E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Hoffmann Die Liebe zum Regen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19656-1
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-19656-1
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claire Hoffmann hat als Schauspielerin an Theatern und in zahlreichen Filmen gespielt, heute schreibt sie Drehbücher und Romane. Sie liebt es, ganze Tage am Schreibtisch zu verbringen und Geschichten zu erfinden, die überall auf der Welt spielen. Sie lebt in Hamburg und Berlin.
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1
»Wer den Himmel im Wasser betrachtet, sieht die Fische auf den Bäumen.« Dieser Satz spukte schon seit dem Aufwachen durch Veras Kopf. Was bitte sollte das bedeuten? Sie musste ihn irgendwo gelesen haben. Vera schlug den Kragen ihres Mantels hoch. Es war immer noch zu kalt für April. Sie stand an einer besonders zugigen Ecke und wartete auf den Bus. Und was sollte dieser bissige Wind? Wenn sie fror, wurde sie philosophisch. Das war schon immer so gewesen. Genau wie sie schon seit Jahren montags die falschen Schuhe anzog. Sie hatte doch gewusst, dass sie zu leicht waren für diese Art von unberechenbarem Wetter. Der Montag war der einzige Tag, an dem Vera sich etwas derart Unvernünftiges wie mittelhohe Absätze gestattete. Obwohl es mühsam war, jede Woche ein neues Restaurant auszuprobieren, hatte diese Tradition, die ihr Mann vor bald sieben Jahren begründet hatte, durchaus ihre guten Seiten. Allerdings nicht, wenn man durchgefroren bis auf die Knochen zum Abendessen erschien. Vera trat von einem Fuß auf den anderen. Sie wollte gerade beginnen, ihre Erinnerung nach der Quelle für den rätselhaften Satz zu durchsuchen, als ein überraschender Windstoß ihr den Regenschirm aus der Hand zu reißen versuchte. Das konnte ihm so passen! Sie hielt den Schirm fest. Ein Geschenk ihres Mannes, der vielleicht keine Schönheit war mit seinem etwas faden Muster, aber Vera dachte nicht daran, ihn ohne Kampf herzugeben. Diese Böen waren eher ein Sturm und ziemlich übertrieben, selbst für Frühling in Norddeutschland. Vera umklammerte den silbernen Griff, was zur Folge hatte, dass sie erst beinah fortgeweht wurde und dann unelegant quer über den Gehweg hinter ihrem Schirm herstürzte. Zum Glück waren so gut wie keine Leute unterwegs. Doch der Wind war stärker als sie. Mit einem finalen Schlag wirbelte er an Vera hinauf, umkreiste sie dreimal, stülpte den Schirm plötzlich und mit beneidenswerter Mühelosigkeit um und entriss ihm mit einem Ruck seinen Stoff. Zurück blieb ein flatterndes, nutzloses Etwas von ehemaliger Schirmbespannung, das nur noch an einem Zipfel mit seinem Skelett verbunden war. Binnen Sekunden stand Vera ungeschützt im Freien und musste sich von ihrer Frisur verabschieden. Sie sah sich Schutz suchend um. Zum Glück, denn so sah sie gerade noch rechtzeitig, wie ein Lastwagen auf die enorme Pfütze vor ihren Füßen zusteuerte. Das fehlte ihr noch. Mit einem entschiedenen Sprung über die, zugegeben schmale, Rabatte rettete Vera sich im letzten Moment vor der Schmutzfontäne in Richtung Park.
Vera fand sich auf einmal in einer anderen Welt. Im Park war es still. Und irgendwie friedlich. Sie lief ein paar Schritte den gewundenen Weg entlang. Flirrendes Licht, der Duft von Erneuerung. Dass die Kirschen schon blühten! Sie hatte nicht das Geringste von dieser reinweißen Pracht mitbekommen. Das war ihr noch nie passiert. Früher hatte nichts sie davon abhalten können, bei der ersten Ahnung aufzubrechen, die Veränderungen wie einen Festtag zu begehen, das neue Wetter am eigenen Leib zu spüren. Der Wechsel der Jahreszeiten hatte sie immer eine Spur feierlich gestimmt. Diesmal hatte er ohne sie stattgefunden. Sie hatte ihn einfach verpasst, den Frühlingsanfang. Vera stand unter dem tropfenden Blütenmeer und wurde auf einmal von einer Welle von Müdigkeit erfasst. Etwas, das ihr in den letzten Wochen immer wieder passierte. Und zwar, wenn sie ehrlich zu sich selber war, mit einer sich schnell steigernden Häufigkeit. Ihr war, als würde die Anziehungskraft der Erde um einige Stufen höhergeschraubt. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, sich auf der Stelle niedersinken zu lassen, ungeachtet der glitschigen Blätter, des stetigen Regens, der Spaziergänger um sie herum. Wie verlockend es wäre, einfach nachzugeben …
Vera erschrak, das hier nahm bedrohliche Formen an. Sie wies sich innerlich zurecht und zwang sich, vernünftig nachzudenken. Hinter dieser ungewohnten Schwäche, hinter solch abstrusen Ideen musste etwas anderes stecken. Sicher etwas lächerlich Simples, Vitaminmangel oder dergleichen. Bestimmt kein Grund zu übereilter Sorge. Sie warf den Schirm in den Mülleimer und wandte sich zum Gehen um. Da passierte es. Sie konnte es sehen, mit ihren eigenen Augen. Fische in den Bäumen. Der Regen hatte unversehens aufgehört, ganz so, wie er begonnen hatte, und das flache Becken, dem Vera nie viel Beachtung schenkte, reflektierte den eben aufreißenden Himmel. Die umstehenden Bäume hatten noch nicht ausgeschlagen, ihre Äste warfen ein filigranes Schattenmuster in das Glitzern der Spiegelung. Und dazwischen schwebten Fische. Vera hielt den Atem an. Als könnte sie das Fliegen stören, allein durch ihre Gegenwart den Zauber beenden.
Auf der Straße fuhr ein Bus vorbei. Der 112er, das sagte ihr irgendwas. War das nicht der, den sie nehmen musste? Vera fing an zu laufen. Sie winkte und rief und schaffte es im letzten Moment, in den Bus zu springen.
Veras Gedanken wanderten zurück zu dem Baum. Der Anblick der schweren Blütenballen hatte sie an eine Geschichte erinnert, die einer Freundin ihrer Mutter passiert war. Diese Freundin hatte sich immer schon gewünscht, dass der Kirschbaum vor ihrem Fenster einmal zu ihrem Geburtstag blühte. Da sie aber im März geboren war, hatte sich dieser Wunsch nie erfüllt. Bis sich ihr sehr viel jüngerer Freund entschloss, dem Glück etwas nachzuhelfen. Er schlich sich in den kalten Nächten, sobald sie schlief, in den Garten und wärmte den vereisten Baum mit einem Föhn, den er an einem Verlängerungskabel hinter sich über die Wiese zog.
Verrückt, dass sie seit Jahren nicht mehr an diese Geschichte gedacht hatte. Der Baum, der von einem Verliebten zu verfrühtem Blühen gezwungen worden war. Damals war Vera die Tat wie der Inbegriff inniger Hingabe vorgekommen. Das war jetzt vollkommen anders. Die Idee schien ihr albern, und der Baum tat ihr leid. Tränen stiegen in ihrer Kehle auf. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Warum nur fühlte sie sich heute so zerbrechlich? Sie war schließlich nicht ihre eigene Mutter, die in ihren letzten Lebensjahren zusehends sentimentaler geworden war, sondern erst siebenundfünfzig Jahre alt, kein Alter heutzutage, eigentlich. Vera hatte eben noch Zeit, sich zu fragen, ob die Freundin sich aufrichtig gefreut oder es nur vorgegeben und sich bald darauf beklommen von ihrem jungen Liebhaber getrennt hatte, als die Müdigkeit wieder zuschlug, und zwar noch heftiger als zuvor.
Es dauerte einen Augenblick, bis Vera ihren konfusen Zustand als Aufwachen identifizierte und ihre Umgebung als Bus. Sie streckte vorsichtig ihre steifen Gliedmaßen, spähte durch die mit Werbung verklebten Fenster und erkannte beschämt, dass sie geschlafen haben musste und noch dazu ziemlich lange. Denn der Bus stand nicht nur, das hier war dazu ein Ende der Stadt, von dem sie kaum den Namen kannte. So hätte es auch bleiben sollen. Kein hübscher Anblick, diese gottverlassene Gegend voll abgewohnter Sichtbetongebäude, ölverschmierter Industriebrachen und ehemaliger Parkplatzflächen, verödet und menschenleer. Der Busfahrer fiel ihr ein. Der hatte sie offensichtlich nicht bemerkt, sondern verspeiste in aller Ruhe ein riesiges belegtes Brötchen, warf einen Blick in sein Revolverblättchen und plante eher nicht, in naher Zukunft zurück in die Stadt zu fahren. Aber er hatte die Mitteltür offen gelassen, wahrscheinlich zwecks Frischluftzufuhr, die das Gefährt auch dringend nötig hatte. Wenn sie es geschickt anstellte, könnte Vera ungesehen entwischen und sich weitere Peinlichkeiten ersparen. Sie griff nach ihrer Handtasche, zog sich die Mantelärmel zum Schutz über die Hände und ließ sich langsam auf alle viere nieder. Ein leises Ächzen entfuhr ihr, als ihre Knie mit einem vernehmlichen Knackgeräusch den Boden berührten. Sie hielt inne und lauschte, aber nichts als das Rascheln der Zeitung war zu hören. Vera arbeitete sich Stück für Stück vor, die Tasche unter die Achsel geklemmt, den Atem angehalten, bemüht, das letzte bisschen Würde zu bewahren. Leider erfolglos, denn als es ihr eben gelang, sich auf dem Rockboden so um die eigene Achse zu drehen, dass sie sich rückwärts aus dem Bus schälen konnte, und sie unter Schmerzen begann, die Treppen hinunterzukrabbeln, ertönte eine joviale Stimme aus dem Lautsprecher: »Schönen Tag noch, Lady!«
Vera hatte eine Menge Zeit, darüber nachzudenken, wieso sie nicht auf die Idee gekommen war, ihn zu fragen, ob er vielleicht doch demnächst in die Stadt zurückfahren würde. Stattdessen war sie einmal mehr über ihren Stolz gestolpert, den sie seit frühester Kindheit mit sich schleppte und der sich ihr bei jeder Gelegenheit in den Weg stellte. So hockte sie nun schon eine Viertelstunde im Nichts auf einem Mäuerchen und wartete vergeblich auf ein Taxi. Die Bushaltestelle hatte keinen entzifferbaren Namen mehr, und so hatte sie der Dame in der Zentrale nicht sofort sagen können, an welchem Ende der Stadt sie sich befand. Vera scharrte mit den Füßen. Eine Laufmasche begann von ihrem Knie aus langsam das rechte Bein hinunterzulaufen.
Fünf Minuten später, Vera überlegte, ob sie zu Fuß gehen sollte, schob sich ein eierschalfarbenes Auto gleich einem abgehalfterten Rettungsboot um die Ecke. Vera lief ihm entgegen, riss die Tür auf und ließ sich erleichtert auf die Rückbank sinken. Den Namen des Restaurants hatte sie auf einen Zettel notiert, den sie nur leider auf dem Sideboard im Flur gelassen hatte, sie konnte ihn vor ihrem geistigen Auge dort liegen sehen. Zusammen mit ihrem Telefon. Vera wies die Fahrerin an, in Richtung Innenstadt zu fahren, und versuchte, sich ihn ins Gedächtnis zu rufen. Irgend so ein moderner Fantasiename, eine erfundene Verwandte oder ein französischer Begriff? Welcher Kritiker hatte es empfohlen? Gernot hatte ihn gestern Abend...