E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Huysmans / Hemjeoltmanns Trugbilder
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-423-40412-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-423-40412-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joris-Karl Huysmans wurde am 5. Februar 1848 in Paris geboren und starb dort am 12. Mai 1907. Er war mittlerer Ministerial-Angestellter und französischer Schriftsteller.
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I
Ihre Zigarren qualmten und stanken wie Rauchkohle. Während Cyprien seine Hose, die aufgegangen war, zuknöpfte, rief er:
»Zwei Stunden lang in einer Ecke herumsitzen, zappelnden Hampelmännern zusehen, Handschuhe beschmutzen und Gläser verschmieren, ständig auf der Hut sein, sich wegstehlen, sobald die Hausherrin auf der Suche nach einem Tanzopfer wie ein Wilderer durch die Räume streicht, wenn du das angenehm nennst, obwohl du dich, seit man dich verheiratet hat, daran gewöhnt haben magst, nun, dann bist du nicht wählerisch.«
André zuckte die Achseln, spuckte Tabaksaft aus, der ihm wie Pfeffer im Mund brannte, und sagte nur:
»Pah, man gewöhnt sich daran!«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Sie gingen langsam nebeneinander her, als es Mitternacht schlug. Zwei Turmuhren vermischten ihre Klänge; die eine, in der Ferne, ertönte schwach und eine Sekunde später als die andere; die nähere schlug hell, fast heiter die Stunde.
Die beiden jungen Leute folgten der Straße, die verlassen dalag, und ihre Schritte hallten auf dem Trottoir deutlich wider. Ihre Schatten brachen sich bald an der Front der geschlossenen Läden, bald gingen sie, einmal blaß, dann dunkler, flach ausgestreckt auf dem Gehwegpflaster vor ihnen her oder folgten ihnen nach. Oft schoben sie sich ineinander, überlagerten sich, vereinigten sich an den Schultern, bildeten nur noch einen Stamm mit einem Astwerk aus Armen und Beinen, von zwei Häuptern überragt; manchmal trennten sie sich, schrumpften unter ihren Füßen zusammen oder verlängerten sich übermäßig und verloren ihre Köpfe in den Buchten der Toreinfahrten.
Der Himmel glich einer herabstürzenden düsteren Geröllhalde. Über den Häusern, von den Dächern schroff abgeschnitten, wälzten sich große Wolken wie Qualm aus Fabrikschloten, dann öffneten sich zwischen den ungeheuren Wolkenbänken riesige Lücken, in denen Fetzen des Sternenhimmels mit weißen Lichtern funkelten, bald wieder erlöschend unter dem dichten Schleier vorbeiziehender Wolken.
Im Schlaglicht der in größeren Abständen brennenden Gaslaternen traten Häuserwände aus der Dunkelheit hervor. Der immer wieder von Rinnen durchquerte Bürgersteig war trocken, und die Fugen des Pflasters zeichneten sich dunkel ab. Eine Abflußöffnung am Straßenrand, ein gußeiserner Deckel mit einem Loch in der Mitte, glänzte an einigen von den Schuhen stärker abgetretenen Stellen. Küchenreste, Gemüseabfälle und Plakatfetzen verrotteten in einer Pfütze. Eine Ratte schlüpfte in ein Abwasserrohr.
Als André und Cyprien das Ende dieser Straße erreicht hatten und in eine andere einbogen, die noch mit Leben erfüllt und besser beleuchtet war, schlug es halb. Ein Weinhändler war dabei, seine Schaufenster zu schließen. Hinten in der Wirtschaft in einem durch Milchglasscheiben abgetrennten Saal deckte ein Kellner den Billardtisch zu und wischte die auf der Bande zurückgebliebenen Kreidespuren mit einem Tuch ab; ein anderer, der nur von hinten zu sehen war, spülte im vorderen Raum über einen Zuber gebeugt Flaschen aus, wobei er Nacken und Hüften wie ein watschelndes Geflügeltier bewegte; ein dritter karrte zwei mit Lorbeer bepflanzte Faßhälften weg, und auf dem Bürgersteig markierten zwei schmutzige Flecken die Stelle, wo sie gestanden hatten.
Der Ladeninhaber machte sich daran, die Türschwelle naß zu reinigen. Einen Eimer zwischen den Beinen gähnte er, reckte sich mit erhobenen Armen und geballten Fäusten, und hinter ihm kommandierte seine Frau, den Hintern auf einer Bank platt gedrückt, den Busen auf der Kante des Schanktisches ausgebreitet, die Kellner herum, zupfte sich Nasenhaare aus und überprüfte die Kasse.
Die Straße war fast still; zwei Polizisten gingen melancholisch vorbei, unterhielten sich leise, blieben ab und zu stehen, setzten dann ihre Runde fort; begleitet von einem dumpfen Rollen zog in der Ferne ein ekelerregender Trupp Kloakenreiniger vorüber, trieb vor numerierte Fässer und Wagen voller Röhren und Pumpen gespannte Pferde mit Peitschenhieben an.
Der Lärm wurde unbestimmter und schwächer. Man hörte nur noch das kreischende Geräusch einer Droschke, die plötzlich auftauchte, die Lampen brannten, der Kutscher schlief unter seiner Mütze aus gummiertem weißen Leder, die wie ein Toiletteneimer aussah, das Kinn in den Hals gezogen, die Peitsche im Halter, die erschöpften Gäule strauchelten, zogen den Rumpelkasten holpernd durch die Straße; dann verklang der Lärm, das Rasseln der Schaufensterläden, die herabgelassen wurden, verebbte, das Viertel fiel in Schlaf, alles verstummte.
Cyprien brummte weiter in seinen Bart; seine Laune wurde nach dem Abend, den er hatte über sich ergehen lassen müssen, immer schlechter. Er lästerte über die Getränke, über die Frauen, behauptete, der Punsch sei fertig zubereitet bei einem Kolonialwarenhändler gekauft und mit Wasser verdünnt gewesen, um ihn zu desinfizieren; er leugnete den Charme der auf dem Klavier klimpernden oder Eis naschenden Töchter, er machte sich über den Herrn des Hauses lustig, der sich in der Nähe des Klaviers postiert hatte, um pflichtschuldig zu lächeln, und er fuhr fort:
»Wirklich reizend, die Abendgesellschaften deines Onkels! Ein Gedränge wie in einem Wartesaal! Nur die Leute, die Fettflecken auf die Karten machen, haben das Recht, Platz zu nehmen! Und da sitzen sie mit ihren kahlgewordenen Schädeln, den weißen Binden um den Hals, den aufgeblähten Bäuchen, eingezwängt in enge Hosen, die die Winde einer beschwerlichen Verdauung zurückhalten! Und der Salon, mit der Zurschaustellung alter Damen, die an der Wand entlang auf ihren Stühlen schlafen oder, die Nase über ein Glas gebeugt, schwatzen, und der Sturzbach der Unterhaltung, die Flut der Albernheiten, die Berieselung durch Polka- und Walzermusik! All das, und dazu diese Horde von Dummköpfen, die rosa und weiße Abendkleider auffordern, ihre Falten zu schwingen! Und erst die jungen Mädchen! Diese anbetungswürdigen Gefäße aus frischem Fleisch, angefüllt mit den Lastern ihrer Mütter, die sich in ihnen verjüngen! O ja, laß uns von ihnen sprechen! Man muß sie sehen, wenn sie stampfend ihre Röcke bewegen! Da sitzen sie mit ihrem Schmollmund, das Taschentuch auf den Knien, zieren sich auf ihren Stühlen, tauschen flüsternd hinter vorgehaltenen Fächern wie Schulmädchen in der Klasse ihre schlüpfrigen Dummheiten aus, fliegen plötzlich auf mit dem schrecklichen Kreischen freigelassener Papageienweibchen! Dann die tiefen Knickse der Ehrerbietung, die krausen Nasen, die blitzenden Gebisse, das ›ja, Mama‹, das ›nein, mein Liebes‹, das sinnlose Geplapper, das schelmische Lächeln, das heimliche Gekicher... die jungen Mädchen! Ich habe sie heute abend genau beobachtet: körperlich gesehen ein Angebot unreifer Brüste und künstlich ausstaffierter Hinterteile; geistig gesehen eine Unendlichkeit an tödlicher Einfallslosigkeit, ein Misthaufen an Gedanken in einem rosigen Lockenkopf! Ja, so sind sie, die man mir zudenkt in der Hoffnung, daß der Tag kommen wird, an dem ich es leid sein werde, in meinem Bett zu lesen und dort in aller Ruhe meine Pfeife zu rauchen und statt dessen das Elend des geteilten Betts, die Schlaflosigkeit oder das Schnarchen eines anderen, die Ellbogen- oder Fußpüffe, die Strapazen erwarteter Zärtlichkeiten und die Langeweile vorauszusehender Küsse auf mich nehmen werde!«
André lachte.
»Nun ja«, sagte er, »aber dann ist alles sehr einfach.– Aus deinen Theorien folgt: die Hinterlegung aller Leidenschaften im Pfandhaus, die Apotheose der Freudenmädchen – eine Liebe für drei Sous in Nebenzimmern!– und obendrein die Verherrlichung der Haushälterin, die dir Kerzen und Zucker stibitzt!
Ja, es ist amüsant, ein Feuerwerk der Paradoxe abzubrennen, aber der Augenblick kommt, wo die bengalischen Feuer feucht werden und nicht mehr zünden!– Dann vergeht einem das Lachen – ich habe genau deshalb geheiratet, weil dieser Moment gekommen war, weil ich es leid war, das von der Haushälterin oder der Concierge zubereitete Abendessen kalt aus einem Tongeschirr zu essen. – Ich hatte Hemdbrüste, die klafften und ihre Knöpfe verloren, und ungestärkte Manschetten – so wie die deinen–, ich hatte nie Lampendochte oder saubere Taschentücher zur Hand. – Wenn ich im Sommer morgens das Haus verließ und erst abends wieder zurückkam, war mein Zimmer ein Glutofen, weil die Vorhänge und die Rouleaus der Sonne wegen geschlossen geblieben waren; im Winter war es ein Eiskeller, weil zwölf Stunden lang nicht geheizt worden war. Ich hatte das Bedürfnis, endlich keine abgestandenen Suppen mehr zu essen, bei Einbruch der Dunkelheit Licht zu haben, in saubere Tücher zu schneuzen, mein Zimmer je nach Jahreszeit kühl oder warm vorzufinden. – Und auch du wirst dahin kommen, mein Guter; im Ernst, ist das ein Leben, wie ich es geführt habe, und wie du es immer noch führst? Ist das ein Leben, wenn das Herz ständig vom Schmutz der Dirnen besudelt wird; ist das ein Leben, wenn man sich nach einer Mätresse sehnt, so lange man keine hat, sich zu Tode langweilt, sobald man eine besitzt, wenn es einem die Seele zerreißt, sobald sie einen verläßt, und es einen nur noch mehr anödet, wenn eine neue ihren Platz einnimmt? O nein, das kann es nicht sein! Dummheiten hin, Dummheiten her, die Ehe ist besser. Sie macht die Begierde reizlos und dämpft die Sinne. Und das ist noch nicht alles! Sie hat auch noch andere Vorteile, mein Lieber, sie ist eine Sparkasse, in die man für die Pflege seiner alten Tage einzahlt! Sie gibt einem das Recht, seinen Groll auf dem Rücken eines anderen abzuladen, sich bei Bedarf bedauern und manchmal auch lieben zu lassen!
Ach, wenn es ein Brechmittel gäbe, mit dessen...




