Kellermann | Der 9. November | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Kellermann Der 9. November

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8062-4637-7
Verlag: wbg Theiss
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-8062-4637-7
Verlag: wbg Theiss
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der erste Bestseller der jungen Weimarer Republik und ein einzigartiges Zeitdokument deutscher Geschichte

Ein Kriegsroman, ein Antikriegsroman, eine Gesellschaftskritik und ein Großstadtroman – Bernhard Kellermann lieferte 1920 mit seinem Werk eine Abrechnung mit dem Kaiserreich und seinen straffen militärischen Strukturen. Eindringlich schildert er darin auch die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Gleichzeitig ist das Buch ein Plädoyer für mehr Nächstenliebe, Gewaltlosigkeit und Völkerverständigung. Der Roman war ein Bestseller seiner Zeit, bis das NS-Regime ihn verbot und verbrannte.

 - Eindrucksvoller Gesellschaftsroman über eine zentrale Krisenzeit der deutschen Geschichte

- Berliner Großstadtroman über den Zeitgeist der ersten Deutschen Republik und die Zukunftsträume dieser Jahre

-  Ein Plädoyer für Humanität, Pazifismus und Völkerverständigung

- Bestseller der jungen Weimarer Republik, der später vom NS-Regime verboten und verbrannt wurde

- Für alle, die sich für historische Bücher, deutsche Geschichte und Romane über den Ersten Weltkrieg interessieren

Zwischen der brutalen Gegenwart des Ersten Weltkriegs und der Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft

Die wilhelminische Epoche endete mit der Abdankung Kaiser Wilhelms und dem Ende des 1. Weltkriegs. Sie war geprägt von militärischen Eliten, imperialistischem Denken, der Ablehnung des Sozialismus und der Verherrlichung einer konservativen-patriarchalen Gesinnung. Bernhard Kellermanns Roman ist ein Appell an die Menschlichkeit und durchdrungen von der Hoffnung auf ein Ende von Hass und Gewalt sowie auf die positive Kraft revolutionärer Umwälzungen. Die Leser:innen tauchen ein in eine Phase der deutschen Geschichte, in der alles möglich schien – auch bessere Zeiten.

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Erstes Buch


1.


Einige Ordonnanzen, die die Treppe emporeilten, blieben plötzlich wie angewurzelt stehen, ein junger ordenglitzernder Hauptmann mit rosigen Wangen, eben im Begriff sich zu schneuzen, verbarg in äußerster Hast das Taschentuch, und nur einem Drillichkittel gelang es noch im letzten Augenblick, in die Portierloge zu entkommen: oben auf der Treppe leuchtete der hellrote Mantelaufschlag eines Generals.

Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen, die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung.

Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm zurück.

In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte dem General einen Brief.

»Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!«

Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches, giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich –

Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr – er faltete den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche.

»Wer hat den Brief – ?«

»Ein Herr, ein älterer Mann – soeben – «, stammelte der Portier und schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen.

Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt, daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange auf ihn eingeredet – sein einziger Sohn – eine Audienz, hm – sogar eine Zigarre – und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden.

»Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.«

»Öfter hier gewesen?«

»Ja, schon einigemal – und – ah, ah: da ist er ja – an der Türe!« rief der Portier plötzlich erleichtert aus.

Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert, vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen.

Der General drehte den Kopf – aber sofort prallte das kleine blaue Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock verschwanden in der tiefblauen Dämmerung.

»Da – nun läuft er.« Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. »Und mir macht er Scherereien. So sind sie!«

Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der Motor der grauen Limousine.

Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen Bückling, und die Limousine flog dahin.

Der General vergrub das Kinn in den Pelz.

»Dieser Schurke!« dachte er und das Steingesicht zitterte. »Aber es sieht ihm ähnlich!«

Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf – hier im dunkeln Wagen, wo aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen öffnen – es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen.

An der Ecke des großen roten Amtsgebäudes stand der kleine ältere Herr im Havelock und zog den steifen Hut, als der Wagen des Generals vorüberjagte. Sein Gesicht, blau wie Schnee, leuchtete, und auch seine Glatze leuchtete blau.

Tiefblau und glänzend wie Stahl sank die Dämmerung des nassen Wintertags über Berlin. Die Scheiben des Autos glänzten, irgend etwas glitzerte hoheitsvoll im Innern –. Da verschlang eine stickige Rauchwolke den Wagen. Augenblicklich aber betrat der Mann im Havelock den Fahrdamm und folgte dem Auto des Generals mit kleinen eiligen Schritten, als ob er es einholen wolle.

Die Limousine flog durch die dämmerigen Straßen und überspülte die Fußgänger mit einer Welle von Schneewasser und Schmutz. In dem Luftwirbel zwischen den hinteren Pneus tanzten schmutzige welke Blätter, die aus dem Tiergarten herübergeweht worden waren, und ein Zeitungsblatt, das ein Passant, in der Eile sein Leben in Sicherheit zu bringen, verlor, rollte rasend hinterher. Bei den Kurven pflügten die Hinterreifen breite Schlittenspuren in den klebrigen Schmutz. Die Hupe dröhnte, die Marspfeife trillerte. Achtung!

Die flüchtenden Fußgänger erblickten nichts als einen Pelz, eine Mütze und, wenn sie Glück hatten, das leuchtende Rot des Mantelaufschlags. Ein General! Einer von jenen Auserwählten, die die Schlachten schlagen, von denen die Heeresberichte melden. Die Verwünschungen erstarben auf den Lippen. Eine Ehre, sozusagen eine Ehre, beinahe vom Auto eines Generals überfahren worden zu sein!

Ecke Wilhelmstraße kroch ein Krüppel in Feldgrau durch den Straßenschmutz, und die Limousine hätte ihn beinahe in Stücke gerissen. Dieser Krüppel schleppte sich an zwei niedrigen Krücken dahin. Sein Rückgrat war bis zur Erde gekrümmt und das zwischen den Krücken hängende Gesicht streifte nahezu den Schmutz der Straße. Er bewegte sich nur langsam vorwärts, indem er Krückstock vor Krückstock setzte, er ging auf den Knien und schleifte die verstümmelten Fußstumpen hinter sich her. Wie ein Hund, dem man die Sehnen der Hinterbeine durchschnitten, schob er sich dahin. Während er aber vorwärts kroch, wurde sein ganzer Körper von einem ununterbrochen entsetzenerregenden Zittern geschüttelt.

»Sieh dich vor!« schrie der Chauffeur und bog in der letzten Sekunde aus.

Der Kopf des Krüppels schnellte zwischen die Schultern zurück, und die mit schweren Nägeln beschlagenen Pneus der Limousine überspülten ihn mit einer Woge von Schmutz. Er blieb auf schwankenden Krückstöcken mitten in der Wilhelmstraße zurück, und als es ihm gelungen war, das von ewigen Zuckungen geschüttelte Gesicht zu heben, bog die graue Limousine bereits in die Linden ein.

Eine Flut von hüpfenden Regenschirmen, blendende Pfützen, zwei stahlblaue Omnibusschimmel, ein Schutzmann und wieder eine Flut von hüpfenden Regenschirmen. Eine Stockung. Der Wagen zitterte von den wütenden Schlägen des gedrosselten Motors.

Die Augen des Generals glitten über die hüpfenden Regenschirme dahin, über die eilenden Schattenwesen mit blauen Gesichtern und blauen Händen – gelangweilt, gleichgültig, ohne Anteilnahme. Obwohl nur getrennt von diesen Wesen durch eine Glasscheibe, waren sie für den General weltenweit entfernt, weltenweit – diese Menschen mit Regenschirmen, Gummischuhen, Mänteln, Bärten, Brillen … Sie erschienen gewissermaßen unwirklich! Sie waren Chaos, Masse – gärend von sonderbaren, eigenwilligen Gedanken und unnützen, gefährlichen Trieben. Sinnlos ihr Tun, unverständlich. Ohne Ideale, hohe Ziele, Hunger, Sinnendurst, Geld – ohne Zweck und Sinn. Unverständlich. Nichts als rohe Masse, die die Berufenen willkürlich formten, das große Reservoir, aus dem die Erkorenen schöpften nach ihrem Gutdünken.

Die Welt des Generals war bevölkert von Wesen, die in Uniformen gekleidet waren und mit einer Salve ins Grab gelegt wurden. Diese Wesen bewegten sich nach bestimmten unverrückbaren Gesetzen. Sie kamen in breiten langen Kolonnen einher wie die Brandung des Meeres, oder sie standen still in Reih’ und Glied, zu Tausenden gestaffelt, wie aus Stein. Ein Gebirge. Sie waren ohne eigenes Leben, ohne eigene Gedanken, ohne Namen, ohne Gesichter, ohne Seele, von wenigen Auserwählten in Bewegung gesetzt und mit Leben und Geist erfüllt. Sie waren mit einem Wort Soldaten, Werkzeug in der Hand der Starken dieser Erde, die das Rad der Weltgeschichte bewegten. Zuweilen fluteten unübersehbare Heerscharen, alle im gleichen Schritt, durch seinen Kopf. Armeekorps, die wie ein Bataillon in fehlerloser Geschlossenheit schwenkten, nach rechts, nach links, um zu erstarren, wenn die Gedanken des Generals es wollten. Zuweilen sah der General die ganze Erde davon erfüllt. Ungeheure Menschenwellen wälzten sich quer durch...


Kittstein, Ulrich
Ulrich Kittstein ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Für seine Habilitation wurde er 2006 mit dem Preis der Universität Mannheim für Sprache und Wissenschaft ausgezeichnet. Sein Arbeitsgebiet ist die deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart mit den Schwerpunkten Lyrik, historisches Erzählen, Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Gottfried Keller und Bertolt Brecht.

Kellermann, Bernhard
Bernhard Kellermann (1879-1951) wurde zunächst mit Reiseberichten und impressionistischen Erzählwerken bekannt. 1912 erzielte er mit dem Zukunftsroman "Der Tunnel" einen Welterfolg. 1920 folgte der pazifistische Revolutionsroman "Der 9. November", der später von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg betätigte sich Kellermann in der Kulturpolitik der DDR und wurde Abgeordneter der Volkskammer.

Bernhard Kellermann (1879-1951) wurde zunächst mit Reiseberichten und impressionistischen Erzählwerken bekannt. 1912 erzielte er mit dem Zukunftsroman "Der Tunnel" einen Welterfolg. 1920 folgte der pazifistische Revolutionsroman "Der 9. November", der später von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg betätigte sich Kellermann in der Kulturpolitik der DDR und wurde Abgeordneter der Volkskammer.

Ulrich Kittstein ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Für seine Habilitation wurde er 2006 mit dem Preis der Universität Mannheim für Sprache und Wissenschaft ausgezeichnet. Sein Arbeitsgebiet ist die deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart mit den Schwerpunkten Lyrik, historisches Erzählen, Friedrich Schiller, Eduard Mörike, Gottfried Keller und Bertolt Brecht.



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