E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Hoffmann Das Knistern der Sterne
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-22625-1
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-641-22625-1
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claire Hoffmann hat als Schauspielerin an Theatern und in zahlreichen Filmen gespielt, heute schreibt sie Drehbücher und Romane. Sie liebt es, ganze Tage am Schreibtisch zu verbringen und Geschichten zu erfinden, die überall auf der Welt spielen. Sie lebt in Hamburg und Berlin.
Autoren/Hrsg.
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Eins
Schon früh am Morgen war es außergewöhnlich heiß geworden. Die Stadt roch strohig und versengt, der Asphalt würde bald weich werden und klebrig. Nach drei Nächten im kaum zu lüftenden Sechsbettzimmer hatte Stella das Gefühl, in keiner davon auch nur ein einziges Auge zugetan zu haben. Sie wusste, dass das meistens nicht stimmte und nur einem subjektiven Eindruck entsprang, aber die vergangenen Nächte in der Jugendherberge am Stadtrand hatten ganz bestimmt zum Schlimmsten gehört, das sie in dieser Richtung erlebt hatte. Selbst wenn man von der Balkonparty der kichernden Horde einer Klassenreise absah, die in einem nie gehörten Dialekt kreischte, rief und sang, und es fühlte sich an, als fände das direkt neben Stellas Kopf auf dem traurig klumpigen Ding, das hier als Kopfkissen herhalten musste, statt. Wie auch von dem ungewohnten Vogelgezwitscher und der Müllabfuhr, die ausgerechnet den Glascontainer an der Ecke als Erstes am Morgen leeren musste. Als hätten nicht die Marihuanaschwaden von draußen, das Klappern des losen Fensterriegels, nicht zu vergessen das behördenhafte Quietschen des Gummibelags im Flur, als hätte nicht eines dieser Geräusche allein ausgereicht, Stella vollends zu zermürben. Sodass sie schon im Morgengrauen ihr Tasche gepackt und das Gebäude kurz darauf fluchtartig verlassen hatte. Andernfalls hätte sie sich innerhalb der nächsten halben Stunde ihres ersten Gewaltverbrechens schuldig gemacht, und zwar an einer der in Variation schnarchenden Zimmernachbarinnen, die sie umzingelten. Leider war das noch weit vor der Frühstückszeit gewesen, und auch das Café am Platz hatte noch zugehabt. So war Stella nichts weiter übriggeblieben, als sich ans Ufer des Wannsees zu setzen und ausgehungert aufs Wasser zu starren. Wer weiß, vielleicht kam ja eine Antwort auf ihre Fragen vom Ufer gegenüber herübergeweht? Etwa, was sie mit den Scherben ihres Daseins anfangen sollte. Oder wo der Ausweg aus dieser Situation zu finden war. Stella hob ihre Nase, in Erwartung von etwas, an das sie sich nur schwer erinnerte, etwas wie Frische oder eine Idee. Oder ein neues Leben. Aber da war nichts, nur ein paar hässliche Enten dümpelten unmotiviert im Wasser herum. Der Tag versprach genauso stickig zu werden wie die vorangegangenen. Es war einfach zum Heulen.
»Wohin sind Sie unterwegs?«
Stella wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und sah widerwillig zur Nachbarbank hinüber, auf der sich ein alter Mann niedergelassen hatte. Sicher wieder so ein aufdringlicher Kauz, dem es an Gesellschaft fehlte und der versuchen würde, sie in ein ödes Gespräch über das Wetter und dergleichen zu verwickeln. Oder schlimmer noch, über die Vergangenheit.
»Was geht Sie das an?«
Stella konnte nicht anders, sie raunzte ihn an, in der Hoffnung, das würde ihn von den Tränen ablenken, die eben noch ihre Wangen heruntergelaufen waren. Der Mann aber sah ihr irgendwie geduldig ins Gesicht. Er war seltsam blass, trug einen offensichtlich teuren Strohhut, der nicht zu ihm passen wollte, und eine viel zu große Brille mit dunklen Gläsern. Dazu einen ziemlich lächerlichen Bart in Form zweier grauer Balken, die zusammen aussahen wie ein fusseliges, verunglücktes Anführungszeichen, sowie einen Schal, den er sich fast bis hoch zur Nase gezogen hatte. Als wäre es zugig oder kalt, einfach lächerlich.
»Ich wollte nur nett sein. Ist daran irgendetwas falsch? Ich meine, was kann daran verkehrt sein, wenn man sich bemüht, etwas Freundlichkeit zu verbreiten? Nichts, dachte ich jedenfalls bisher. Aber na ja, mir soll es recht sein, dann stirbt sie eben aus, die Freundlichkeit, und zwar ziemlich bald. Wenn Sie mich fragen, wird sie nicht mal besonders vermisst werden, bei der sich heute wie ein Virus verbreitenden Ruppigkeit. Ja, mehr noch, die Leute werden sich bald nicht einmal mehr daran erinnern, dass es so etwas wie Freundlichkeit überhaupt einmal gab …«
Der Mann war sicher Ende siebzig, und wie so viele seiner Altersklasse neigte er zur Geschwätzigkeit. Stella fürchtete, er würde übermorgen noch weiterreden, wenn man ihn nicht stoppte. Sie fragte sich, ob sie es drauf ankommen lassen sollte oder doch lieber schweigen und abwarten, bis er fertig war mit seinem Kulturpessimismusmonolog. Doch wie so häufig in letzter Zeit hatte sie sich selbst nicht im Griff. Außerdem bestand die reale Gefahr, dass sie hier, an seiner Seite langsam und unbemerkt verhungert wäre, noch bevor der Verhüllte mit seiner Rede fertig gewesen wäre.
»Sprechen Sie immer laut mit sich selbst?«
Stella sah reumütig zu ihm hinüber. Auch das hatte jetzt wieder rüder geklungen, als es geplant gewesen war. Sie biss sich auf die Oberlippe und lächelte, eher schief, wenn ihr Gefühl sie nicht trog, aber immerhin. Der Mann zögerte einen winzigen Augenblick, bevor er reagierte. Vielleicht schnappte er nach Luft? Er war sicher empört, und dann brauchte der Körper Sauerstoff, das war ja bekannt. Stella erinnerte sich, einmal von einem FBI-Profiler gelesen zu haben, der die Theorie vertrat, in diesen Nanosekunden der Entgleisung erkenne man die wahren Gefühle des Gegenübers. Sie war sich nicht sicher, aber der alte Herr neben ihr auf der Bank hatte für den Bruchteil einer Sekunde ausgesehen, als kämpfe er um etwas. Oder gegen etwas an.
»Nur wenn mir nichts anderes übrig bleibt.« Er machte eine Pause. »Und jetzt habe ich ja Sie!«
Er nestelte an seinem Halstuch herum, ob er verlegen war? Oder war er etwa krank? Natürlich, er hatte eine Sonnenallergie, wie die Frau des Bundeskanzlers damals, das erklärte sein unpassendes Outfit. Hoffentlich klappte er nicht zusammen. Stella lächelte noch einmal, harmlos, so wie man es mit Leuten macht, die einem etwas unheimlich sind, weil sie entstellt sind oder ansteckend oder sehr traurig. Sie wollte, dass der Mann sehen konnte, dass sie ihn nicht hatte verletzen wollen. Dass sie ihn sympathisch fand und gern mit ihm sprechen würde. Es tat ihr leid, dass sie so unhöflich gewesen war. Das geschah viel zu häufig, seit ihr Leben einfach zerbröselt war. Stella verbot sich energisch, in diese Richtung weiter zu grübeln, und verscheuchte das Gesicht ihres Ehemanns von ihrem inneren Auge. Sie beschloss, den alten Herrn mit einem Scherz aufzuheitern.
»Warum sagt mir mein Gefühl, dass das ein klein bisschen geflunkert ist?«
»Weil Ihr Instinkt kein schlechter ist.«
Er lächelte! Und was noch besser war, er ging auf das Spiel ein! Stella fiel ein Stein vom Herzen. Irgendwie schelmisch, sein Lächeln. Es erinnerte sie an alte Filme, wo die Leute in Tankstellenoveralls unvermittelt über Freundschaft zu singen begannen und einander Gänseblümchen überreichten, bevor sie herzhaft in Butterbrote bissen. Stellas Magen begann vernehmlich zu knurren.
»Was sagt er noch, Ihr untrüglicher Instinkt?«
»Oh, der? Tja, da muss ich Sie leider enttäuschen, der schweigt, seit Jahren schon, und zwar komplett, jedenfalls was menschliche Wesen betrifft.«
Das war ihr rausgerutscht. Aber das war nicht wichtig, sagte Stella sich zur Beruhigung. Sie würde gleich aufstehen und diesen komischen Mann sowieso nie wiedersehen müssen.
»Verstehe.«
Wieder dieser Blick.
»Das glaube ich kaum.«
Er nickte verständnisvoll.
»Na, dann passen wir ja hervorragend zusammen. Zwei komische Vögel, die nichts von den Menschen verstehen.«
Zu ihrer Überraschung musste Stella lachen. Sie flüchtete sich in Ironie.
»Soll das etwa ein Antrag sein?«
»Vielleicht. Aber vorher müssen Sie mir eins verraten: Stellen Sie immer so viele Fragen?«
Er grinste breit. Offenbar war dies eines dieser seltenen Exemplare der Sorte Mensch, die es mit ihrer Schlagfertigkeit aufnehmen konnte. Stella grinste zurück.
»Was denken Sie?«
»Spielen Sie Tischtennis?«
Er deutete auf eine glänzende braune Ledertasche, die neben ihm auf der Parkbank stand und aus deren Seitentaschen zwei Schläger ragten. Stella wusste, dieser Mann würde nicht nachgeben beim Wer-die-meisten-Fragen-stellt-hat-gewonnen-Spiel.
»Nicht vor dem Frühstück. Nur so ein Prinzip …«
Sie stand auf.
»Stella, guten Morgen.«
»Guten Morgen, Balthasar.«
Er tat es ihr nach und reichte ihr seinen Arm. Man hätte meinen können, sie kannten einander schon seit Jahren.
Später fragte Stella sich mehr als einmal, ob dieses Treffen nicht doch irgendwie von Balthasar eingefädelt worden war. Doch das war viel später und erst nachdem sie verstanden hatte, dass er log. So wie auch sie ihn angelogen hatte, von Anfang an und immer wieder. Doch sie wusste auch, dass das, was sie anfangs in ihrem aufgelösten Zustand gedacht hatte, natürlich nicht wahr sein konnte. Und dass er unmöglich irgendeine Intrige gesponnen haben konnte. Tatsache war, dass er sie sich zwar ausgesucht hatte, sie beobachtet und sorgfältig auserkoren hatte, wie man einen ausgesetzten Hund im Tierheim betrachtet und unauffällig versucht, seinen Charakter zu erkennen, bevor man sein Herz an ihn hängt. Und zuerst war Stella der Meinung, er würde es bitter bereuen, wenn er sie erst kennenlernte, wenn er ihr echtes Wesen erkannte. Erst viel, viel später begriff sie, dass das Gegenteil der Fall war, dass es genau diese Fehler, ihre Defizite und ihr offensichtliches Unglück der Grund waren, weswegen er sie gewählt hatte. Aber genauso wahr war eben auch, dass das Schicksal seine Finger im Spiel gehabt hatte, als es sie beide zusammenführte. Dass es einfach der richtige Augenblick war, in dem Balthasar und sie aufeinandertrafen.
Balthasar wirkte seltsam...