Marrak | Lex Talionis | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 322 Seiten

Reihe: Memoranda

Marrak Lex Talionis

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-948616-65-6
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 322 Seiten

Reihe: Memoranda

ISBN: 978-3-948616-65-6
Verlag: Memoranda
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mehr als sieben Monate ist es her, seit der ehemalige Fallanalyst Alexander ›Lex‹ Crohn zum letzten Mal aktiv an der Aufklärung eines Mordfalls mitgewirkt hat. Dass er dabei in Notwehr einen Kollegen erschießen musste, hat ihn trotz aller entlastenden Indizien seinen Ruf gekostet. Doch auch er wurde damals durch einen Projektilsplitter lebensgefährlich verletzt.
Als sogenannter postkognitiver Rekonstruktor verfügt Lex über die Gabe, in die Vergangenheit zu blicken. Ausgelöst werden diese ›Echos‹ genannten Visionen durch das Berühren eines am Tatort befind­lichen Gegenstands oder des Opfers selbst.
Seine eigene Vergangenheit holt ihn ein, als er von seiner ehemaligen Teamkollegin und Lebensgefährtin zu einem bizarren Tatort gerufen wird, an dem vieles an jene schicksalshafte Mordserie erinnert, die sich sieben Monate zuvor ereignet hatte.
Bald stellt sich für Lex die Frage: Ist der Täter womöglich gar kein Mensch, sondern eine Entität, die sich in ahnungslosen menschlichen Hüllen versteckt und darin agiert, ohne Erinnerungen zu hinterlassen?

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1 Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wann meine Abwärtsspirale begonnen hatte, sich zu drehen. Vielleicht vor Monaten, vielleicht aber auch schon vor Jahren. Ihr Sog hatte sich am Anfang angefühlt wie jeder andere gegen die Moral rotierende Ereignisstrudel, der in der Stadt zu wüten beginnt. Im Prinzip macht es keinen Unterschied, ob er aus Wasser, Wind, bösen Omen oder schlechten Taten besteht. Das Resultat ist für alle Beteiligten das gleiche: Früher oder später werden sie verschlungen und an einem Ort wieder ausgespuckt, den sie sich zeit ihres Lebens unbewusst aus ihren Ängsten geschaffen haben. Das ist unser aller Los: sich in die Nacht gestoßen mit dem Undenkbaren zu arrangieren und dabei noch ein Lächeln zu bewahren. Mir war bewusst, dass der Sog bereits seit Jahren an mir und meiner Psyche zerrte, aber mit Fallroutine und ein paar schäbigen Tricks hatte ich es bisher vermocht, ihm zu widerstehen und dem Moloch eine lange Nase zu drehen. Selbst als es vor sieben Monaten für einen kurzen Moment so ausgesehen hatte, als hätte die urbane Singularität in seinem Zentrum das Tauziehen doch noch gewonnen. Der Tag, an dem mir bewusst wurde, wie nahe ich dem Abgrund ohne Wiederkehr inzwischen gekommen war, begann für Vinzenz und mich wie jeder Schicksalsstrom: an seinem Ursprung. Dabei war sein Wasser bereits eine lange Strecke durch verborgene Klüfte und Spalten geflossen, ehe es an der Oberfläche unserer Welt als Quelle zutage trat. Von dem unterirdischen Reich, in dessen Dunkelheit sein wahrer Ursprung lag, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. »Das war die falsche Querstraße.« Vinzenz Brehmer ließ die Seitenscheibe herab und streckte den Kopf aus dem Fenster. Vor sich hin murmelnd sah er sich um und starrte letztlich in den Himmel, als könnten die Sterne ihm den Weg weisen. »Ich hasse diese Villenviertel bei Nacht«, klagte er, als er keinen Orientierungspunkt fand. »Wohin man blickt, nur Hecken, Wohlstandspalisaden, Überwachungskameras und Verbotsschilder …« These suburbia streets be one hell of a place, sinnierte der Sänger im Radio und ließ mich schmunzeln. Behind those palace gates, be the familiar face … »Sehr witzig, wirklich«, brummte Vinzenz und schaltete das Radio aus. »Entspann dich«, sagte ich. »Und mach das Fenster zu. Ich weiß, wo wir sind.« »Das Auto aber anscheinend nicht.« »Denkst du wirklich, ich schlendere mir nichts, dir nichts durch den Haupteingang? Wie lange machen wir das nun schon, Vinz?« »Offenbar nicht lange genug.« »Vertrau mir. Ich parke hinter dem Anwesen.« »Und dort hängen uns dann zwei Rottweiler an den Eiern …« Ich fuhr bis zum Ende der Straße und bog auf einen unbeleuchteten Weg ab, der den Stadtwald von den heckengesäumten Grundstücksparzellen trennte. Auf den letzten Metern ließ ich den Wagen schließlich nur noch im Schein der wenigen Laternen rollen. Jenseits der gestutzten Thuja- und Ligusterhecken flackerte Blaulicht. Wir stiegen aus, schlossen die Wagentüren und gingen bis zu einem gusseisernen, ins Buschwerk eingelassenen Gartentor. Ich drückte die Klinke nieder, woraufhin die Pforte leise quietschend aufschwang. »Fortuna, du Trügerische«, murmelte ich. »Warum müssen wir uns ständig von hinten anschleichen?«, beschwerte sich Vinzenz. »Weil das der Weg ist, den auch der Puppenspieler genommen hat.« »Ist das nur eine Vermutung? Oder ein Tipp des großen weißen Kaninchens?« »Mach dich ruhig lustig, Vinz.« Zwischen uns und der erleuchteten Villenveranda lag ein etwa vierhundert Quadratmeter großes Areal aus knöchelhohem Rasen, gestutzten Bäumen, Ziersträuchern und Rabatten. Die Terrasse war bis auf einen gut drei Meter breiten Durchlass von faltbaren weißen Sichtschutzwänden umgeben. Sie verhinderten, dass Neugierige durch die breite Glasfassade blicken konnten. Unsere Kommunikation fand seit Betreten des Grundstücks nur noch nonverbal statt, mittels einer Pseudogebärdensprache, die wir uns im Lauf der Jahre angeeignet hatten. Sie machte vieles einfacher und unser Agieren unauffälliger. Als Vinzenz und ich uns auf das weitere Vorgehen geeinigt hatten und aus dem Schatten einer Hainbuche traten, vernahm ich in unmittelbarer Nähe ein verdächtiges Plätschern. Eine männliche Person seufzte, dann klimperte eine Gürtelschnalle. Ehe Vinzenz und ich Gelegenheit hatten, erneut in Deckung zu gehen, trat die Person, die sich auf der anderen Seite des Baumes erleichtert hatte, ins Sichtfeld. Es war – Fortuna, du treulose Hure! – ausgerechnet Hendrik Mertens, der arschkratzend zurück Richtung Terrassenaufgang schlenderte. Möglicherweise veranlasste ihn auf halbem Weg ein unbeabsichtigtes Geräusch, sich nach uns umzudrehen. Als er unsere Schatten bemerkte, zog er seine Dienstwaffe, zielte in unsere Richtung und bellte: »Stehen bleiben!« Mit der anderen Hand fischte er eine kleine Stabtaschenlampe aus seiner Jackentasche und leuchtete in unsere Gesichter. Beim Anblick von Vinzenz und mir stieß er einen leisen Fluch aus und steckte die Waffe zurück in sein Schulterholster. »Dass ihr beiden Knallchargen mal wieder von hinten angeschlichen kommt, war so sicher wie das Amen in der Kirche«, blaffte er uns an. Dann wandte er sich zur Terrasse um und rief: »Fechner, Ihre beiden Psychos sind hier!« »Operation Ich-spaziere-doch-nicht-durch-den-Haupteingang läuft ja echt super«, raunte Vinzenz. »Halt die Klappe«, gab ich zurück. Sekunden vergingen, bis sich nähernde Schritte auf den Verandafliesen zu hören waren. Dann tauchte Miriam Fechner zwischen den Sichtschutzwänden auf und blickte suchend in die Dunkelheit. »Hier drüben!«, rief Mertens und gab ihr Lichtzeichen. Miriam hatte ihr lockiges blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und war wie Mertens in Zivil gekleidet. Mit einer blau schimmernden Plastiktüte in der Hand lugte sie durch die Lücke im Sichtschutz. Als sie mich im Lichtkegel von Mertens’ Taschenlampe erspähte, murmelte sie etwas Unverständliches. Vorsichtig verstaute sie die Plastiktüte in einer ihrer Taschen und tänzelte die Verandatreppe herab. Meine Nervosität stieg mit jedem Schritt, den sie näher kam. Ich bemühte mich, es mir nicht anmerken zu lassen. In den nächsten Sekunden würde sich zeigen, ob sich jemand auf Kosten von Vinzenz und mir einen schlechten Scherz erlaubt hatte. Der Augenblick der Wahrheit. Leider war die Frage, ob unser Hiersein erwünscht war, nicht der einzige Knackpunkt unserer Zusammenkunft. Als Miriam und ich noch ein weitaus intimeres Verhältnis zueinander gepflegt hatten, hatte sie das Problem einmal mit den Worten formuliert: Es ist, als wären ein Löwe und ein Krokodil in einer Zeitschleife gefangen und würden sich tagein, tagaus aufs Neue an einem Seeufer um den Kadaver einer Gazelle streiten. Jeder der beiden beanspruchte den Fund für sich und versuchte ihn gegen den Willen des anderen in sein ureigenes Territorium zu zerren; der Löwe hinauf aufs Land, das Krokodil hinein ins Wasser. Beide zugleich können den Kampf nicht gewinnen. Einer von ihnen würde obsiegen – und der Verlierer es ihm ewig nachtragen. Seinerzeit war die Welt für uns noch eine andere gewesen. Kennengelernt hatten wir uns, nachdem ich meine Beratertätigkeit für das Präsidium aufgenommen hatte. Besser gesagt: Nachdem man mir dort angeboten hatte, meine Weste reinzuwaschen. Wochenlang hatten Miriam und ich unsere Beziehung heimlich gepflegt, bis sie zu einem offenen Geheimnis mutiert war, danach auch coram publico. Weitere fünf Monate waren vergangen, bis wir entschieden hatten, uns eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Als ein Jahr später endlich alles für das gemeinsame Leben bereit gewesen war und es nur noch des letzten, entscheidenden Schrittes bedurft hätte, waren wir zu der Erkenntnis gelangt, dass wir uns trennen sollten, um unser beider Seelenheil zu wahren. Ein guter Freund hatte es dereinst lakonisch als bipolare Bewusstseinserweiterung und spontanen Dogmenwechsel bezeichnet. Das bis zur Unerträglichkeit gestauchte Teslafeld zwischen unseren sich offenbar widernatürlich aufeinander zubewegenden Ego-Industriemagneten hatte sich letztlich als unüberwindbar erwiesen. Unsere Trennung war explosionsartig, aber einvernehmlich gewesen. Mit viel Blitz und Pulverdampf, aber ohne Knall und Donner. Unser einst für uns beide hergerichtetes Apartment bewohnte ich bis heute allein. »Lex!«, seufzte sie, als sie uns erreicht hatte. Gehüllt in eine für sie typische Aura aus grimmiger Nonchalance, musterte sie Vinzenz und mich. »Ich hoffe inständig, dass ihr mit der Sache hier tatsächlich nichts zu tun habt.« »Das hoffe ich auch«, bemerkte Mertens. Er zündete sich eine Zigarette an, schenkte mir einen abfälligen Blick und stapfte zurück Richtung Veranda. Ich sah zu Vinzenz, der ins Firmament starrte, als flehte er ein weiteres Mal um göttlichen Beistand. Miriam folgte seinem Blick, dann sagte sie: »Ganz ehrlich, ich würde wirklich gern endlich verstehen, wie das funktioniert.« Sie musterte mich, womöglich in der Hoffnung, nach all den Jahren endlich eine einfache und nachvollziehbare Antwort zu erhalten. »Mir wäre es allerdings lieber, deine komische … Gabe würde dich informieren, bevor so etwas geschieht. Das würde uns eine ganze Menge Arbeit ersparen.« »Schon irgendetwas Besonderes gefunden, das uns entgangen ist?«, fragte Mertens, der unserem Gespräch von der Terrasse aus lauschte....


Marrak, Michael
Michael Marrak, geboren 1965, studierte Grafik-Design in Stuttgart und trat Anfang der Neunzigerjahre als Autor, Herausgeber und Anthologist in Erscheinung. Nach einigen Jahren als freier Illustrator widmet Marrak sich seit 1997 ganz dem Schreiben und wurde für seine Romane, Erzählungen und Covergrafiken mehrfach mit dem European Science Fiction Award, dem Deutschen Phantastik Preis, dem Kurd Laßwitz Preis und dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet. Übersetzungen seiner Romane und Erzählungen erschienen in Frankreich, Griechenland, Russland, China und den USA. Sein 2017 erschienener Roman "Der Kanon mechanischer Seelen" wurde mit dem renommierten Kurd Laßwitz Preis sowie mit dem auf der Leipziger Buchmesse vergebenen Seraph ausgezeichnet.



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