft der VEB Zellwolle machte, dann er. Stattdessen erwischte er Wolf, der seinen Fuß nicht schnell genug wegziehen konnte und das runde Leder aus Versehen im Netz versenkte. Und der das Gefühl hatte, dass die Welt im Anschluss an seinen Überraschungstreffer für einen Moment stehen blieb. Was durchaus kein schlechtes Gefühl war, aber ein abruptes Ende fand, als plötzlich seine Mutter, Elfriede Pagel, geborene Klemm, auf das Spielfeld stürzte. Und in dem Moment, als Wolf noch dachte, das ist jetzt aber des Jubels und der Aufregung zu viel, wenn selbst meine Mutter …, brüllte Elfriede ihn schon an: »Ick gloob, es hakt, deene Aschtrid liecht im Krankenhaus und du eierst hier ufm Fußballplatz rum.« Woraufhin sich die Welt wieder weiterdrehte, jetzt sogar ein bisschen schneller als zuvor, und sich Wolf mit seinen viel zu lang geratenen, spindeldürren Beinen schnurstracks in Bewegung setzte, aufs Fahrrad sprang und gegen den Wind, der über die Elbe direkt in sein markantes Gesicht mit der schiefen Nase und dem dichten Schnurrbart blies, ans andere Ende der Stadt fuhr. Und dabei mit aller Kraft, die er in dem kurzen Moment als gefeierter Torschütze gesammelt hatte, in die Pedale trat.

Auf der Geburtenstation wurde er jedoch von der Oberschwester, deren Schnurrbart seinem in...



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