E-Book, Deutsch, 491 Seiten
Klavan Totenbild
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-98952-284-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller | Eine Sekte. Ein Gemälde. Ein tödliches Geheimnis.
E-Book, Deutsch, 491 Seiten
ISBN: 978-3-98952-284-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Andrew Klavan wuchs in New York City auf und studierte Englische Literatur an der University of California. Danach arbeitete er als Reporter für Zeitungen und das Radio, bevor er sich ganz dem Schreiben seiner Spannungsromane widmete. Heute gilt Klavan als einer der großen Thriller-Experten der USA. Mehrere seiner Bücher sind mit dem begehrten Edgar-Award ausgezeichnet, für weitere Preise nominiert und/oder verfilmt worden. Die Website des Autors: andrewklavan.com/ Der Autor bei Facebook: facebook.com/aklavan/ Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine Thriller »Todeszelle -Was dir niemand glauben wird«, »Angstgrab - Die Schuld wird nie vergessen sein«, »Todeszahl - Was tief begraben liegt«, »Hilfeschrei - Die Dunkelheit in uns«, »Opferjagd«, »Totenbild« und »Todesmädchen«.
Weitere Infos & Material
I
Vorspiel: Black Annie
Seine Augen! Seine Augen waren voller Angst. Und obwohl ich ihn erst vor sechs Monaten in London gesehen hatte, schien er seitdem um ebenso viele Jahrzehnte gealtert zu sein. Er war wie ich Anfang Dreißig und starrte mir nun durch die halb offene Tür von Ravenswood Grange entgegen mit der furchtsamen Feindseligkeit, all dem Argwohn eines Eremiten, der in seinen finstersten Meditationen gestört wurde.
Meinen Einspänner hatte ich bereits fortgeschickt. Ich hörte, wie die Hufschläge des Pferdes auf der langen Auffahrt des Gutshauses hinter mir leiser wurden. Das herbstliche Dämmerlicht zog sich um mich zusammen, die windgepeitschten Wolken des tiefhängenden Himmels drückten von oben auf mich herab. Das Haus selbst, die ganze graue Masse aus Stein, ragte wie drohend vor mir auf. All dies – und all die abscheulichen Raben, die von den Traufen und Giebeln des Hauses finster auf mich herabspähten – trug dazu bei, den Schauder der Angst zu verstärken, mit dem ich auf der Schwelle des Gutshauses stand und in die gezeichneten Züge meines ehemaligen Schulkameraden blickte.
»Mein Gott, Quentin!« brachte ich schließlich hervor. »Mein Gott, Mann, wo sind die Bediensteten?« Denn er war selbst an die Tür gekommen, und nicht nur die Eingangshalle hinter ihm, sondern das ganze Haus um ihn herum lag bis auf die flackernde Kerze in seiner zitternden Hand in völligem Dunkel.
Auf das Geräusch meiner Stimme hin blickte Quentin sich abwesend um, als merke er erst jetzt, daß er verlassen worden war. Langsam richtete sich sein angstvoller Blick wieder auf mich – und doch, mir war, als ginge er durch mich hindurch. Gerade so, als wäre ich unsichtbar, ein Geist, und als sähe er nur die verlassene Auffahrt, die sich, überschattet von zwei Reihen düsterer Blutbuchen, im Dämmerlicht verlor. »Fort«, hauchte er mit einer hohen, brüchigen Stimme, der Stimme eines alten Mannes. »Alle fort. Sie wollten nicht bleiben. Nicht einer von ihnen wollte bei mir bleiben. Nicht ein einziger.«
Der Wind frischte auf. Das herbstliche Laub wirbelte raschelnd um meine Füße. Von der Spitze eines Giebels kam der heisere Schrei eines Raben, seltsam triumphierend, grausig. Ich erschauderte. Doch schließlich löste ich mich aus der Erstarrung, die mich angesichts des verstörten Zustands meines Freundes befallen hatte. Ich trat vor und streckte meine Hand aus. Doch Quentin fuhr sich nur flüchtig mit der Zunge über die Lippen und wich vor mir in die finstere Eingangshalle zurück.
Ich folgte ihm, betrat das Haus. Mit einem unheilvollen Donnern fiel die mächtige Holztür hinter mir zu. Ich zwang mich, dem ebensowenig Beachtung zu schenken wie dem ominösen Halbdunkel, das sich rings um Quentins einsame Flamme verbreitete. Mit einem tröstenden Wort auf den Lippen trat ich noch einmal auf ihn zu. Dieses Mal wich er nicht zurück. Ich nahm den armen Mann beim Arm und führte ihn behutsam in den Salon.
Dort machte ich Feuer, doch es trug nur wenig dazu bei, die gedrückte Stimmung zu vertreiben, die über dem Raum lag. Alles wirkte verlassen und unbewohnt. Auf den Leisten der Vertäfelung lag dichter Staub, von den Deckenbalken hingen Spinnweben. Auf dem Fußboden und den Möbeln waren achtlos Papiere und Notizbücher verstreut.
Die Wärme und Behaglichkeit, die der Feuerschein im Kamin spendete, wurde rasch verschluckt – von den hohen Decken, von den düsteren Bildteppichen an den Wänden und von den schweren Vorhängen der schmalen Rundbogenfenster.
Als ich mich vom Kamin erhob, stellte ich fest, daß Quentin in einen Lehnsessel gesunken war. Stumm und mit offenem Mund saß er da, wie gebannt von den Schatten, die über das verschlungene Muster des Orientteppichs huschten. Der Lichtschein des Feuers, der Lichtschein der Kerze, die er immer noch achtlos in der Hand hielt, fuhren über seine eingefallenen Wangen wie rote Finger, wie eine Vorahnung vom Höllenfeuer. Ich nahm die Kerze aus seinem matten Griff und zündete damit eine Lampe an, die auf dem Tisch neben seinem Sessel stand. Dabei wurde ich entsetzt des vollen Ausmaßes seiner unheimlichen Verwandlung gewahr.
Er bot fürwahr einen traurigen Anblick, und das um so mehr, als ich noch in bester Erinnerung hatte, wie er kein halbes Jahr zuvor ausgesehen hatte. Damals hatten wir in meiner Stadtwohnung zusammengesessen, so, wie das ehemalige Schulkameraden eben tun, lässig in einen Sessel oder auf das Sofa gelümmelt. Wir hatten uns mit derselben jugendlichen Heftigkeit wie dereinst bis tief in die Nacht hinein unterhalten. Als Kirchenmann mit einer einträglichen Pfründe in Sussex war Quentin wie eh und je ein vehementer Verteidiger des Glaubens, ein Apologet Newmans, ein Unterstützer Puseys, ein glühender Verfechter des hehren Rituals und des tiefen Mysteriums. Ich, ein Arzt mit einer kleinen, aber prosperierenden Praxis in der Harley Street, war gleichermaßen entschlossen, mich für die Wissenschaft in die Bresche zu werfen und Vernunft und Experimentierlust als den Königsweg zur Entschlüsselung der subtilen Mechanismen des Uhrwerks Leben zu predigen.
Deutlich erinnerte ich mich an die Vehemenz, mit der Quentin mir widersprochen hatte, an das Leuchten in seinen Augen und an das Beben seiner Stimme, wenn er das Wunderbare und das Übernatürliche als verläßlichsten Führer zur Wahrheit anpries.
Doch jetzt – keine vierzehn Tage, nachdem er nach Ravenswood zurückgekehrt war, um dort nach dem plötzlichen Tod seines älteren Bruders und seiner Schwägerin deren Nachlaßangelegenheiten zu regeln – war sein offenes, energisches Gesicht faltig und ausgemergelt und seine hagere Gestalt ebenso verfallen wie die Ruinen der alten Abtei, die außerhalb der Mauern des Gutes stand. Mir fiel trotz all meines medizinischen Wissens nichts Besseres ein, als ihm ein Glas Brandy anzubieten. Dieses führte er nun mit meiner Unterstützung zitternd an seine Lippen.
Die Arznei tat bald ihre Wirkung. Leise hüstelnd stellte er das leere Glas neben die Lampe und blinzelte zu mir hoch, als sähe er mich zum ersten Mal.
»Dem Himmel sei Dank, Neville«, sagte er. »Du bist gekommen.«
»Natürlich bin ich gekommen, alter Knabe«, erwiderte ich so zuversichtlich, wie ich konnte. »Sobald ich deinen Brief erhalten hatte. Aber was zum Teufel ist los mit dir? Du siehst aus, als hättest du Schreckliches durchgemacht.«
Bei diesen Worten schien eine Erinnerung das Entsetzen in seinen Augen neu zu entfachen. Er wandte sich von mir ab und starrte in das mittlerweile hell lodernde Feuer. »Du hast dich getäuscht, Neville, weißt du das?«
»Ich mich getäuscht? Inwiefern?«
»In allem. In allem«, wiederholte er niedergeschlagen. »Es gibt eine Welt jenseits der, die wir kennen. Es gibt ein Jenseits, und es ist ... es ist ...« Aber er sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen sah er mich, als er den Kopf wieder hob, mit einem Ausdruck solch bemitleidenswerten Entsetzens an, daß alle weiteren Worte überflüssig waren. »Neville«, flüsterte er dann plötzlich wie elektrisiert und beugte sich mit einer eindringlichen Geste zu mir vor. »Neville, ich habe es gesehen. Ich habe sie gesehen!«
»Sie? Wen meinst du?« entgegnete ich scharf. Das Frösteln, das meinen Rücken hinaufzukriechen begann, hatte mich in einen leicht gereizten Zustand versetzt. »Wovon zum Teufel redest du überhaupt? Komm zur Sache, Mann! Wen hast du gesehen?«
In eben diesem Moment schienen ihn die Kräfte wieder zu verlassen. Der arme Kerl sank matt in seinen Sessel zurück, das Kinn sackte ihm auf die Brust, und seine Züge wurden schlaff. Als seine Stimme wieder ertönte, war sie so gespenstisch wie das Echo aus einem leeren Grab.
»Black Annie!« war alles, was er sagte.
Ich wußte nicht, ob ich darüber lachen oder angesichts dieses weiteren Beweises seiner Sinnesverwirrung erschrecken sollte. Zu guter Letzt, nachdem ich das Gesicht abgewandt hatte, um meine Reaktion vor ihm zu verbergen, sagte ich lediglich: »Hör mal, glaubst du eigentlich, daß es in diesem Mausoleum irgendetwas zu essen gibt?«
Zum Glück war das der Fall. Und nun stellte sich heraus, daß nicht alle Bediensteten das Haus verlassen hatten. Zumindest ein Mädchen – aus purem Mitleid mit seinem jungen Herrn, wie ich annahm – war geblieben. Unter der Bedingung, das Haus rechtzeitig vor Einbruch der Dämmerung verlassen zu dürfen, hatte sie sich bereit erklärt, sich tagsüber meines Freundes anzunehmen. Daher fand ich bei genauerem Nachsehen eine kalte Mahlzeit im Speisezimmer vorbereitet. Nichts weiter als eine bescheidene Portion Hammelfleisch, einen halben Laib Brot und eine eher unglücklich gewählte Flasche Bordeaux, doch es genügte. Ich brachte die karge Mahlzeit in den Salon, wo wir sie vor dem Kamin verzehrten. Wir aßen schweigend. Um ehrlich zu sein, wir tranken erheblich mehr, als wir aßen. Auf mein Drängen hin überwand sich Quentin, halbherzig von seinem Hammelkotelett zu kosten. Ich für meinen Teil saß die meiste Zeit gedankenversunken vor meinem Wein und dachte über das nach, was ich bislang erfahren hatte.
Black Annie. Der Name – in solch furchterregendem Ton von meinem Gefährten ausgesprochen – war mir nicht gänzlich unbekannt. Es gab, so erinnerte ich mich, eine alte Geschichte, die Ravenswood Grange mit einer solchen Gestalt in Verbindung brachte. Quentin selbst hatte sie mir während unserer Schulzeit an einem jener Abende erzählt, an denen wir uns nach dem Lichterlöschen gegenseitig um den Schlaf zu bringen versuchten, indem wir uns von Bett zu Bett allerlei Schauergeschichten zuflüsterten.
Ich erhob mich von meinem Stuhl und ging zu einem der Fenster in der gegenüberliegenden Wand. Als ich zwischen den verbeulten Bleizügen hindurchblickte, sah ich, daß sich die Nacht...




