Houellebecq Elementarteilchen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8321-8771-2
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8771-2
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
MICHEL HOUELLEBECQ, 1958 geboren, gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Seine Bücher werden in über vierzig Ländern veröffentlicht. Für den Roman >Karte und Gebiet< (2011) erhielt er den renommierten Prix Goncourt. Sein Roman >Unterwerfung< (2015) stand wochenlang auf den Bestsellerlisten und wurde mit großem Erfolg für die Theaterbühne adaptiert und verfilmt. Zuletzt erschien der Roman >Vernichten< (2022).
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Martin Ceccaldi, der 1882 in einem korsischen Dorf als Sohn einer bäuerlichen Familie von Analphabeten zur Welt kam, schien für ein Leben als Bauer und Hirte bestimmt zu sein, ein Leben mit beschränktem Aktionsradius, wie es seine Vorfahren seit einer unbestimmten Zahl von Generationen geführt hatten. Es handelt sich um eine Lebensweise, die in unseren Breiten seit langem nicht mehr anzutreffen ist und deren umfassende Analyse daher nur von begrenztem Interesse ist; da jedoch manche radikalen Umweltschützer zeitweilig eine unverständliche Nostalgie für diese Lebensweise an den Tag legen, gebe ich hier der Vollständigkeit halber eine kurze synthetische Beschreibung eines solchen Daseins: Man hat die Natur und die frische Luft, man bestellt ein paar Äcker (deren Anzahl durch ein strenges Erbfolgesystem genau geregelt ist), ab und zu schießt man ein Wildschwein; man vögelt quer durch die Gemeinde und besonders seine Frau, die Kinder zur Welt bringt; man zieht besagte Kinder auf, damit sie ihren Platz in demselben Ökosystem einnehmen, man holt sich eine Krankheit, und dann ist Sense.
Das einzigartige Schicksal, das Martin Ceccaldi zuteil wurde, ist in Wirklichkeit völlig symptomatisch für die Rolle, die die staatliche, bekenntnisfreie Schule während der gesamten Dritten Republik als integratives Element für die französische Gesellschaft sowie für die Förderung des technologischen Fortschritts spielte. Sein Grundschullehrer erkannte sehr schnell, daß er einen außergewöhnlich begabten Schüler vor sich hatte, dessen Abstraktionsfähigkeit und formale Erfindungsgabe in dem begrenzten Milieu, dem er entstammte, kaum adäquate Anwendung finden würden. Da er sich durchaus bewußt war, daß sich seine Rolle nicht darauf beschränkte, jedem künftigen Staatsbürger ein elementares geistiges Rüstzeug zu vermitteln, sondern daß er auch die Aufgabe hatte, die Eliteelemente zu entdecken, die berufen waren, sich in die Reihe der Führungskräfte der Republik einzugliedern, gelang es ihm, Martins Eltern davon zu überzeugen, daß das Schicksal ihres Sohnes zwangsläufig außerhalb Korsikas seine Erfüllung finden würde. 1894 kam der Junge daher, versehen mit einer Ausbildungsbeihilfe, als Internatsschüler in das Lycée Thiers in Marseille (das in Marcel Pagnols Kindheitserinnerungen schön beschrieben wird, einem Buch, das aufgrund der ausgezeichneten realistischen Rekonstruierung der Ideale, die eine Epoche begründen – exemplarisch verdeutlicht am Lebensweg eines begabten jungen Mannes aus sehr einfachen Verhältnissen – bis zum Schluß Martin Ceccaldis Lieblingslektüre sein sollte). 1902 bestand er die Aufnahmeprüfung für die Ecole Polytechnique und erfüllte somit gänzlich die Hoffnungen, die sein ehemaliger Grundschullehrer in ihn gesetzt hatte.
Im Jahr 1911 übernahm er einen Posten, der für seinen weiteren Lebensweg ausschlaggebend sein sollte. Er hatte den Auftrag, das gesamte algerische Territorium mit einem leistungsfähigen Wasserversorgungssystem zu versehen. Über fünfundzwanzig Jahre widmete er sich dieser Aufgabe, berechnete die Krümmung der Aquädukte und den Durchmesser der Rohrleitungen. 1923 heiratete er Geneviève July, Inhaberin eines Tabakwarengeschäfts, deren Familie, die ursprünglich aus dem Languedoc stammte, seit zwei Generationen in Algerien lebte. 1928 wurde ihnen ein Mädchen geboren: Janine.
Der Lebensbericht eines Menschen kann so lang oder kurz sein, wie man will. Die metaphysische oder tragische Variante, die sich letztlich auf die Angabe von Geburts- und Todesdaten beschränkt und traditionellerweise auf einem Grabstein zu finden ist, zeichnet sich natürlich durch ihre äußerste Kürze aus. Was Martin Ceccaldi angeht, scheint es angebracht, eine historische und soziale Dimension anzuführen, um den Akzent weniger auf die individuellen Merkmale der betreffenden Person als vielmehr auf die Entwicklung der Gesellschaft zu legen, für die das Individuum ein symptomatisches Element darstellt. Die symptomatischen Individuen führen, da sie zum einen von der historischen Entwicklung ihrer Epoche getragen werden und sich darüber hinaus bewußt für sie entschieden haben, im allgemeinen ein einfaches, glückliches Dasein; der Bericht kann in solchen Fällen daher auf ein oder zwei Seiten beschränkt werden. Janine Ceccaldi gehörte jedoch in die schwer zu erfassende Kategorie der Vorläufer. Da die Vorläufer zum einen sehr stark der von der Mehrheit ihrer Zeitgenossen geführten Lebensweise angepaßt sind, zum anderen aber darum bemüht sind, diese Lebensweise »von oben her« zu überwinden, indem sie sich für neue Verhaltensweisen einsetzen oder zur Verbreitung von noch wenig bekannten Verhaltensweisen beitragen, erfordert ihre Beschreibung im allgemeinen etwas mehr Raum, insbesondere auch deshalb, weil ihr Lebensweg oft viel gewundener und verworrener ist. Sie spielen jedoch ausschließlich eine Rolle als Beschleuniger historischer Prozesse – im allgemeinen historischer Zersetzungsprozesse –, ohne jemals den Ereignissen eine neue Richtung geben zu können, denn diese Rolle ist den Revolutionären oder den Propheten vorbehalten.
Schon sehr früh ließ die Tochter von Martin und Geneviève Ceccaldi außergewöhnliche geistige Fähigkeiten erkennen, die mindestens ebenso ausgeprägt waren wie die ihres Vaters, zu denen sich noch die Anzeichen eines äußerst unabhängigen Charakters gesellten. Sie verlor ihre Unschuld im Alter von dreizehn (was zu ihrer Zeit und in ihrem Milieu sehr ungewöhnlich war), ehe sie ihre Kriegsjahre (die in Algerien eher ruhig verliefen) damit verbrachte, die wichtigsten Bälle zu besuchen, die an jedem Wochenende stattfanden – zunächst in Constantine und dann in Algier; und all das, nicht ohne in jedem Schuljahr, im Frühjahr wie im Herbst, eindrucksvolle Zeugnisse vorzuweisen. Mit einem glänzenden Abiturzeugnis in der Tasche und mit soliden sexuellen Erfahrungen gerüstet, verließ sie 1945 ihre Eltern, um in Paris Medizin zu studieren.
Die Jahre unmittelbar nach dem Krieg waren mühselig und stürmisch; der industrielle Produktionswert war auf dem Tiefpunkt, und die Lebensmittelrationierung wurde erst 1948 aufgehoben. Jedoch innerhalb einer kleinen betuchten Randgruppe der Gesellschaft tauchten schon die ersten Anzeichen eines unterhaltsamen Libidinal-Massenkonsums auf, der aus den USA kam und sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen sollte. Während ihres Studiums an der medizinischen Fakultät in Paris konnte Janine Ceccaldi die »existentialistischen« Jahre aus nächster Nähe miterleben und hatte sogar die Gelegenheit, mit Jean-Paul Sartre im Tabou einen Bebop zu tanzen. Das Werk des Philosophen beeindruckte sie wenig, die Häßlichkeit des Mannes dagegen, die an Körperbehinderung grenzte, erstaunte sie zutiefst, so daß der Zwischenfall ohne Folgen blieb. Sie selbst, von ausgesprochen südländischem Typ, war sehr hübsch und hatte zahlreiche Liebesabenteuer, ehe sie 1952 Serge Clément begegnete, der damals gerade seinen Facharzt als Chirurg machte.
»Möchten Sie wissen, wie mein Vater aussah?« sagte Bruno viele Jahre später gern. »Nehmen Sie einen Affen, rüsten Sie ihn mit einem Mobiltelefon aus, dann haben Sie eine Vorstellung von dem Mann.« Damals verfügte Serge Clément natürlich noch nicht über ein Mobiltelefon; aber er war tatsächlich stark behaart. Kurz gesagt, er sah überhaupt nicht gut aus; aber es ging etwas ausgesprochen Männliches und Unkompliziertes von ihm aus, das die junge Assistenzärztin wohl betörte. Außerdem hatte er hochfliegende Pläne. Eine Reise in die USA hatte ihn davon überzeugt, daß die Schönheitschirurgie einem ehrgeizigen Arzt beträchtliche Zukunftsmöglichkeiten bot. Die allmähliche Ausweitung des Markts der Verführungsindustrie, die damit verbundene Auflösung der traditionellen Ehe, der zu erwartende wirtschaftliche Aufschwung Westeuropas: all das deutete übereinstimmend darauf hin, daß auf diesem Sektor ausgezeichnete Wachstumschancen zu erwarten waren, und es war Serge Cléments Verdienst, diese Situation als einer der ersten in Europa – und zweifellos als erster in Frankreich – erkannt zu haben; sein Problem bestand nur darin, daß ihm das nötige Startkapital für dieses Vorhaben fehlte. Martin Ceccaldi, der von der Unternehmungslust seines zukünftigen Schwiegersohns positiv beeindruckt war, erklärte sich dazu bereit, ihm Geld zu leihen, und 1953 konnte die erste Klinik in Neuilly eröffnet werden. Der Erfolg, der durch die Berichterstattung in den Frauenzeitschriften unterstützt wurde, die zu jener Zeit einen Boom erlebten, war tatsächlich überwältigend, und 1955 konnte eine weitere Klinik auf den Anhöhen von Cannes eröffnet werden.
Das Paar führte damals das, was man später eine »moderne Ehe« nennen sollte, und es war eher Janines Unaufmerksamkeit zuzuschreiben, daß sie ein Kind von ihrem Mann erwartete. Dennoch beschloß sie, das Kind zu behalten; die Mutterschaft, so meinte sie, gehörte zu den Erfahrungen, die eine Frau machen mußte; die Schwangerschaft stellte sich im übrigen als eine eher angenehme Zeit heraus, und Bruno wurde im März 1956 geboren. Die mühselige Pflege, die das Aufziehen eines kleinen Kindes erfordert, erschien dem Paar sehr bald unvereinbar mit ihrem Ideal der persönlichen Freiheit, und so wurde Bruno 1958 in gegenseitigem Einvernehmen zu seinen Großeltern mütterlicherseits nach Algier geschickt. Zu jenem Zeitpunkt war Janine erneut schwanger; doch diesmal war Marc Djerzinski der Vater.
Von entsetzlichem, an Hungersnot grenzenden Elend getrieben, verließ Lucien Djerzinski 1919 das Bergbaurevier von Kattowitz, wo er zwanzig Jahre zuvor geboren war, weil er hoffte, in Frankreich Arbeit zu finden. Er begann als Arbeiter bei der...




