Lippman | Der Geliebte der Verlobten | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 480 Seiten

Reihe: Ein neuer Fall für Tess Monaghan

Lippman Der Geliebte der Verlobten

Der erste Fall für Tess Monaghan
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70180-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Der erste Fall für Tess Monaghan

E-Book, Deutsch, Band 1, 480 Seiten

Reihe: Ein neuer Fall für Tess Monaghan

ISBN: 978-3-311-70180-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Tess Monaghan ist arbeitslos. Seit die Zeitung Baltimore Star eingestellt wurde, hält sich die Journalistin mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Der Zufall will, dass ihr Bekannter Darryl »Rock« Panson an akutem Liebeskummer leidet und er Tess eine hübsche Summe Geld bietet, um seine Verlobte Ava zu beschatten, die sich seit einiger Zeit reichlich seltsam verhält. Tess nimmt die Ermittlungen auf und beobachtet, wie sich die junge Anwältin jeden Mittag mit ihrem Chef Michael Abramowitz im Renaissance Park Hotel trifft. Haben die beiden eine Affäre? Tess' erster Fall scheint gelöst, da wird Abramowitz tot in seiner Kanzlei aufgefunden. Und der letzte registrierte Besucher war ausgerechnet Rock. Natürlich macht sich Tess sofort daran, seine Unschuld zu beweisen. Aber diesmal geht es um Mord, und Tess droht sich bei den Ermittlungen zu weit aus dem Fenster zu lehnen.

Laura Lippman, geboren 1959 in Atlanta/Georgia, hat mit ihrer erfolgreichen Detektivfigur Tess Monaghan mindestens zweierlei gemein: Beide leben in Baltimore, und beide haben als Journalistinnen gearbeitet, Lippman allerdings mit deutlich größerem Erfolg. Als Tochter einer Bibliothekarin und eines Journalisten spielten die Literatur und das Schreiben schon früh eine wichtige Rolle in Laura Lippmans Leben. Die ersten sieben Tess-Monaghan-Romane schrieb sie neben ihrem Fulltime-Job bei der Baltimore Sun, für die schon ihr Vater arbeitete. 2001 zog sich Lippman aus dem journalistischen Tagesgeschäft zurück, um sich ganz dem Schreiben von Büchern zu widmen. Ihre Kriminalromane - ob mit oder ohne Tess Monaghan - wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem weltweit renommiertesten Preis für Kriminalliteratur, dem Edgar Allan Poe Award. Lippman ist mit dem Drehbuchautor David Simon (The Wire) verheiratet. Das Paar hat eine Tochter.
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1


Am letzten Abend im August ging Tess Monaghan in einen Drugstore und kaufte sich ein Schreibheft – eins mit einem schwarz-weiß marmorierten Umschlag. Das tat sie jedes Jahr im Herbst, schon seit sie sechs Jahre alt war, und sie sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern, obwohl inzwischen 23 Jahre vergangen waren. Ungeachtet dessen, dass sie einen Computer mit großem Speicher besaß, dem sie absolut alles hätte anvertrauen können, was sie aufzeichnen wollte, legte sie diese Gewohnheit nicht ab. Ungeachtet auch dessen, dass sie bis zum Rite Aid gehen musste, weil »Weinstein Drugs« von ihrem Großvater schon lange in den Ruin geführt worden war. Und schließlich auch ungeachtet dessen, dass sie nicht mehr zur Schule ging, keinen Job mehr hatte und das Ende des Sommers für sie wenig Bedeutung besaß. Doch Tess glaubte an Routine und Rituale. Also kaufte sie ein Schreibheft für einen Dollar neunundsechzig, nahm es mit nach Hause, schlug die erste Seite auf und schrieb:

Ziele im Herbst:

1. 60 Kilo Bankdrücken.

2. 1000 Meter in viereinhalb Minuten laufen.

3. Don Quijote lesen.

4. Einen Job finden, usw.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und las noch einmal, was sie eben geschrieben hatte. Die ersten beiden Punkte waren machbar, wenn auch mit Anstrengung: Sie konnte die fünfzig Kilo bis zu zehnmal heben und brauchte fünf Minuten für tausend Meter. Der hatte sie zwar beim ersten Mal noch besiegt, aber diesen Herbst fühlte sie sich ihm gewachsen.

Punkt 4 war da schon problematischer. Vor allem würde sie sich vorher überlegen müssen, was für einen Job sie überhaupt wollte, ein Dilemma, das sie bereits seit zwei Jahren lähmte, seit nämlich Baltimores vorletzte Zeitung, der , eingegangen war und die nunmehr letzte Zeitung, der , sie nicht hatte anstellen wollen.

Tess schlug das Heft zu, steckte es ins Regal neben die 22 anderen – alle leer bis auf die erste Seite –, stellte den Wecker und war binnen fünf Minuten eingeschlafen. Es war der Abend vor dem ersten Schultag und die Stadt begann, die Schläfrigkeit des Augusts abzuschütteln und frisch in den Herbst einzusteigen. Vielleicht würde das ja auch Tess mitreißen.

Der Wecker klingelte sieben Stunden später, um Viertel nach fünf. Sie zog sich schnell an und lief zu ihrem Auto, wobei sie in die Luft schnüffelte, um herauszufinden, ob der Herbst in diesem Jahr zeitig einsetzen würde. Die Luft aber war bedrückend dick und zäh und scherte sich keinen Deut um Tess’ Erwartungen. Ihr elf Jahre alter Toyota, das Zuverlässigste in ihrem Leben, sprang sofort an. »Danke, mein Schatz«, sagte sie, tätschelte das Armaturenbrett und lenkte den Wagen durch die verlassenen Straßen der Innenstadt.

Auf der anderen Seite des Hafens lag das Bootshaus noch im Dunkeln. Das war morgens um halb sechs oft so, denn für den Hausmeister stellte sein mickriger Lohn keinen besonders großen Anreiz dar, das Bett zu verlassen und noch vor Tagesanbruch in Cherry Hill einzutreffen. Aus diesem Viertel waren die Obstbäume, die ihm einst den Namen gegeben hatten, längst verschwunden, und es galt inzwischen als eine zu jeder Tages- und Nachtzeit üble Gegend. Und obwohl seine sanften Abhänge einen herrlichen Blick auf Hafen und Skyline von Baltimore boten, kam doch niemand wegen der Aussicht nach Cherry Hill.

Zum Glück hatte Tess einen eigenen Schlüssel zum Bootshaus, so wie die meisten Unentwegten unter den Ruderern. Sie sperrte auf, verstaute ihren Schlüsselbund in einem Schließfach im Umkleideraum, rannte die Treppe hinunter und packte ihre Ruder, weil sie unbedingt noch vor den Collegestudenten auf dem Wasser sein wollte. Sie mochte nicht in einen Topf geworfen werden mit Leuten, die sie bei sich die J.-Crew-Meute nannte, diese grünen Jungs mit ihrem ewigen Gequassel von den Prüfungen, die sie so blendend bestanden, und den Bierfässern, von denen sie so viele angestochen hatten. Aber ebenso deplatziert fühlte sie sich unter den erwachsenen Mitgliedern des Baltimore Ruderclubs, diesen tüchtigen Berufstätigen, die nach dem Morgentraining zur Arbeit davoneilten, und zwar zu einer richtigen, im Krankenhaus und im wissenschaftlichen Labor, in der Anwaltskanzlei und an der Börse.

»Pass auf meine Schnur auf, Mädel«, rief ein Krebsfischer, dessen Stimme von der feuchten Morgenluft ganz belegt klang.

»Seh ich schon«, sagte sie, während sie ihren Alden Ocean Shell über dem Kopf balancierte und das Dock hinunterging, vorbei an dem ganzen Durcheinander der Krebsfischer, das aus Leinen, Hühnerhälsen und 35- Liter-Eimern bestand. Die Krebsfischer – Leute aus Baltimore, die ihre Sozialhilfe durch die Gaben des Patapsco River aufbesserten – hatten heute Morgen Glück, auch wenn der größte Teil ihres Fangs illegal war: eiertragende Weibchen oder Krebse, die insgesamt weniger als zwölf Zentimeter lang waren. Tess würde sie nicht verpfeifen. Ihr war das egal. Sie aß grundsätzlich nichts aus den heimischen Gewässern.

Zumindest ließ sich der Alden, der städtisches Eigentum war, leicht im Wasser aufsetzen. Die Sonne lugte gerade erst hinter der Francis Scott Key Bridge hervor, als Tess in dem kabbeligen Wasser losruderte und Kurs Richtung Fort McHenry nahm. Fast automatisch summte sie »Star-Spangled Banner«. Immer wieder ertappte sie sich dabei, hörte zu singen auf, fing dann aber ganz automatisch wieder an; schließlich ruderte sie ja auch auf die Geburtsstätte dieser Hymne zu.

Das Wasser war an diesem Morgen sehr wellig, und das machte Tess nervös. Ein Alden kenterte zwar nur schwer, aber unmöglich war es nicht, und sie wollte unter keinen Umständen mit der trüben Brühe hier im mittleren Arm des Patapsco Bekanntschaft machen. Einmal hatte sie ein paar Spritzer Flusswasser in eine Wunde an ihrer Hand bekommen, und die war dann drei Monate lang nicht mehr zugeheilt. Am besten erst mal langsam rangehen, sich aufwärmen und die morgensteifen Muskeln entspannen und dehnen. Auf dem Rückweg konnte sie sich dann ja richtig reinlegen und wie in einem Rennen rudern.

Das war Tess’ Routine, ihre einzige, seit der eingestellt worden war. Sechs Tage die Woche ruderte sie morgens und lief abends. Dreimal die Woche ging sie zum Krafttraining in eine altmodische Boxschule in Ost-Baltimore. Am siebten Tag ruhte sie, weichte ihren langen Körper in einer heißen Wanne ein und träumte von einem Mann, der ihr gleichzeitig die Füße und den Nacken massieren konnte.

Auf dem College war Tess eine mittelmäßige Skullerin gewesen, die zu einem mittelmäßigen Team gekommen war, weil sie kräftig war und muskulöse Beine sowie die breiten Schultern einer Schwimmerin hatte. Der Übergang vom Skullen zum Rudern hatte ihren Stil nicht verbessert. Tess wusste, oder glaubte zu wissen, wie hässlich es aussah, wenn sie über das Wasser kroch. Wie ein Käfer in der Kloschüssel, nichts als Zuckungen und Krämpfe. Sogar jetzt, wo sie langsam hinausfuhr, runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Zunge, so sehr musste sie sich konzentrieren. Nein, nichts an Tess sah beim Rudern natürlich aus. Sie war einfach nicht gut. Sie wollte auch gar keine Rennen gewinnen. Und doch ließ sie an fast keinem Tag das Training aus. Ihre Freunde sagten immer, es gebe einfach kein einziges eingefahrenes Gleis, das Tess nicht liebe. Das verletzte sie nicht. Es stimmte nämlich. Und ihre Liebe zur Routine hatte ihr auch geholfen, die Monate ohne Arbeit zu überstehen.

Aber an diesem Morgen, während sie versuchte, ihre Riemen flach zu halten, in einer Luft, die zum Schneiden dick war, kam ihr das alles plötzlich fadenscheinig vor. Der erste Tag im September sollte kühl sein, dachte sie, oder zumindest kühler als heute. Sie sollte in diesem Sport inzwischen gut sein, oder zumindest besser, als sie war. Ganz abrupt holte sie die Riemen ein und ließ das Boot treiben. Sie suchte den Himmel nach Regen ab, damit sie eine Ausrede hatte, aufzuhören. Dicker Nebel hing über der Skyline, aber keine Wolken. Von diesem Blickpunkt aus wirkte Baltimore einfach nur schmutzig und mutlos.

»Willkommen in Charm City«, sagte sie zu einer Möwe, die nach toten Fischen tauchte. »Willkommen in Baltimore, Süße.«

Weder Tess noch ihre Heimatstadt hatten ein gutes Jahr. Sie hatte keine Arbeit und bekam keine Arbeitslosenunterstützung. Baltimore war dabei, eine noch nie da gewesene Mordrate zu erreichen und den bisher für unschlagbar gehaltenen Rekord von 1993 zu brechen, der seinerseits einen damals für unschlagbar gehaltenen Rekord gebrochen hatte. Jeden Tag gab es einen kleinen Todesfall, die Art von Mord, die höchstens vier Absätzchen ganz weit hinten im füllte. Doch kaum jemand schien das zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar darum zu kümmern – außer denen, die bei der Wette um die Mordziffer des Jahres mitspielten. Der Bürgermeister nannte Baltimore noch immer »Die Stadt, die liest«, aber ansonsten hatte man dieses Motto schon längst umgemodelt.

»Die Stadt, die schießt, Süße«, rief Tess der unbeeindruckten Möwe zu. Die Stadt, die verdrießt. Die Stadt, die niemand genießt. Die Stadt, die man vergisst. Nur konnte Tess das nicht, sie konnte ebenso wenig von hier weggehen, wie sie mit einem Anker um den Hals vom Grund der Chesapeake Bay hätte auftauchen können.

Während sich ihr Blick in der Ferne...


Lippman, Laura
Laura Lippman, geboren 1959 in Atlanta/Georgia, hat mit ihrer erfolgreichen Detektivfigur Tess Monaghan mindestens zweierlei gemein: Beide leben in Baltimore, und beide haben als Journalistinnen gearbeitet, Lippman allerdings mit deutlich größerem Erfolg. Als Tochter einer Bibliothekarin und eines Journalisten spielten die Literatur und das Schreiben schon früh eine wichtige Rolle in Laura Lippmans Leben. Die ersten sieben Tess-Monaghan-Romane schrieb sie neben ihrem Fulltime-Job bei der Baltimore Sun, für die schon ihr Vater arbeitete. 2001 zog sich Lippman aus dem journalistischen Tagesgeschäft zurück, um sich ganz dem Schreiben von Büchern zu widmen. Ihre Kriminalromane – ob mit oder ohne Tess Monaghan – wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem weltweit renommiertesten Preis für Kriminalliteratur, dem Edgar Allan Poe Award. Lippman ist mit dem Drehbuchautor David Simon (The Wire) verheiratet. Das Paar hat eine Tochter.



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