Maß / von Tippelskirch | Faltenwürfe der Geschichte | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 518 Seiten

Maß / von Tippelskirch Faltenwürfe der Geschichte

Entdecken, entziffern, erzählen

E-Book, Deutsch, 518 Seiten

ISBN: 978-3-593-42456-9
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Paare, Briefe, Körper, Tanz: Die vielfältigen Beiträge dieses Bands nähern sich mit großem Einfühlungsvermögen der facettenreichen Vergangenheit Europas seit der frühen Neuzeit. Wie durch ein Schlüsselloch geben sie den Blick frei auf ungewöhnliche Alltagsszenen, unerwartete Machtkonstellationen und neu zu deutende Beziehungsgefüge. Die Konzentration auf die Miniatur und das Vergnügen am Erzählen lassen ein vielschichtiges Geschichts- und Menschenbild entstehen – jenseits der einschlägigen Meistererzählungen.
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Weitere Infos & Material


Inhalt
Vorwort 11
Sandra Maß und Xenia von Tippelskirch
LA LOGE IRA15
Ludolf Kuchenbuch

I. Zu Hofe
Der kurbayerische Rittmeister Wolfgang von Hohenfeld vor dem Kriegsgericht (1644/45)19
Heide Wunder
Gender und Politik in den Briefen der Liselotte von der Pfalz36
Lieselotte Steinbrügge
Vernetzte Höfe. Violante Beatrix von Bayern in Florenz und Siena49
Giulia Calvi
"Je baise votre nom et votre ecriture": Zur Körperlichkeit des höfisch-intimen Briefwechsels im 18. Jahrhundert68
Claudia Kollbach

II. Familie, Liebe, Kindheit
Wahlverwandtschaft und sexuelle Belästigung. Gefühle und Gerede in einer prominenten bürgerlichen Familie85
Christian Jansen
"Ich warte den ganzen Tag darauf, daß Du Dich mit mir beschäftigst, daß Du Dich in mich hineindenkst" -
Ehe und Liebe in den 1920er Jahren99
Christina Benninghaus
"… den ganzen Tag hab ich zwischen der Arbeit von unserer Zukunft geträumt" - Liebesbriefe der 1950er Jahre113
Christa Hämmerle
Sozialfürsorge für Mütter und Kinder in Italien: eine Erfindung des Faschismus?126
Patrizia Guarnieri

III. Krieg
Max Scheler und der hermeneutische Geschichtsbruch145
Lucian Hölscher
Ernst Tollers Opfer159
Steven Schouten
Die "kameradschaftlichste Unterstützung". Das Invalidenamt als Ort eines neuen Verwaltungsverständnisses?179
Peter Becker
Wissenschaft für den Krieg - Wissenschaft für den Frieden: Das Erbe der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (1911-1948)197
Reinhard Rürup
Fotografische Anthropologie der Soldaten in der Kampfpause: Nacktheit und körperliches Vergnügen212
Joëlle Beurier
Katherine A. H. Smith und das Berlin der Nazi-Zeit am Vorabend des Zweiten Weltkriegs230
Michael Wala
Keine Bewegung! Daniel Bell, der Kalte Krieg und die Informationsgesellschaft als Stillstands-Utopie240
Ute Daniel

IV. Körper und Tanz
Ernst Kantorowicz, die Zwei Körper des Königs und der Islam: Ein Versuch über den Körper des Kalifen257
Almut Höfert
"Wer die Volta tanzt, der betrachtet sich als Zentrum und Mitte eines Kreises" - oder: Wie schlägt sich internationale Politik in einer Tanzinnovation nieder?267
Angelika Werden
Geschlechterbeziehungen im Dreivierteltakt. Zum Aufstieg des Walzers in der bürgerlichen Gesellschaft281
Ulrike Weckel
Die Wahrheit sehen: verschleiert oder nackt?293
Christina von Braun

V. Ordnen und Sammeln
Die Niederungen des Archivs. Von Hilfsarbeitern und Dienern, Schriftstücken und anderen Archivdingen305
Philipp Müller
Im Irrgarten der Ordnungen eine Mulde für die weibliche Person. Die Heterotopie des Armand Schulthess318
Caroline Arni

VI. Figuren
Die Renaissance des Infamen? Leonhard Thurneysser zwischen Geschichte und Gegengeschichte335
Susanna Burghartz
Carmen: Zigarrenarbeiterin, Zigeunerin, Raucherin351
Karin Hausen
Geschlechtergeschichte verändert Geschichtsbilder: Das zweifache Leben der ›Effi Briest‹366
Ulrike Gleixner
Geschlecht und Nationalismus: Wilhelm II. in Karikaturen des Eulenburg-Skandals 1906-1909385
Martin Kohlrausch

VII. Kampf ums Recht
Die "Mandarin-Boys". Verwandlungen einer Überfahrt403
Bernd Weisbrod
Im Schnittpunkt von Recht und Gewalt - zeitgenössische Diskurse über die Taktik der Suffragetten416
Ute Gerhard
"Whispers in the Women's Majlis". Feministische Spuren in den Vereinigten Emiraten431
Pernille Arenfeldt

VIII. Arbeit und Ökonomie
"Die Frau auf dem Gebiete der Nationalökonomie". Ein Vortrag Lorenz von Steins aus dem Jahr 1875451
Dirk Blasius
Im Bauch der Stadt. Kanalisation und Bürgerstolz im 19. Jahrhundert462
Franz-Josef Brüggemeier
Die unsichtbare Mehrheit: Frauen als mithelfende Familienangehörige in der Weimarer Republik481
Daniela Rüther
San Domenico di Fiesole: Capolinea d'Europa495
Rengenier C. Rittersma
Autorinnen und Autoren513


Vorwort
Sandra Maß und Xenia von Tippelskirch
"Wie die Falten auf dem Papiere, welche zuletzt gemacht worden, oder welche öfter gemacht werden, länger dauren als die übrigen, und sich unsern Augen leichter darstellen, so können wir uns auch derjenigen Dinge, welche wir zuletzt dem Gedächtnisse zu behalten übergeben, oder durch Wiederholung demselben einverleibet und nachdrücklicher eingedrücket haben, mit leichterer Mühe erinnern, als derer übrigen. Soll auch die Reihe der Falten sich leichter entwickeln, so muß man solche öfters falten, je öfter eine solche Faltung geschieht, je leichter werden sich solche Falten bey einer Gelegenheit entfalten. […] Aber, wird man sagen, wie kommt es, daß man, wenn man auch nicht krank ist, oft viele Dinge so vergißt, daß auch keine Spur von ihnen mehr übrig ist […], daher geschieht es, daß, wenn einige Theile von den Falten auseinander gehen, und neue Falten hinzukommen, endlich die Falten vergehen […], oder wenn die Falte entweder nicht stark genug gemacht, oder auch nicht tief genug eingedruckt worden."
(Justus Christian Hennings, Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere, Halle 1774, S. 84f.)
Die Analogie, die der deutsche Philosoph Justus Christian Hennings im 18. Jahrhundert zwischen dem Gedächtnis und den Falten zog, betont die Bedeutung der Falte und den Vorgang der Faltung. Die Papierfalte symbolisierte für ihn das Erinnerte. Je besser die Falte gesetzt sei, desto leichter sei sie zu nutzen (und zu erinnern). Er variierte also das tabula rasa-Motiv, mit dessen Hilfe Denker seit Jahrhunderten über das Funktionieren des Gedächtnisses reflektiert hatten, indem er die Wachstafel durch Papier ersetzte. Papier ritzt man nicht, sondern man faltet es. Die Metapher schien neue Aussagen über das nur schwer zu erfassende "Seelenleben" der Menschen zu ermöglichen. Die Faltenwürfe der Geschichte folgen diesem Metapherngebrauch des deutschen Philosophen nicht, auch wenn seine Analogie verführerisch klingt, assoziiert sie doch die Erinnerung in der Zeit mit einer räumlich verorteten Tätigkeit. Dies könnte eine geschmeidige Überleitung zur Geschichtswissenschaft sein. Faltenwürfe sind unserer Meinung nach jedoch nicht nur an der Kante, an der - räumlich gesprochen - aufgepolsterten Auswölbung von Interesse. Nicht allein das, was sichtbar heraussticht, glänzt, sondern auch das, was zwischen zwei Falten liegt, was sich verbirgt oder verborgen wird, wenn ein Papier gefalzt, ein Rock gebauscht, eine Stirn gerunzelt, eine Schachtel gefaltet wird, schimmert und bedarf der aufmerksamen Rekonstruktion. Für manche Histori-kerinnen und Historiker gilt es gerade diese zwischen zwei Falten ver-steckten Räume aufzuspüren, zu analysieren und darzustellen. Dabei müssen sie sich wie Bildhauer, deren Können am Faltenwurf gemessen wurde, geschickt anstellen. Dieser Band, der zugleich Festschrift für Regina Schulte ist, versammelt viele dieser Historiker. Die Beiträge, die sich zumeist auf Miniaturen konzentrieren, suchen nach versteckten Details und nach vermeintlich Marginalem. Wie durch ein Schlüsselloch geben sie den Blick frei auf ungewöhnliche Alltagsszenen, auf Einzelheiten im Herrschaftsgebaren, auf unerwartete Machtkonstellationen und neu zu deutende Beziehungsgefüge. In und hinter den "Falten" der Geschichte entdecken sie Frauen und Männer, Arbeiter, Bürgerinnen und Adelige, Kinder und Erwachsene, mit jeweils eigenen Strategien und eigensinnigen Handlungsweisen. Die Konzentration auf die Miniatur und das Vergnügen am Erzählen und Erzählten, das die Polyphonie der Stimmen aufrechterhält, lassen ein vielschichtiges Geschichts- und Menschenbild entstehen - jenseits der sogenannten master narratives. Diese Perspektive hält die Beiträge zusammen. Wir gaben keinen thematischen oder zeitlichen Schwerpunkt vor, als wir die Beiträge sammelten. Die Autoren und Autorinnen wurden allerdings gebeten, über etwas zu schreiben, das sie mit Regina Schultes wissenschaftlicher Arbeit verbindet. Die thematische und zeitliche Spanne der Beiträge veranschaulicht die enorme Produktivität, die Regina Schultes beharrliches Befragen von Subjektivität in historischen Strukturen bei ihren Kollegen, Kolleginnen und Schülern auslöst.
Regina Schulte ist eine Meisterin der Entfaltung. Nur selten gibt sie sich mit dem Offensichtlichen zufrieden. Sie sucht die "Orte der Einschließung und des Verbergens" auf, sie recherchiert die Gründe für zerbrechende Ordnungen im Recht, in den Normen, Handlungsweisen und in den Psychen der Menschen. Regina Schulte betrachtet Menschen an den vermeintlichen Rändern der Geschichte. Seit den Anfängen ihrer historischen Forschungen holt sie Prostituierte und Dienstmädchen, Kindsmörderinnen, Bauern und Brandstifter aus dem Schatten der Geschichtsschreibung und verleiht ihnen Subjektstatus. Schon früh schrieb sie Frauengeschichte ohne Positivismus und Konservierungsgeist. Sie liefert unerwartete Interpretationen und nimmt neue Perspektiven ein, wobei sie ein besonderes Gespür für die Komplexität der - mitunter die Grenzen des Erträglichen sprengenden - menschlichen Psyche zeigt.
Die Menschen, auf die sie das Augenmerk lenkt, sprechen, handeln, sie leisten Widerstand, sie scheitern. Es sind allerdings niemals Aufdeckungsgeschichten einer vermeintlich verloren gegangenen Welt: Immer erwachsen die Subjekte aus ihrem sorgfältig rekonstruierten Kontext und in Auseinandersetzung mit denjenigen, die mit Macht und Herrschaft ausgestattet sind. In den Reibungen mit dem "Zentrum" konstituieren sich die Menschen als Subjekte der Geschichte, sie haben ihre eigene Strategie, ihre Sprache und ihre Handlungsweisen. Deshalb sind Regina Schultes Untersuchungen auch immer Analysen von Herrschaftsverhältnissen, ohne diese jedoch als übermächtig zu beschreiben. Denn die duale Konstruktion vom machtvollen Zentrum und den machtlosen margins gerät immer wieder ins Wanken, sie verschiebt sich oder löst sich auf. Nicht jedes eigensinnige Handeln gerät zum Widerstand. Dass sich Macht nicht nur in einer dichotomen "Oben-unten"-Struktur äußert, zeigen Regina Schultes Untersuchungen zu Müttern und ihren Kindern, ob es sich nun um Königinnen oder um Künstlerinnen handelt. Maria Theresia und Käthe Kollwitz geben beide ihre Kinder preis. Das Zentrum der Macht stellt sich als begrenzt heraus: Während die königliche Macht durch die Ambivalenz des doppelten Körpers der Königin gefährdet werden kann, ist der Gewinn nationaler Mütterlichkeit bei Kollwitz am Ende ein Verlust der mütterlichen Kon-trolle.
In gewisser Weise hat sie durch ihr unermüdliches Suchen hinter den Falten der Geschichte, durch das stete Knicken von überkommenen Er-zählstrategien das, was verborgen lag, ans Licht geholt und erinnerungs-würdig gemacht, und fast wäre man versucht, nun doch wieder an Hen-nings anzuschließen: Denn durch das stete Nachfragen verschieben sich die alten Falten, das was zuunterst lag, liegt nun zuoberst und lässt sich leicht erinnern. Das zeigen nicht zuletzt die expliziten und impliziten Ver-weise auf Regina Schultes Arbeiten und auf die von ihr ›ausgegrabenen‹ Figuren in den hier versammelten Beiträgen. Denn die Geschichte ist eben nicht in Stein gemeißelt, wie sie Reinhold Begas in der auf dem Buchumschlag abgebildeten Allegorie der Geschichte dargestellt hat.
Die Publikation dieses Bandes ist aus Gleichstellungsmitteln der Fa-kultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum und durch Beiträge des Deutschen Akademikerinnenbundes e.V. und der Gerda-Weiler-Stiftung finanziell unterstützt worden. Dafür danken wir. Wir danken außerdem Ingrid von Tippelskirch für die sensible Überset-zung zweier Beiträge, Elisabeth Fischer für die tatkräftige und zuverlässige Unterstützung beim Satz des Manuskripts, Christoph Roolf für das Korrektorat, Joachim Fischer für die geduldige Begleitung beim Layout, Jürgen Hotz vom Campus-Verlag für die umsichtige Betreuung des gesamten Buchprojektes und allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre inspirierende Mitarbeit. Wir alle haben für Regina Schulte geschrieben.


Sandra Maß, PD Dr. phil., lehrt an der Universität Bochum. Xenia von Tippelskirch, Dr. phil., ist Juniorprofessorin an der HU Berlin.


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