E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Meisner / Schmidt Wer sich anpasst, kann gleich einpacken
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-451-82134-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lebenserinnerungen
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-451-82134-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joachim Kardinal Meisner, geb. am 25. Dezember 1933 in Breslau, Niederschlesien; gestorben am 5. Juli 2017 in Bad Füssing, Niederbayern. Er war Theologe, Erzbischof und Kardinal der katholischen Kirche. Von 1989 bis 2014 Erzbischof von Köln. Zuvor war er von 1980 bis 1989 Bischof von Berlin und von 1982 bis 1989 Vorsitzender der Berliner Bischofskonferenz. Gudrun Schmidt, geb. 1941 in Glatz/Schlesien, aufgewachsen in Bielefeld, Journalistin und Buchautorin. Als Redakteurin wechselte sie 1969 zum Westdeutschen Rundfunk, wo sie 33 Jahre lang als Reporterin, politische Redakteurin und Kommentatorin tätig war.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kindheit, Krieg und Vertreibung
Die Kindheit in Schlesien
Wir wohnten in der Lissaer Straße 333 und gehörten eigentlich zu Stabelwitz. Aber wir fühlten uns als Lissaer und sagten immer, dass unser Haus das erste Haus von Lissa ist. Es war ein schönes, dreistöckiges Gebäude. Unten befand sich das Kolonialwarengeschäft meiner Eltern. Im dritten Stock wohnten die Familie Bischof mit einem Jungen und die Familie Keusch mit den zwei Jungs, die so alt waren wie mein Bruder und ich. Wir haben uns alle prächtig verstanden. Nur hin und wieder gab es ein Donnerwetter vom Hausbesitzer, weil wir Kinder ganz schön munter waren. Aber das haben die Erwachsenen dann unter sich geregelt.
Ich wurde als zweiter von vier Söhnen der Familie Meisner geboren. Dass aus mir einmal ein Bischof werden sollte, hätte sich mein Taufpate bestimmt nicht träumen lassen, denn der pflegte gern zu scherzen, dass aus dem kleinen Täufling Joachim einmal ein »lockerer Vogel« werden würde, da »alle Anzeichen darauf hindeuteten«. Und das kam so:
Patenonkel Werner reiste mit einigen anderen – alle festlich in Frack und Zylinder gekleidet – zu meiner Taufe an. In Lissa, an der Gaststätte »Zur Hoffnung«, stiegen sie aus dem Omnibus. Es war etwas zu früh, und so beschlossen die Männer, vorher noch einen Cognac zu trinken. Als sie die Gasthaustür öffneten, wurden sie zu ihrem größten Erstaunen von einem Männerchor festlich begrüßt. Danach richtete sich die versammelte Gesellschaft an Onkel Werner mit der Aufforderung, nunmehr die Geflügelschau zu eröffnen. Der Patenonkel, gern zu Späßen aufgelegt, ließ sich nicht lange bitten. Er fand geschickt ein paar passende Worte, lobte zur Begeisterung seiner Zuhörer den Fleiß der Züchter und wünschte der Ausstellung viel Erfolg. Dann verabschiedete er sich und machte sich mit den anderen schleunigst auf den Weg zu meiner Tauffeier – wohl darauf bedacht, nicht dem eintreffenden »richtigen« Geflügelschau-Vorstand zu begegnen, sodass die Verwechslung am Ende gar unangenehme Folgen für sie gehabt hätte. Auch später noch wurde über diese Geschichte von der Eröffnung der Geflügelausstellung vor meiner Taufe viel gelacht, vor allem, wenn der Patenonkel seine Prophezeiung vom »lockeren Vogel« wiederholte, als der Täufling von damals längst Priester war.
Dass es sich bei den Meisners um einen Geschäftshaushalt handelte, empfanden wir Kinder einerseits als Nachteil, weil die Eltern sehr beschäftigt waren und wenig Zeit für uns hatten, aber andererseits freuten wir uns auch über die Vorteile, die dies mit sich brachte. Ich fand es interessant, dass immer die unterschiedlichsten Leute zu uns kamen – ins Geschäft, aber auch in die Wohnung. Denn die Eltern waren mit vielen Kunden befreundet, sodass wir sonntags oft Gäste hatten oder selbst eingeladen waren. Der Freundeskreis wurde immer größer.
Besuch bei Schafen und Ziegen
Am schönsten war für mich die Zeit, in der die Erstkommunionen und die Firmungen stattfanden. Dann beauftragte mich unsere Mutter, Geschenke zu den Familien zu bringen. Die hatten oft Schafe und Ziegen, und zu meiner großen Freude wurde mir stets erlaubt, zu den Tieren in den Stall zu gehen. Wenn Schweineschlachten angesagt war, schickte mich meine Mutter immer mit einer großen Milchkanne auf den Weg, um Fleischbrühe zu holen. Zur Belohnung legte sie mir manchmal Bonbons auf den Kannenboden, fein eingewickelt in eine graue Papiertüte. Aber einmal ging die Sache schief. Denn unterwegs traf ich Freunde. Wir spielten, und ich vergaß die Zeit, aber auch die Bonbons. Beim Schweineschlachten angekommen, goss man mir reichlich gute Brühe in die Kanne, und als ich nach Hause kam, gab’s nicht nur Schimpfe, weil ich so lange getrödelt hatte, sondern auch eine unangenehme Überraschung, die ganz allmählich ans Licht kam. Die Brühe wurde in einen Topf gegossen und heiß gemacht. Oben schwamm etwas Graues, das alle für leckere Wurststücke hielten. Doch das Graue entpuppte sich als Bonbonpapier, und die Brühe schmeckte süß wie Limonade. Sie musste leider weggegossen werden. Die Verkäuferinnen, die mit belegten Semmeln in der Hand auf den Genuss der Fleischbrühe gewartet hatten, waren sehr enttäuscht. Sie taten mir auch leid, denn ich hatte sie ja nicht ärgern wollen, sondern nur die Bonbons auf dem Kannenboden vergessen. Mein Mitleid und meine Reue halfen mir nicht. Von der Mutter gab’s ein paar kräftige Ohrfeigen.
So sehr uns Kindern der Trubel des Geschäftshaushalts gefiel, so sehr bekamen wir natürlich auch die Nachteile zu spüren. Vor allem an Weihnachten, wenn unsere Freunde und Schulkameraden in der Nachbarschaft längst Bescherung feierten, standen Vater und Mutter im Laden, weil immer noch Kunden kamen, die etwas vergessen hatten. Die wurden natürlich nicht weggeschickt, sondern genauso freundlich bedient wie zu anderen Zeiten.
Wir hatten eine schöne Kindheit und durften herrliche Jahre in viel Freiheit erleben. Den Kindergarten besuchten wir nicht, wir gingen aber auch noch nicht in die Schule. Oft sind wir Jungs in die Stadt gefahren, haben uns mit unseren Cousins getroffen oder auch unsere Onkel und Tanten besucht, von denen die meisten ebenfalls ein Geschäft hatten. Am liebsten hielten wir uns an der Bonifatiuskirche am Bahnhof der Schmalspurbahn auf, denn die hatte Anhänger mit Perrons, also mit jeweils einer freien Plattform. Wenn uns keiner erwischte, sind wir auf diese Plattform aufgesprungen – und wenn der Schaffner kam, während der Fahrt wieder abgesprungen. Das war ziemlich gefährlich, und unsere Eltern haben uns immer wieder ermahnt. Aber das hat nichts geholfen.
Im Sommer haben wir Kinder uns meistens im Freibad aufgehalten oder an der Weistritz, einem Nebenfluss der Oder, in dessen Nähe wir wohnten. Wir sind übermütig in den Fluss gesprungen, und irgendwie habe ich dabei schwimmen gelernt. Im Winter konnten wir auf der zugefrorenen Weistritz Schlittschuh laufen. Viel spannender waren für uns allerdings die Zeiten der Schneeschmelze zum Ende des Winters, wenn das Eis auf den Flüssen gesprengt wurde und die Eisschollen vorbeitrieben. Dann sind wir trotz ernsthafter Ermahnungen Schollen gelaufen. Einmal bin ich dabei abgerutscht und untergetaucht. Zum Glück kam ich aber zwischen zwei Schollen wieder hoch, sodass mich jemand packen und herausziehen konnte.
Die Mutter
Unsere Mutter war eine stattliche, schöne Frau, mittelgroß, schlank, dunkelhaarig und sehr kommunikativ. Von Anfang an arbeitete sie mit im Geschäft. Für unsere acht Verkäuferinnen war sie die unbestrittene Chefin. Dass unsere Familie trotz der vielen Arbeit dennoch täglich gemeinsam zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Mittagessen zusammenkam, hatten wir unserem Vater zu verdanken. Er legte darauf großen Wert.
Tante Agnes
Die Arbeit im Haushalt erledigte Tante Agnes, unsere Haushälterin. Mit ihr habe ich mich ganz besonders gut verstanden, denn sie hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Wenn ich etwas nicht essen wollte, brauchte ich trotzdem nicht zu hungern. Denn Agnes kannte ja meinen Geschmack. Unter dem Vorwand, ich sei müde und müsse mich ausruhen, bereitete sie mir heimlich einen Eierkuchen mit Marmelade, den ich dann in ihrem Zimmer essen durfte. Natürlich spielte dabei eine Rolle, dass ich zweieinhalb Jahre jünger war als mein Bruder Hubert, der als ein sehr wilder Junge auffiel. Die Kleineren waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren. Und so stand ich als der kleine Bruder unter dem besonderen Schutz der guten Agnes.
Allerdings erlebte ich damals meinen ersten großen Verlustschmerz. Denn Agnes heiratete. Sie hatte im Bahnhof beim Warten auf ihren Zug einen netten Mann kennengelernt, einen Witwer mit einer Tochter, den sie bald darauf ehelichte. Es tröstete mich wenig, dass ich in der Hochzeitskutsche neben dem Kutscher bis zur Kirche mitfahren durfte. Ich habe so viel geweint, dass ich von der Feier nichts mitbekam. Abends musste man mich ganz früh ins Bett stecken. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie das riesige Federbett wie eine gewaltige Wolke über mir lag, sodass ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Am nächsten Morgen war ich krank: Zur großen Trauer über den Verlust von Agnes kam noch Ziegenpeter hinzu.
Agnes war mit ihrem Mann und der Tochter in die Lausitz gezogen, wo sie im Alter von 86 Jahren starb. Bis zu ihrem Tod standen wir stets in Verbindung. Und in den Ferien sind wir oft zu ihr gefahren. Nie werde ich die herrlichen Fahrradausflüge vergessen, die wir dort gemeinsam unternommen haben.
Der Vater
Unseren Vater haben wir Kinder zutiefst bewundert. Wir hatten großen Respekt vor ihm, denn er war ein stattlicher, energischer Mann. Als Konvertit nahm er seinen Glauben sehr ernst. Alle vier Wochen ging er zur Beichte und zur heiligen Kommunion. Wenn er sich samstags darauf vorbereitete, schickte uns die Mutter nach draußen in den Hof, damit wir ihn nicht stören konnten. Sonntags gingen wir selbstverständlich gemeinsam zur Kirche. Mein Vater trug – so wie damals durchaus üblich – Frack und Zylinder. Die Familie empfand dies als besonders festlich und war dementsprechend stolz auf ihn.
Wir Kinder mussten sonntags natürlich ebenfalls fein angezogen sein – was uns weniger gut gefiel. Denn die Prozedur begann meist schon samstags mit einer Anziehprobe, die von viel Geschrei begleitet war, weil die schönen Pullover und die gestrickten Strümpfe kratzten, sodass wir heftig protestierten, während die Mutter schimpfte. Unser Protest wäre sicherlich noch ausdauernder gewesen, wenn nicht im Anschluss an diese Anziehprobe unsere Leib- und Magenspeise gewinkt hätte, auf die wir uns schon den ganzen Tag...