E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Ibbotson Der Modesalon des Glücks
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-311-70507-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-311-70507-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eva Ibbotson, 1925 als Maria Charlotte Michelle Wiesner in Wien geboren, 2010 in Newcastle upon Tyne, England gestorben, floh 1933 vor den Nazis aus Österreich. Nach der Trennung ihrer Eltern - ihre Mutter war die Schriftstellerin Anna Gmeyner, ihr Vater der Physiologe Berthold P. Wiesner - wuchs sie in einem Kinderheim auf. Nach Kriegsende studierte sie zunächst Physiologie, später Erziehungswissenschaften und arbeitete dann als Lehrerin. Sie heiratete ihren Kollegen Alan Ibbotson und bekam vier Kinder mit ihm - als das jüngste in die Schule kam, schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. In Das Geheimnis von Bahnsteig 13 erfand sie ein geheimes Gleis im Londoner Bahnhof King's Cross, das J. K. Rowling zu Gleis neundreiviertel inspirierte. Viele von Ibbotsons Romanen, darunter auch mehrere für Erwachsene, waren Bestseller.
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31. März 1911
Madensky-Platz, Wien
Heute Morgen wachte ich besonders gut gelaunt auf.
In meiner Phantasie sah ich ein Kleid vor mir – beinahe fertig, beinahe greifbar: cremefarbene Seide, der Rock dicht mit Volants aus cremefarbener Klöppelspitze besetzt, das Oberteil in Biesen genäht, aber sonst schmucklos bis auf eine einzelne Rose. Als ich zu Bett gegangen war, war ich mir noch unschlüssig gewesen, welche Farbe diese haben sollte, aber beim Aufwachen wusste ich, sie musste ebenfalls cremefarben sein: eine Rose im selben Farbton, ein wenig verblüht, fast welk …
»Frau Susanna, Ihnen fliegen die Kleider zu wie Schubert seine Musikstücke«, sagte eine Kundin mal zu mir, und ich Dummkopf freute mich so über das Kompliment, dass ich für die Änderungen an ihrem Cape einen viel zu geringen Betrag in Rechnung stellte.
Doch die Vorstellung von diesem Kleid war nicht das Einzige, was mich heute früh froh stimmte. Noch ehe ich die Fensterläden öffnete, wusste ich, dass sich der scharfe Ostwind gelegt hatte und der Frühling endlich gekommen war.
Beim Aufstehen warf ich einen Blick in den Spiegel über der Kommode; auch in dem grellen Morgenlicht konnte ich mich noch immer sehen lassen. Ich bin sechsunddreißig, aber ich hätte sie tragen können, die cremefarbene Robe mit den Glockenärmeln und der Seidenrose.
»Faszinierend, wie aus deinen eigenwilligen Zügen perfekte Schönheit entsteht«, sagte einmal jemand zu mir. »Zu großer Mund, zu breite Stirn, Wangenknochen wie ein böhmischer Bauer … Aber die Augen – und das Haar … Wunderschön!«
In Wahrheit hat das nicht irgendwer gesagt, sondern Feldmarschall Gernot von Lindenberg, und der ist nicht »irgendjemand«.
Eine Sekunde lang sah ich im Spiegel, was er gesehen hatte, dieser ungestüme, alternde Mann, als er mein Gesicht mit seinen Händen umschlossen hatte. Dann blinzelte ich und fand mich wieder einer ganz gewöhnlichen Frau gegenüber – blondes Haar, blaue Augen, nicht mehr ganz jung.
Ich wohne auf einem kleinen Platz in der Innenstadt, direkt über meinem Laden. Die Glocken des Stephansdoms läuten die Uhrzeit für mich, und bis zur Oper sind es zu Fuß nur zwölf Minuten (in Wien misst man jede Strecke in Bezug auf die Oper!), aber dennoch lebt es sich hier so ruhig wie auf dem Land. Mein Schlafzimmer und das Bad, das ich (zur Belustigung der Handwerker) unbedingt einbauen wollte, gehen zum Hinterhof hinaus, das Wohnzimmer und die Küche – sowie natürlich der Modesalon – nach vorn auf den Madensky-Platz.
Ich hatte recht gehabt, was den Frühling anging. Während ich darauf wartete, dass das Wasser für meinen Kaffee kochte, lehnte ich mich, noch immer im Kimono, aus dem Fenster. Das Wasser im Brunnen glitzerte, der von Tauben belagerte Messingkopf des Oberst Madensky glänzte in der Sonne. Die Luft war warm, und aus den Geschäften und Hauseingängen stiegen verführerische Gerüche zu mir herauf, die im Winter nur zu erahnen sind: frisches Brot … Vanille … Sattelseife.
Als ich den Platz vor acht Jahren zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass ich dort wohnen und meinen Laden haben wollte. Hier gibt es einfach alles: einen Brunnen, ein Denkmal, ein Café – sogar unsere eigene kleine Kirche. In der Mitte des Brunnens steht zwar keine steinerne Heldengestalt oder Göttin mit Füllhorn, wie ich es mir früher gewünscht hätte, sondern nur der Schutzheilige des Feuers (und der Feuerwehrautos), Florian, eine sanfte Gestalt mit einem steinernen Eimer, mit dem er alle Flammen löscht, die ihm in die Quere kommen. Die Kirche, deren kleiner Friedhof die Westseite des Platzes einnimmt, ist ihm geweiht. Sie gleicht eher einer Dorfkirche: weiß getüncht und mit einem Zwiebelturm, drinnen nur eine schlichte Madonna, aus Holz geschnitzt, mit einem Jesuskind auf dem Schoß. Ich kenne alle Gräber auf dem Friedhof: Familie Steiner (Geranien), Familie Heinrid (Kruglilien), Familie Schmidt (vernachlässigt und zugewuchert, aber überall im Gras sprießen wilde Glockenblumen).
An der Ostseite schirmen fünf Kastanien den Platz gegen die belebte, schmale Walterstraße ab; und dort steht mit dem Rücken zum Verkehr General Madensky auf seinem Sockel. Ich hätte ihn gern hoch zu Ross gesehen – da wäre auch für die Tauben mehr Platz geblieben –, doch dafür war er wohl nicht bedeutend genug.
Er hatte in den italienischen Feldzügen gekämpft und war in der Schlacht von Solferino gefallen, eine tragische Schlacht, bei der alle verloren. Der Kaiser verlor seinen Ersten Offizier im Nebel, die Offiziere verlegten ihre Truppen, und Österreich verlor die Lombardei und Venedig. Madensky soll ein freundlicher Mann gewesen sein. Er wollte, dass alle seine Soldaten dunkle Schnurrbärte trugen, und verteilte Farbe an diejenigen, die das Pech hatten, mit hellem Haar geboren worden zu sein. Man erkennt das in seinem Gesicht: den Wunsch, dass die Dinge geordnet und simpel sind.
Aus dem Fenster konnte ich unten auch das Schild meines Ladens sehen. Anfangs wusste ich nicht, wie ich ihn nennen sollte; dann entschied ich mich einfach für meinen Vornamen: Susanna. Und es funktionierte! »Wir treffen uns bei Susanna«, sagten die Leute jetzt, oder: »Geh zu Susanna, die findet schon das Richtige für dich!«
Es gibt nur drei Läden auf dem Platz, alle an der Südseite: rechts von mir ein Antiquariat, links ein Sattler. Ich in der Mitte – zwei Schaufenster, Rahmen und Tür glänzend goldschwarz lackiert – wirklich schön!
Gegenüber, im Café an der Ecke Walterstraße, war Joseph dabei, Tische und Stühle auf den Bürgersteig zu stellen, das sicherste Zeichen, dass der Frühling angebrochen war. Das Café Strauß ist nicht gerade ein Literatentreffpunkt: Jeritza wird hier auf dem Heimweg von der Oper kaum Station machen, und Hugo von Hofmannsthal schreibt seine Oden anderswo. Zwanzig Leute in das Café zu quetschen wäre schon eine reife Leistung, aber Josephs Eier im Glas sind berühmt, und das Mohnkipferl-Rezept seiner Mutter stammt noch aus der Zeit der türkischen Besatzung.
Ebenfalls gegenüber, allerdings auf der anderen Seite neben der Kirche, in dem hellgrünen Biedermeierhaus der Schumachers, hängte Lisl, das Dienstmädchen, ihr Federbett aus dem Mansardenfenster. Dann verschwand sie, und ich wusste, sie lief nach unten, um Frau Schumacher, die ihren langersehnten Sohn erwartete, das Frühstück ans Bett zu bringen. Zur Familie Schumacher gehören sechs kleine Mädchen: Mitzi und Franzi; Steffi und Resi; Kathi und Gisi – aber das neue Baby wird bestimmt ein Junge. Niemand kann sich vorstellen, dass der liebe Gott es über sich bringt, Herrn Direktor Albert Schumacher schon wieder zu enttäuschen, wo er doch unbedingt einen Erben für seine Holzhandlung braucht. Lisl, die im Kloster erzogen wurde, hat versprochen, uns sofort nach der Geburt ein Signal zu geben. Bei einer guten Nachricht wird sie ein weißes Handtuch heraushängen, andernfalls eine schwarze Schürze.
»Wie Theseus mit seinem Segel, Frau Susanna«, erklärte sie.
Niemand nennt mich Fräulein Susanna, obwohl ich nie verheiratet war. Auch meinen Nachnamen, Weber, verwendet kein Mensch, der taucht nur auf Rechnungen und Lieferscheinen auf.
Nun wartete ich noch auf das Ereignis, das bei uns den eigentlichen Tagesbeginn einläutet: Die Tür des schäbigen Wohnhauses direkt gegenüber öffnete sich, ein kurzbeiniger schwarzer Schnauzer, am Halsband eine Geldbörse, watschelte wichtigtuerisch die drei Stufen hinunter und bog in die Walterstraße ein. Bis er die für seine Herrin, die Hausmeisterin Frau Hinkler, geholt hat, ist Rip geistesabwesend und unzugänglich, doch sobald die druckfrische Zeitung ihr zu Füßen liegt, widmet er sich den öffentlichen Belangen, hockt im Hauseingang und wägt ab, was er zulassen kann und was er verhindern muss. Er hat den Quadratschädel eines Schnauzers und den Schwanz einer Bisamratte, aber seine Träume und seine kurzen Beine erinnern eher an Napoleon.
Bis ich den Kaffee aufgebrüht und zum Fenster mitgenommen hatte, waren die Chorknaben unter der Obhut von Pater Anselm aus dem Pfarrhaus neben dem Sattler gekommen. In St. Florian wird nur einmal wöchentlich eine Messe gesungen, sodass der Knabenchor unter der Leitung des Paters auch in anderen Kirchen auftritt. Die süßen kleinen Jungen mit ihren scharlachroten Mänteln und marineblauen Hosen werden oft auf Schritt und Tritt von gefühlvollen Seufzern begleitet, aber ich seufzte nicht. Wie immer galt meine besondere Aufmerksamkeit Ernst Bischof, dem Meisterschüler. Seine Mozart-Soli rühren die Gemeinde zu Tränen, aber er ist ein wahrer Satansbraten. Ich konnte gerade noch sehen, wie der liebe Kleine einem anderen Jungen einen heftigen Tritt vors Schienbein verpasste. Den Tag von Ernst Bischofs Stimmbruch werden Frau Schumacher und ich mit Champagner feiern.
Und jetzt kamen nach und nach die vertrauten Gesichter der Leute, die den Platz regelmäßig als Abkürzung zu den Trambahnen an der Ringstraße nutzen.
Professor Starsky trug heute einen ziemlich ramponierten Strohhut, unter dem sein schütteres graues Haar wie ein Heiligenschein hervorstand. Er kommt jeden Morgen vorbei und trägt meistens irgendein braunes Paket bei sich: eine Eidechse mit Lungenproblemen oder eine Schildkröte, die in ihrem Panzer verendet ist. Er ist Professor für Reptilienkrankheiten, und die Menschen schicken ihm ihre Lieblinge aus dem ganzen Königreich. Als er mich sah, wie ich mich wie Rapunzel ungebührlich aus dem Fenster lehnte, lüftete er den...