E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Keil Himmel hinter Gittern
2. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7578-3642-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meine Stasihaft in der DDR
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-7578-3642-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meine Zeit der Stasihaft von fast drei Jahren, war für mich alles andere als ertragbar. Dieses Buch beinhaltet schwere Zeiten, traumatisierende Erlebnisse, sexuellen Missbrauch durch andere Mithäftlinge, das Wegschauen von Volkspolizisten, wie diese offiziell genannt wurden, meinen vollständigen Zusammenbruch und das ganz langsame Zusammensammeln meiner Knochen, meiner Seele und das Ende, an dem alles gut war. Wenn Sie möchten, lade ich Sie ein, mit mir durch drei Jahre Stasihaft zu gehen, umzufallen, zu kriechen, liegen zu bleiben, aber auch wieder aufzustehen und aufrecht in einen Bus einzusteigen, den ich bis heute nicht vergessen habe und ganz sicher auch nie vergessen werde. An einigen Stellen musste ich meine Gefühle ausschalten um Überleben zu können.
1963 in Ostberlin geboren 1965 einjähriger Aufenthalt im Kinderheim 1966 Umzug mit der Familie nach Fried-richsfelde 1980 Abschluss an der Polytechnischen Oberschule 1980-82 Ausbildung zum Elektromon-teur/anschließend als Triebfahrzeugführer der S-Bahn tätig 13. Juli 1986 Festnahme durch die Stasi 1986-89 politische Haft in Berlin Hohen-schönhausen, Cottbus, Schwarze Pumpe und Karl-Marx-Stadt 8. April 1989 Freikauf durch die BRD 1994 erstmalige Einsicht in die Stasi-Akten Viel mehr an Informationen finden Sie in seinem Buch: Wertvolle Freiheit und auf www.gerdkeil.de
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Geplante Flucht
Am 13. Juli hatte ich dieselbe Strecke mit der S-Bahn, als Triebfahrzeugführer, zu fahren wie bereits einen Tag zuvor. Sie sollte sich heute dennoch nicht wiederholen – nie wieder . Dieser Tag sollte so ganz anders werden als alle anderen zuvor in meinem Leben. An diesen Tag werde ich mich mein gesamtes weiteres Leben erinnern. Dieser Tag war der Anfang vom Ende. An diesem Tag bewahrheitete sich das Sprichwort: „Man soll den Tag nie vor dem Abend loben.“ Nach unserem ausgedehnten Frühstück ging ich gemeinsam mit meiner Freundin Heike zum Bahnhof Ostkreuz. Dieser Weg schien heute viel kürzer als sonst zu sein. Vielleicht, weil sich immer wieder meine Flucht im Kopf abspielte, vielleicht auch, weil wir beide wussten, dass wir uns womöglich lange nicht mehr sehen würden. Vielleicht würden wir uns nie wiedersehen. Wenn die Flucht misslang, könnte ich eingesperrt oder sogar erschossen werden. Wenn ich nicht erschossen werde, was würde die Stasi mit meiner Heike machen? Heike ist so ein zartes, liebevolles, warmherziges und wunderschönes Mädchen. Kennengelernt haben wir uns an unserem ersten Schultag. Wir machten viel Unsinn, stritten und versöhnten uns und im Lauf der Jahre entstand zwischen uns eine Jugendliebe, die uns in den siebten Himmel begleitete. Aber auch blind vor Liebe machten, dass wir die schwarzen Wolken über uns erst bemerkten, als wir nicht mehr entfliehen konnten. Eine gemeinsame Flucht war undenkbar und wir entschieden uns dazu, dass ich die Flucht antreten sollte und mein kleines Sternenäuglein Heike, zwar zurücklasse, aber nachhole sobald ich die Chance dazu hätte. Mir gingen so viele Schreckensszenarien durch den Kopf, die ich hier gar nicht alle aufschreiben kann. Meine schlimmsten Vorstellungen sollten noch übertroffen werden. Ich ahnte nicht, wozu die Stasi im Stande sein würde. Dass es sie gab, wusste jeder, aber was sie zu tun in der Lage war, war mir und jedem anderen nicht bekannt. Es sei denn, seine oder ihre Arbeitsstelle war „VEB Guck und Horch“ oder „die Firma“ wie die Stasi umgangssprachlich auch genannt wurde. Vielleicht würde aber auch … wer weiß. Ich brauchte sonst etwa zehn Minuten zum Bahnhof, heute waren es gefühlte fünf. Heike wollte wieder nach Hause zu ihren Eltern. Diese Wohnung lag zwischen den Bahnhöfen Warschauer Straße und Ostbahnhof. Daher wollte sie mit mir bis zum Ostbahnhof mitfahren. Genau in die Richtung, in die ich auch nach der Ablösung mit der S-Bahn fahren würde. Ich freute mich, denn so hatten wir noch drei Minuten länger etwas voneinander. Drei Minuten mehr, die gerade heute so viel an Bedeutung gehabt hätten. Drei Minuten, die für uns beide die schönsten dieses Tages geworden wären. Auf dem Bahnhof angekommen, erfuhr ich, dass ich heute nicht dieselbe Strecke wie gestern fahren würde, sondern eine andere Linie zu übernehmen hatte. Das kam mir sehr merkwürdig vor. War ich womöglich verraten worden? Wenn ja, wer kam dafür infrage? Heike auf keinen Fall, dafür würde ich mich ins Feuer legen. Schließlich wusste ich, wie mein Sternenäuglein war und dass sie mich um keinen Preis der Welt verraten hätte. Ich erfuhr nur noch, dass dies eine Anweisung von dem Kollegen war, der bei uns als Parteiboss tätig war. Ich wusste also, wem ich diesen Dienst zu verdanken hatte. Unter uns Kollegen war diese Strecke die „Straßenbahnlinie“. Der Name kam von der Kürze der Strecke. Es war ein ständiges Hin- und Herfahren zwischen Warschauer und Otto-Winzer-Straße. Also blieb ich auf dem Bahnsteig D, statt auf den Bahnsteig A zu gehen. Meine Heike konnte auch nur bis zur Warschauer Straße mitfahren. Dort angekommen, verabschiedeten wir uns voneinander – leider viel zu kurz, um auf gar keinen Fall Aufsehen zu erregen – und sie lief von dort zu ihren Eltern nach Hause. Aber die Zeit für einen langen, innigen Kuss, gegenseitigem Streicheln und einer Liebeserklärung ließen wir uns trotzdem. Schließlich war sie gar nicht und ich noch nicht auf der Flucht. Heike konnte mich und ich konnte sie auch nie einfach so gehen lassen. Dazu liebten wir uns viel zu sehr. Meist wussten wir nicht wer wen zuerst loslässt oder wer von uns beiden zuerst mit dem Küssen aufhören sollte. Und jetzt, wussten wir nicht einmal was morgen sein würde. Wir drückten uns fest und streichelten uns an jeder Stelle, die wir so erreichen konnten. Ich hätte weinen können, so traurig war ich über den kurzen Abschied, denn ich wusste ja, dass dies ein Abschied für zumindest lange Zeit war. Ich hätte meine Wut über dieses Unrechtssystem laut herausschreien können. Aber wozu? Sollte ich so etwa meine Verhaftung riskieren? Nein, auf keinen Fall. Ich war fest entschlossen, diesem Staat – wie er offiziell hieß – den Rücken zu kehren. Wenn ich erst in Westberlin war, konnte ich ja hierherkommen, um meine Freundin und meine Freunde zu besuchen. Das dachte ich zumindest zu der Zeit noch. Eine Familie hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht wirklich. Zuhause bei meinen Eltern war ich mit 17 Jahren rausgeworfen worden, weil ich auf einer Geburtstagsfeier war und nachts nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause kam. Etwa zwischen 01:30 Uhr und 03:30 Uhr fuhren innerhalb der Woche keine öffentlichen Verkehrsmittel und ein Taxi zu erwischen, wäre beinahe aussichtslos gewesen, außerdem hätte ich mir das nicht leisten können von meinem Lohn als Lehrling. Als ich am nächsten Tag vor der Wohnungstür stand, sagte meine Mutter zu mir, dass ich gleich dahin gehen kann, wo ich in der letzten Nacht auch gewesen bin. Sie packte gemeinsam mit meinem Papa einen großen Koffer voll mit meinen Sachen. Mein Tonbandgerät, meine Schallplatten und einige Bilder packten sie auch noch hinein. Ich stand wort- und reglos daneben und verstand die Welt nicht mehr. Schließlich hatte ich doch auch Bescheid gesagt, dass es eventuell sehr spät werden kann, bis ich wiederkomme. Aber ich war eben nicht mein Bruder, der als Kronsohn natürlich absolut frei von jedem Fehler war. Das aus mir nichts werden konnte, hatte meine Mutter nicht nur einmal zu mir gesagt. Das sie mich in einen Sack stecken, diesen zubinden, einen Stein daran befestigen und alles zusammen in die Spree werfen könnte, hörte ich nur einmal als wir über die Spree liefen und ich etwa sechs Jahre alt war. Aber zurück zum 13. Juli 1986. Egal, welche Repressalien der Stasi noch einfallen würden, in neun Stunden war Schluss damit und ich bin endlich in Freiheit. Auch an diesem Tag war es warm, auch an diesem Tag schien die Sonne, auch an diesem Tag fuhr ich mit geöffnetem Fenster durch die Stadt, auch an diesem Tag waren die Menschen freundlich und natürlich. Aber an diesem Tag sollte ich nicht mehr nach Hause kommen! Das Herz, das meine Heike für mich an den Spiegel gemalt hatte, sollte ich nicht mehr sehen und erst dreiundzwanzig Jahre später davon erfahren. Ich ging traurig vom Dienst nach Hause. Vierzehn Jahre lang war ich mit ihr befreundet gewesen, bis im Sommer 1985 Liebe daraus geworden war. Wir konnten gar nicht genug voneinander bekommen. Eine Liebe, die ich in meinem Leben nie vergessen habe. Und das nicht nur weil es die erste Liebe war. Seit der zweiten Klasse hatten wir in der Schule hintereinander gesessen. Wir waren im siebten Himmel und die rosarote Brille wollte nur noch rot werden. Rot wie die Herzen, die wir uns in unserer Küche gegenseitig, mit ihrem Lippenstift, an den Spiegel malten. Wir wohnten gemeinsam in einer Berliner 2-Zimmer-Altbauwohnung mit Innentoilette. Zuvor hatte ich mit viel Glück und einem Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit eine 1-Zimmer-Albauwohnung mit Außentoilette, also eine halbe Treppe höher, bekommen. Diese teilte ich mir mit einer jungen Frau, die genau über mir wohnte, einem älteren Paar neben ihr und einem jungen Mann mir gegenüber. Der Satz „Ruinen schaffen ohne Waffen“, hatte in der DDR, Realitätscharakter. Und er war realer als der real existierende Sozialismus, den Erich Honecker so oft pries. Wir, mein Sternenäuglein und ich, hätten vor lauter Glück die ganze Welt umarmen können. Es war eine wunderschöne Zeit. Wir haben gelebt, gelacht, geweint und geliebt. Alles, was ein junges Paar gern gemeinsam tut. Wir waren in der jungen Gemeinde und engagierten uns in der Umwelt- und Friedensbewegung. Zum Heiraten hatten wir uns nicht entschlossen und ein Kind hätten wir sehr gern gehabt, aber was wäre aus dem Kind geworden, wenn wir wegen unserer oppositionellen Haltung in diesem System eingesperrt worden wären. Dazu brauchte die Staatsmacht nicht viel und schon konnte dies geschehen. Aber zum Rotwerden unserer rosaroten Brille sollte es nun nicht mehr kommen, denn meine eigene Flucht stand unmittelbar bevor. Mir schlug das Herz bis in die kleinen Zehen. Was sollte aus uns werden? Wann würden wir uns wiedersehen? Würden wir uns noch mal wiedersehen? Diese und andere Gedanken schossen mir durch den Kopf, doch schneller als ich dachte, sollten all diese Gedanken wertlos sein. Wir sind doch noch so jung. Soll das jetzt alles...