Mathies | Mord im Filmpodium | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 3, 260 Seiten

Reihe: Krimi-Autorin Cressida Kandel

Mathies Mord im Filmpodium

Zürich-Krimi
2023
ISBN: 978-3-8392-7676-1
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Zürich-Krimi

E-Book, Deutsch, Band 3, 260 Seiten

Reihe: Krimi-Autorin Cressida Kandel

ISBN: 978-3-8392-7676-1
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Die Krimischriftstellerin Cressida Kandel erkennt im Kinosaal des Zürcher Filmpodiums einen alten Bekannten. Kurze Zeit später wird dieser mit durchgeschnittener Kehle im Saal aufgefunden. Ein Schriftstück, das in seiner Tasche entdeckt wird, deutet darauf hin, dass er mehrere Menschen erpresst hat. Hauptkommissar Grimm durchforstet Cressidas Vergangenheit - und verdächtigt sie des Mordes. Das kann sie nicht auf sich sitzen lassen. Doch als Cressida versucht, das Dokument zu entschlüsseln und den Mord aufzuklären, gerät sie in Lebensgefahr.

Susanne Mathies, 1953 in Hamburg geboren, ist inzwischen in Zürich beheimatet. Sie promovierte erst in Wirtschaftswissenschaft, dann in Philosophie und schreibt Lyrik, Kurzgeschichten und Romane. Bisher hat sie sechs Zürich-Krimis veröffentlicht. Die Autorin gehört der Redaktion der orte-Literaturzeitschrift an und ist Mitherausgeberin der orte Poesie Agenda. Mehr Informationen zur Autorin unter: www.smathies.info
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1. Kino


Er lehnte sich in das Polster des Erste-Klasse-Sessels zurück, drehte sich nach rechts und sah aus dem Fenster. Sein Profil wirkte klassisch, eine gerade Nase unter einer hohen Stirn, unter den vollen Lippen ein markantes glatt rasiertes Kinn. Wenn seine Augen nicht in so einem kalten Grau gefunkelt hätten, wäre er ein schöner Mann gewesen. Er war elegant gekleidet, in einen gut geschnittenen Anzug aus grauer Rohseide, und an seinem Handgelenk blinkte eine Uhr einer bekannten Marke. Im Morgenlicht strahlte zu seiner Linken der schneebedeckte Bahnsteig von St. Moritz, zur Rechten blinkte der stille See vor dem Bergmassiv. »Wie in den Ferien in einem anderen Jahrhundert«, sagte er laut, obwohl er keine Zuhörer hatte, und schlug das Buch auf, das vor ihm auf dem Tisch lag. Auf der ersten Seite war deutlich ein Stempel zu sehen, »Eigentum des Hotels Waldhaus, St. Moritz«. Beim Anblick des Stempels zuckten seine Mundwinkel kurz, dann blätterte er weiter. Das Buch war anscheinend noch ungelesen, jungfräulich, wenn auch schon etwas ältlich, 1953 erschienen. Das Vorwort überschlug er, ging gleich zum eigentlichen Text. Ein paar Worte im ersten Absatz fielen ihm sofort ins Auge: »… fand sich Schulter an Schulter mit einem Mann, der gerade noch eine halbe Minute zu leben hatte …« – Jetzt breitete sich ein echtes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

Die Bahnhofsuhr zeigte genau 10 Uhr, und der Zug setzte sich in Bewegung, pünktlich auf die Minute. Auf den Kopfbezügen der Sessel war eine eingestickte Inschrift zu sehen, »patschifig«. Er googelte den Begriff auf seinem Smartphone und fand heraus: rätoromanisch für »gemütlich«. Er klappte das Buch zu und begutachtete den Umschlag. Edmund Crispin, Morde – Zug um Zug, unter dem Titel war ein Schnellzug abgebildet.

Die Verbindungstür zum Waggon öffnete sich. Der Zugbegleiter trat ein, ein bulliger Mann in fescher grau-roter Uniform, mit einem auffälligen breiten Schlips, schräg aufsteigend gestreift. Der Zug ratterte in den Gleisen. Der Zugbegleiter trat näher zu dem Passagier, der immer noch das Buch in der Hand hielt. Der Mann mit dem Buch schaute hoch. Da fuhr der Zug in einen Tunnel, und es wurde dunkel.

*

Cressida fluchte innerlich. Wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie laut und hemmungslos gewettert. Stattdessen musste sie versuchen, im Dunkeln auf dem abschüssigen Gang des Kinosaals unfallfrei nach unten zu kommen, ihr reservierter Platz war in der dritten Reihe. Über ihrem Ärger konnte sie die nostalgische Atmosphäre des Saales nicht so bewusst genießen wie sonst. Reihe 3, Platz 7 war ihr Lieblingsplatz, und aus Gefälligkeit hatte sie heute gleich daneben Platz 8 mit reserviert. Und viel zu lange im Foyer gewartet, ob der Mann, mit dem sie verabredet war, vielleicht doch noch eintraf. Nie wieder ein Rendezvous mit einem flüchtigen Bekannten, bei dem sie selbst zuerst da sein musste, sagte sie sich wütend, während sie mit dem Fuß vorsichtig nach vorn tastete. Sie hätte es sich ja denken können. Dieser Detlef war also auch einer von diesen Standardmännern, die sich beweisen wollten, dass sie bei einer Frau landen könnten, wenn sie es nur versuchten, und die sich schon beim Vereinbaren des ersten Treffens als Sieger fühlten. Detlef, allein der Name hätte sie stutzig machen sollen, so ein Detlef war immer ein braver Familienvater, der mal kurz mit dem Nichtbravsein flirten wollte. Inzwischen saß er bestimmt schon am Abendbrottisch und ließ sich von seinem Sohn das große Einmaleins aufsagen, während seine Frau das nachhaltige Brigitte-Menü auftischte. So eine verdammte Zeitverschwendung! Dabei hatte sie ihn noch nicht einmal sexy gefunden. Es war einfach nur nett gewesen, sich mit einem freundlichen Mann über eines ihrer Lieblingsthemen zu unterhalten. Und jetzt so eine blöde Entwicklung, als ob das Ganze ein Liebesdrama hätte werden sollen!

Der Film hatte schon angefangen, sie hatte den Vorspann verpasst. Bei den meisten Filmen war der Vorspann das Beste, außerdem brauchte man den zum Einstimmen auf die Atmosphäre. Oh nein, in diesem Moment wurde es gerade richtig dunkel auf der Leinwand, nur ein paar schwache Lichtpunkte waren am unteren Rand zu sehen. Vorsichtshalber blieb sie stehen und wartete. Warten hatte sie heute ja schon ausreichend geübt.

Eine Weile passierte nichts auf der Leinwand, die Lichtflecken erschienen aber etwas weniger matt, wahrscheinlich gewöhnte man sich an die Dunkelheit, und im Hintergrund war ein lautes, stetiges Rattern zu hören, begleitet von einem pfeifenden Rauschen. Dann plötzlich gleißend helles Licht, das auf der Leinwand durch eine große rhombenförmige Öffnung fiel. Ein Zugfenster. Cressida hatte eine Vorliebe für Filme, die in fahrenden Zügen spielten. Es wurde Zeit, dass sie zu ihrem Platz kam, um sich auf die Handlung konzentrieren zu können. Es sollte ein neuer Schweizer Kriminalfilm sein, das interessierte sie als Krimi-Schriftstellerin allein beruflich. Glücklicherweise konnte sie nun ihre Umgebung besser erkennen. Reihe 3, da war sie. Aber was war das, wieso saß da schon jemand auf Platz 8? Hatte Detlef sich vielleicht doch eingefunden und war heimlich in den Kinosaal geschlichen, um sie zu überraschen? Nein, den Gedanken verwarf sie sofort wieder. Wahrscheinlich hatte sich einfach irgendjemand dort hingepflanzt, weil es ihm gerade passte. Ein Mann, natürlich. Sie beschloss, sich drei Plätze weiter hinzusetzen. Sie warf dem Besetzer von Platz 8 einen wütenden Blick zu, während sie ihren Sitz herunterklappte. Dann erschrak sie. Denn sie kannte diesen Mann, und sie hatte ihn hier nicht erwartet. Sie hatte noch nicht einmal gewusst, dass er sich in der Schweiz aufhielt. Er sah noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte: aufrecht, schmal, grauhaarig, mit sorgfältig gestutztem Bart. Vielleicht ein bisschen magerer als damals – war er vielleicht krank? Seit über einem Jahr hatte sie keine Nachricht mehr von ihm bekommen. Würde er sie erkennen? Aber er sah gar nicht in ihre Richtung. Sein Gesicht war der Leinwand zugewandt. Dort sollte sie jetzt auch hinsehen. Nach dem Ende des Films konnte sie ihn immer noch ansprechen, er würde ja nicht mittendrin weglaufen. Sie fragte sich, was sie ihm wohl sagen würde. Sicher wieder das Falsche, wie immer, wenn sie sich auf ihr Bauchgefühl verließ. Aber planen mochte sie diese Unterhaltung nicht.

Im Film fiel das gleißende Morgenlicht auf den grau-rot gemusterten Teppichboden des Zugabteils. Ein gellender Schrei ertönte. Der Kamerablick folgte der gezackten roten Linie, hielt kurz an der Innenseite einer auf dem Boden liegenden Kappe an und bewegte sich dann auf einen Körper zu, der dahinter lag, man sah zuerst die kahle Oberseite eines Kopfes, dann den Körper in einer grauen Uniform mit rot gestreifter Krawatte. Ein Messer steckte bis zum Heft auf der linken Brustseite der Uniformjacke, umgeben von dunklen, glänzenden Flecken. Nun fuhr die Kamera zurück auf das Gesicht des Mannes und verharrte einen Moment auf den hervorquellenden hellblauen Augen, die keinen Ausdruck hatten.

Dann noch ein Schrei. Die Kamera schwenkte ein Stück zurück, zeigte die Spitze eines silbernen Damenstiefels, die gleich darauf wieder aus dem Blickfeld verschwand. Über dem Rattern des Zuges hörte man das Klappern von Absätzen, die sich entfernten. Es wurde wieder dunkel.

Das war ganz hübsch gemacht, dachte Cressida, aber irgendwie frustrierend. Bisher hatte sie keinen einzigen der Protagonisten sehen können, nur einen Toten, und der sah so tot aus, dass er im restlichen Film wahrscheinlich nicht wieder auftauchen würde, oder höchstens kurz in einer Rückblende. Worum ging es hier eigentlich?

Vielleicht sollte sie doch mit ihrem Sitznachbarn Kontakt aufnehmen und ihn nach dem Filmanfang fragen. Sie drehte sich nach links um. Aber auf Sitz Nummer 8 saß niemand mehr. Es war zwar wieder dunkel im Kinosaal, doch so viel konnte sie gerade noch erkennen. Hatte er sich unbemerkt zur anderen Seite hinausgeschlichen? Oder hatte sie sich in ihrem Ärger vorhin einfach nur eingebildet, ihn dort zu sehen? Jede dieser Möglichkeiten verstärkte das unangenehme Gefühl, das sich in ihr breitgemacht hatte. Denk nicht dran – genieße lieber den Film, ermahnte sie sich.

Dort hatte der Zug inzwischen den Berg erklommen und fuhr im Bahnhof Alp Grüm ein. Rucksackbeschwerte Touristen stiegen aus und hoben ihre Smartphones. Das hölzerne Bahnhofsgebäude und die steile Böschung wirkten echt, wahrscheinlich war die Szene wirklich vor Ort gedreht worden. Ein Ziegenbock spazierte am Rand der Böschung entlang, unbeeindruckt von allem, was unten passierte. Im allerletzten Wagen öffnete sich nun die Tür, und ein elegantes Paar trat auf den Bahnsteig, ein hochgewachsener, arrogant aussehender junger Herr im grauen Anzug, an dessen Ärmel der Schriftzug »BOSS« zu sehen war, der eine sehr distinguiert wirkende ältere Frau in einem Chanel-Kostüm sehr fest eingehakt hatte. Die Frau trug silberne Stiefel.

Cressida schnaubte. Ein so offensichtliches Product-Placement hatte sie nicht erwartet. Der Plot würde sich qualvoll drehen und wenden müssen, um das alles zu rechtfertigen. Sie war ein Fan von Kriminalfilmen, und von einem in den Medien so bejubelten Schweizer Regisseur wie Reto Langhausen hatte sie wirklich mehr erwartet. Die Geschichte wirkte – jedenfalls bis jetzt – einfach nur lächerlich. Der Anzugträger war höchstens Mitte 30, so ein junger Mann würde heutzutage niemals so etwas klassisch Elegantes tragen, oder höchstens auf dem Laufsteg bei einer Modenschau. Irgendwie hatte sie keine Lust mehr, diesen Film zu Ende zu schauen, ihre Stimmung war ja...


Susanne Mathies, 1953 in Hamburg geboren, ist inzwischen in Zürich beheimatet. Sie promovierte erst in Wirtschaftswissenschaft, dann in Philosophie und schreibt Lyrik, Kurzgeschichten und Romane. Bisher hat sie sechs Zürich-Krimis veröffentlicht. Die Autorin gehört der Redaktion der orte-Literaturzeitschrift an und ist Mitherausgeberin der orte Poesie Agenda.
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