E-Book, Deutsch, 382 Seiten
Reihe: Memoranda
Marrak De Profundis
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-948616-85-4
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 382 Seiten
Reihe: Memoranda
ISBN: 978-3-948616-85-4
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als sogenannter Rekon verfügt der Fallanalytiker Alexander ›Lex‹ Crohn über die Gabe in die Vergangenheit zu blicken. Ausgelöst werden diese als ›Echos‹ bezeichneten Visionen durch das Berühren eines am Tatort befindlichen Gegenstands oder des Opfers selbst.
Die Erkenntnis, es in seinem aktuellen Fall mit demselben totgeglaubten Feind zu tun zu haben, der vor acht Monaten für eine bizarre Mordserie verantwortlich war, lässt Lex ahnen, dass er und seine Mitstreiter diesmal nicht die Jäger sind, sondern die Gejagten.
Doch haben sie es wirklich nur mit einem Gegner zu tun, oder ist das, was sie verfolgt, womöglich fähig, sich in seinen ahnungslosen Wirten zu reproduzieren? Wem können sie noch vertrauen? Und wie sollen sie eine Entität bekämpfen, die ihr Katz-und-Maus-Spiel nicht nur auf die reale Welt beschränkt, sondern Lex in seinem vermeintlich ureigenen Territorium heimsucht: der Echo-Dimension?
Die Suche nach dem Ursprung des Übels führt zurück in eine dunkle Vergangenheit – in eine Welt aus Tränen, Leid, Blut und Tod.
Der zweite und abschließende Roman nach "Lex Talionis".
Autoren/Hrsg.
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VORSPIEL Als die letzten Häuser vor dem Abteilfenster vorbeizogen, waren Zoës Tränen längst getrocknet. Ihre Bestürzung war der Wut gewichen, die Wut letztlich der Resignation. Was übrig blieb, war das in Flashbacks wiederkehrende Entsetzen darüber, was geschehen war – und eine diffuse Angst, die sie kaum einen klaren Gedanken fassen ließ. Auf sie folgten Verzweiflung und Resignation – und schließlich eine Traurigkeit, die in eine tiefe innere Leere mündete. An jeder neuen Haltestation befürchtete Zoë, dass Polizisten oder Zivilfahnder einsteigen könnten, um die Abteile nach ihr zu durchsuchen. Während vor dem Fenster die Lauben und Parzellen einer Schrebergartensiedlung vorbeihuschten, drehten Zoës Gedanken sich um den Fremden, mit dem sie hinter dem Haus ihrer Stiefmutter aneinandergeraten war. Irgendetwas an ihm war anders gewesen als bei gewöhnlichen Menschen – ganz zu schweigen von gewöhnlichen Polizisten oder Ermittlern. Zoë fand keine Worte für dieses Gefühl. Einerseits hatte er etwas Aufrichtiges, Wahrhaftiges ausgestrahlt, dem sie sich gerne anvertraut hätte, andererseits hatte ihn eine Aura umgeben, die ihr selbst jetzt, als sie an diese Begegnung zurückdachte, noch einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Nach ihrer Flucht aus dem Haus hatte sie mit dem Gedanken gespielt, die Speicherkarte ihres Handys zu entfernen und das Gerät zu entsorgen. Im letzten Augenblick hatte sie es wieder aus dem Bahnhofsmülleimer gefischt und es dabei belassen, es in den Flugmodus zu versetzen und das GPS zu deaktivieren. Je weiter der Zug sich von der Stadt entfernte, desto nervöser wurde sie. Es stand außer Frage, dass spätestens seit dem Zwischenfall hinter der Villa nach ihr gefahndet wurde. Der Fremde, den sie
mit einem Tritt ins Reich der Träume geschickt hatte, hatte ihr Gesicht gesehen, und für die Behörden war sie beileibe keine Unbekannte. Ihre Flucht war eine Fahrt ins Ungewisse, ein Trip ohne wirkliches Ziel, in der Hoffnung, fern der Stadt einen Unterschlupf für die kommenden Tage zu finden. Womöglich hatte der Bahnhofswärter von St. Alban vorübergehend eine Bleibe für sie. Er würde sie bestimmt wiedererkennen, spätestens wenn sie ihm ihren Namen sagte. Ihm konnte sie sich anvertrauen und das Desaster erklären, ohne befürchten zu müssen, dass er sofort die Polizei verständigte. Mit einem flauen Gefühl im Magen blickte Zoë dem abfahrenden Triebwagen nach, dann sah sie sich auf dem Bahnsteig um. Alles wirkte vertraut und gleichzeitig irritierend fremd. Die Formen, Farben und Geräusche wollten nicht zu ihren Erinnerungen passen. Selbst der von Kondensstreifen durchzogene Abendhimmel wirkte falsch. Außer ihr hatten nur eine Handvoll weiterer Passagiere den Zug verlassen, durchweg alte Menschen, in deren Gegenwart Zoë bemüht war, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Zwar war sie seit Jahren nicht mehr hier gewesen, doch eine derartige Veränderung hatte sie nicht erwartet. Die gesamte Station war modernisiert und die Strecke zweigleisig ausgebaut worden. Anstelle des hüfthohen Lattenzauns, der seit ihrer Kindheit das Bahnareal vom angrenzenden Wald getrennt hatte, stand jenseits der Gleise eine lückenlose, drei Meter hohe Barriere aus Maschendraht. Dahinter war der Hang offenbar auf der gesamten Länge des Bahnsteigs gerodet worden. Die gut einhundert Meter weite Schneise schien bis hinab ins Tal zu reichen. Statt des alten Bahnübergangs aus Holzbohlen, der einst zur Mündung eines kleinen Waldweges geführt hatte, überspannte eine moderne Fußgängerbrücke die Gleise, und anstelle des alten Stellwerkers, mit dem sie sich damals oft unterhalten hatte, überwachten nun an Laternenmasten installierte Kameras die Bahnsteige. Das Wärterhäuschen selbst existierte zwar noch, diente aber offenbar nur noch als Materialdepot und Abstellkammer. Zoës Hoffnung, mithilfe des alten Mannes dem Tag ein halbwegs versöhnliches Ende abzutrotzen, zerschlug sich mit den in der Ferne verblassenden Triebwagenrücklichtern. Sie wartete, bis niemand mehr in der Nähe der Station zu sehen war, dann überquerte sie die Gleise und warf einen Blick durch den Maschendraht. Jenseits der Barriere war alles überwuchert und zugewachsen. Von dem Fußpfad, der von hier aus früher einmal ins Tal geführt hatte, war nichts mehr zu erkennen. Mit versteinerter Miene blickte sie in den vom dichter werdenden Nebel getrübten Himmel. Abendrot leuchtete über den Baumwipfeln. Es wäre für sie ein Leichtes gewesen, den Zaun zu überwinden, doch die Kameras hielten sie davon ab. So starrte sie lange in das geisterhafte Glosen jenseits der Barriere. Kilometerweit leuchtete der Nebel, als loderten zu beiden Seiten des Flusses Hunderte von blauen und orangenen Feuern. Während Zoë entlang der Umfriedung wanderte und eine Lücke im Maschendraht suchte, rechnete sie jeden Moment damit, eine verzerrte Stimme zu hören, die sie aufforderte, den ungesicherten Gleisbereich zu verlassen, aber die Lautsprecher blieben stumm. Zurück auf dem Bahnsteig, setzte sie sich auf eine Bank unter einem der Laternenmasten und zog das Handy aus der Jacke. Unschlüssig betrachtete sie minutenlang das Display, dann deaktivierte sie den Flugmodus, scrollte durch ihre Kontaktliste und wählte Jurajs Nummer. »Maza?«, erklang seine Stimme nach dem dritten Rufzeichen. »Himmel, warum meldest du dich denn nicht? Ist alles in Ordnung? Hast du deine Mailbox nicht abgehört? Ich versuche dich seit zwei Tagen zu erreichen.« »Sorry«, sagte Zoë, als Juraj eine kurze Pause machte, um Luft zu holen. »Im Moment geht einfach alles drunter und drüber.« »Das hast du neulich auch schon gesagt«, beschwerte er sich. »Ich war vorgestern am vereinbarten Treffpunkt, aber von dir keine Spur. Wo steckst du denn?« »Über dem Fegefeuer.« Sie aktivierte die Kamera und hielt das Handy so, dass Juraj die gegenüberliegende Seite der Bahnstation sehen konnte. »Ist das etwa die Combine-Baustelle?«, stutzte er. »Offensichtlich.« »Was machst du in Dolny?« »Ich bin nicht in Dolny, sondern auf der deutschen Seite«, erklärte Zoë. »Oben am Bahnhof von St. Alban«, fügte sie hinzu, als es am anderen Ende der Leitung still blieb. »Was um Himmels willen treibst du dort?« Zoë starrte in den glühenden Nebel. »Familienangelegenheit«, sagte sie schließlich. »Willst du mir nicht endlich erzählen, was eigentlich los ist?«, fragte Juraj. »Ich mache mir langsam echt Sorgen.« Zoë schnitt eine Grimasse. »Das ist gerade wirklich kein guter Zeitpunkt«, sagte sie. »Ich … muss erst ein paar Dinge klären.« »Auf der Baustelle?« »Hauptsächlich in meinem Kopf.« »Ah, jetzt kapiere ich es«, sagte Juraj nach kurzem Schweigen. »Du willst zu deinem Onkel. Mensch, warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hätte dir sagen können, dass das gesamte Gelände inzwischen wie Fort Knox gesichert ist.« »Ich hatte mir die Baustelle nicht so groß vorgestellt«, gestand Zoë. »Das abgesperrte Areal ist riesig. Zudem gibt es auf dem talwärts gelegenen Bahnsteig Überwachungskameras, aber sie gehören offenbar nicht der Bahn, sondern Combine. Ich hatte gehofft, dass der Waldweg hinab zu den Baracken noch existiert, aber nicht erwartet, dass das Gelände wie ein militärisches Sperrgebiet abgeriegelt und überwacht wird.« »Die Zeiten haben sich leider geändert«, sagte Juraj. »Entlang des Flusses entsteht inzwischen nicht nur das Chemiewerk, sondern ein ganzer Industriepark mit Tochterunternehmen und Umspannwerk, Parkhäusern, einem eigenen Verladebahnhof und einem Netz aus Zufahrtsstraßen. Sogar den Fluss wollen sie gen Norden noch ausbaggern und einen kleinen Frachthafen bauen.« »Und die Baracken?« »Stehen über dem Areal im Niemands-Grenzland. Ist jetzt alles Sperrgebiet da unten, aber zumindest wurde noch nichts abgerissen. Kommunen und Regionalvertreter hoffen, dass die Sache früher oder später von der Natur geregelt wird.« »Frommer Wunsch«, bemerkte Zoë. »Als gäb’s nirgendwo Ruinen, die Jahrhunderte auf dem Buckel haben …« »Seit sie das Kraftwerk bauen und die Aktivisten auf die Barrikaden gehen, ist das Gebiet entlang des Flusses jedenfalls weiträumig abgesperrt«, erklärte Juraj. »Die Brücke von Dolny ist nur noch für den Werksverkehr freigegeben. Um die Baustelle zu umgehen und auf die andere Flussseite zu gelangen, hättest du eine Station früher oder später aussteigen müssen. In den Nachbarortschaften gibt es Brücken und Ersatzfährbetriebe. Ich fürchte also, du wirst einen Umweg machen müssen. Würden sie nur ein Einkaufszentrum bauen, wäre das nicht weiter tragisch, aber im Fall von Combine liegen die Prioritäten nun mal anders. Vor einem Jahr wärst du noch problemlos über das Gelände gelangt, doch seit die technischen Anlagen installiert werden, herrschen strengste Sicherheitsvorkehrungen.« Zoë legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Kamera über ihr. »Im angrenzenden Waldgebiet wurden Bewegungsmelder und versteckte Kameras installiert«, fuhr Juraj fort. »Offiziellen Angaben zufolge eine Präventivmaßnahme, um vorzubeugen, dass sich kein Rot- oder Schwarzwild auf das Areal verirrt. Unten am Grenzzaun patrouillieren zudem Sicherheitsleute mit Hunden. Unbemerkt kommt dort ohne Tansitcode und amtliche Genehmigung nichts und niemand durch, das größer ist als ein Eichhörnchen. Ich vermute, du hast keine Lust, dich von Schäferhunden über eine kilometergroße Industriebaustelle jagen zu lassen …« Zoë...