Krimis zum Schweizer Krimifestival
E-Book, Deutsch, 342 Seiten
ISBN: 978-3-8392-6958-9
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
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Eine schreckliche Familie
(Bern)
Christine Brand
Rudolf Wohlgemuth, Richter Mein Wecker blökt. Er klingt nicht nur wie ein Schaf, er sieht auch aus wie eines. Ein Geschenk meiner Tochter, was will man machen, sie wäre beleidigt, wenn ich ihn nicht benutzen würde. Ich muss gar nicht erst auf die Leuchtziffern blicken, ich weiß auch so, dass es sechs Uhr früh ist, wie jeden Morgen, wenn er blökt. Heute hätte er getrost schweigen können, ich bin schon seit Stunden wach. Der Fall, den ich heute zu beurteilen habe, raubte mir den Schlaf. Eigenartig, dass mir das noch immer passiert, nach all den Jahren am Gericht. Nach all den Morden und Verbrechen. Nach all den Abgründen, in die ich geblickt habe. Es kommt nicht mehr oft vor, aber dieser Fall … der kostet mich den letzten Nerv, schon bevor die Hauptverhandlung begonnen hat. Dabei geht es nicht einmal um einen Toten. Es gibt eine Angeklagte, die zugleich als Opfer auftritt. Und ein Opfer, das zugleich angeklagt ist. Es geht um Vergewaltigung und Mordversuch, respektive um zwei Mordversuche, denn als der erste nicht gelang, kam es zu einem zweiten, der ebenfalls missglückte. Klingt kompliziert, ich weiß. Ist es auch. Zwei Verfahren in einem, und natürlich erzählt jede und jeder eine andere Geschichte. Und ich bin mal wieder derjenige, der entscheiden muss, welche davon die wahre ist. Ich sollte nicht unerwähnt lassen, dass Opfer und Beschuldigte und Beschuldigter und Opfer miteinander verheiratet sind, seit vielen Jahren schon, das macht das Ganze nicht einfacher, im Gegenteil. Was wieder einmal zeigt: Wo die Liebe endet, steht oft jemand wie ich, ein Richter. Die Kinder sind die Zeugen und wahrscheinlich die Lebensretter. Wie gesagt, ein komplexer Fall. Eine schreckliche Familie. Würde ich an einen Gott glauben, würde ich dafür beten, dass ich dieses Verfahren ohne Probleme hinter mich bringe und mir ein gerechtes Urteil gelingt. Aber seien wir ehrlich: Welches Urteil ist schon gerecht? * Vor Gericht. Befragung von Robert Büttikofer durch Richter Wohlgemuth »Ich befrage Sie zunächst als Geschädigten. Darum weise ich Sie darauf hin, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie falsche Anschuldigungen aussprechen, die Rechtspflege irreführen oder jemanden begünstigen. Haben Sie das verstanden?« »Ja, das habe ich verstanden.« »Am 1. März sind Sie zu Hause ausgezogen, ist das richtig?« »Ja.« »Was war der Grund dafür?« »Meine Frau und ich haben uns oft gestritten, ich wollte schon früher ausziehen. Aber ich wartete, bis unsere jüngste Tochter achtzehn wurde. Ich dachte, bis dahin gedulde ich mich, die meiste Zeit hielt ich mich sowieso bloß in meinem Zimmer auf.« »Sind Sie zu diesem Zeitpunkt wirklich ausgezogen oder schliefen Sie noch immer hin und wieder im alten Zuhause?« »Ich war bereits ausgezogen, bevor ich die neue Wohnung am 1. März bezog, ich lebte eine Zeit lang im Hotel. Zu Hause schlief ich schon lange nicht mehr.« »Ihre Frau gab aber zu Protokoll, Sie hätten weiterhin jede Nacht bei ihr in der Wohnung verbracht.« »Nein, das ist nicht so. Fragen Sie im Hotel nach, es liegt in der Wankdorfstrasse in Bern.« »Wenn Sie schon ausgezogen waren – warum haben Sie sich dann in der Nacht auf den 11. April in der Wohnung Ihrer Frau aufgehalten?« »Ich arbeite wie sie als Pflegeassistent und hatte Spätdienst. Nach der Schicht rief mich meine Frau an, sie habe eine Tasche mit den letzten Dingen gefüllt, die mir gehören. Sie drohte mir, wenn ich die Sachen nicht sofort abhole, würde sie sie wegschmeißen.« »Was passierte, als Sie bei Ihrer Frau eintrafen?« »Sie sagte, ich sähe müde und abgekämpft aus, sie habe mir mein Lieblingsgetränk zubereitet.« »Und das haben Sie getrunken?« »Ja, ex, in einem Zug.« »Wollten Sie danach wieder nach Hause?« »Ja.« »Aber Sie blieben.« »Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich nach etwa zehn Minuten die Orientierung verloren. Meine Frau hat mich am Arm gepackt und nach oben gebracht, ich sollte mich in meinem Zimmer hinlegen. Sie sagte, ich sähe nicht gut aus.« »Sie hatten also doch noch ein Bett in der alten Wohnung.« »Nur die alte Matratze. Ich hatte mir eine neue gekauft.« »Und dann?« »Danach erinnere ich mich an nichts mehr.« »Können Sie sich erinnern, was passierte, als Sie am Morgen aufgewacht sind?« »Ich spürte einen Druck am Hals, aber ich kann nicht sagen, warum und woher dieser rührte. Mir wurde schwarz vor Augen, ich kriegte keine Luft mehr. Ich dachte, ich müsste sterben. Da hörte ich Stimmen, Schreie, ich weiß nicht, von wem sie stammten.« »Ihre Frau war aber mit im Zimmer?« »Ich habe keine Ahnung, wer sich alles im Raum befand und ob es meine Töchter waren, die geschrien haben.« »Aber da konnten Sie wieder atmen.« »Ja, der Druck ließ nach, ich musste sehr stark husten.« »Geht es Ihnen heute wieder gut?« »Nein, es geht mir nicht gut. Ich verschlucke mich noch immer dauernd, zudem habe ich Schlafstörungen und heftige Albträume. Ich habe zwar überlebt – aber mein Leben ist nicht mehr dasselbe.« * Befragung von Miranda Büttikofer durch Richter Wohlgemuth »Ich befrage Sie zunächst als Beschuldigte. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern – wenn Sie Aussagen machen, können die als Beweismittel gegen Sie verwendet werden. Sie sind des versuchten Mordes angeklagt. Konkret werden Sie beschuldigt, Ihrem Mann seinen Lieblingsdrink mit Traubensaft und Honig angerührt und mit einer nicht bekannten Anzahl Tabletten Risperidal und Temesta versehen zu haben, in der Absicht, ihn zu töten. Haben Sie verstanden, was Ihnen vorgeworfen wird?« »Ich habe verstanden, was Sie sagen. Aber so war es nicht! Gut, ich gebe zu, dass ich ihm die Medikamente in den Drink getan habe, das habe ich, das kann ich nicht leugnen, aber es war trotzdem ganz anders, als Sie sagen. Ich wollte ihn nicht töten – ich wollte nur meine Ruhe vor ihm haben! Damit ich in der Nacht ruhig schlafen konnte.« »Wie viele Tabletten haben Sie ihm verabreicht?« »Ich kann mich nicht erinnern, wie viele es waren. Aber es waren einige. Sie müssen wissen, ich war in panischer Angst und wusste nicht, was ich tat. Ich wollte doch nur meine Ruhe haben.« »Warum hatten Sie Angst?« »Weil er mich immer wieder belästigt hat. Weil er mich über Jahre vergewaltigt hat. Brutal vergewaltigt hat. Immer wieder hat er Pornofilme mit nach Hause gebracht und mich gezwungen, alles nachzuspielen. Er benutzte dafür eine Schlagrute und Zangen. Jahrelang musste ich unter ihm leiden. Er hat mich drangsaliert.« »Darum haben Sie versucht, ihn umzubringen? Aus Rache?« »Nein, ich wollte ihn nicht töten! Ich wollte doch bloß, dass er einschläft und mich in Ruhe lässt.« »Sie sagen, Ihr Mann habe Sie jahrelang vergewaltigt. Wann begann das?« »Schon früh, wenige Jahre nach unserer Hochzeit. Ich war 24, als ich ihn heiratete, das war 1993. Ich erinnere mich nicht, wann es genau begann. Aber die letzten zwanzig Jahre waren die Hölle.« »Trotzdem sind Sie geblieben. Sie haben gemeinsam vier Kinder gezeugt.« »Was hätte ich tun sollen? Er hat mir mit dem Tod gedroht, wenn ich mich weigerte. Er würde mich umbringen, wenn ich ihn verlasse.« »Jetzt aber wollten Sie sich doch endlich trennen.« »Ja. Er hat eine neue Freundin. Auf einmal wollte er von selbst gehen.« »Ist es richtig, dass Ihr Mann bereits einen Monat vor der Tat eine eigene Wohnung gemietet hat?« »Ja, aber er war immer noch ständig bei uns.« »Ihr Mann sagt etwas anderes, er erzählte uns, er sei in jener Nacht nur zu Ihnen gekommen, weil Sie ihn aufforderten, die letzten Sachen abzuholen.« »Nein, er kam, um zu Hause zu schlafen.« »Wo hatte er seine Kleidung?« »In der neuen Wohnung.« »Also trug er immer dasselbe?« »Unterhosen brachte er jeweils mit.« »Warum haben Sie ihn nicht einfach nach Hause geschickt, statt zu versuchen, ihn umzubringen, wenn Sie Ihre Ruhe haben wollten?« »Er hätte nicht auf mich gehört. Er sagte, er werde mir den Schlüssel nie zurückgeben.« »Sie hätten das Schloss auswechseln können.« »Das hätte 500 Franken gekostet! Herr Gerichtsvorsitzender, was ich sage, ist die Wahrheit, er hat jeden Tag bei uns geschlafen und gegessen, und er wollte mich weiter belästigen und vergewaltigen. Er ließ sein Messer und seine Schlagrute in unserer Wohnung, und eine Matratze in seinem Zimmer.« »Auf dieser Matratze ist er nach dem Medikamenten-Cocktail eingeschlafen.« »Ja.« »Am Morgen danach haben Sie nachgesehen, ob er wirklich tot ist.« »Nein! Ich habe nachgesehen, ob er noch schläft.« »Unter Punkt zwei wirft Ihnen die Staatsanwaltschaft Folgendes vor: Als Sie festgestellt haben, dass Ihr Mann noch lebte, haben Sie versucht, ihn mit einem Stromkabel zu erdrosseln. Was sagen Sie dazu?« »Es war nie meine Absicht, ihm etwas anzutun.« »Wenn Ihre Töchter, aufgeschreckt durch den Lärm, nicht ins Zimmer gestürzt wären, wäre Ihr Mann jetzt tot. Warum wollten Sie ihn erdrosseln?« »Ich wollte mich vor ihm schützen. Er hat mich angegriffen und gewürgt. Ich tastete...