Miller | Warum es keine Fische gibt | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 344 Seiten

Miller Warum es keine Fische gibt

Eine Geschichte von Verlust, Liebe und der verborgenen Ordnung des Lebens
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-905574-26-5
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Geschichte von Verlust, Liebe und der verborgenen Ordnung des Lebens

E-Book, Deutsch, 344 Seiten

ISBN: 978-3-905574-26-5
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



David Starr Jordan war ein Professor für Taxonomie. Ein Mann, der sich mit der Einordnung der Lebewesen in systemischen Kategorien befasste, der davon besessen war, Ordnung in die natürliche Welt zu bringen. Im Laufe der Zeit wurde ihm die Entdeckung und Benennung von fast einem Fünftel aller Fische zugeschrieben, die den Menschen dieser Zeit bekannt waren. Doch je mehr er Elemente des verborgenen Bauplans des Lebens entdeckte, desto mehr schien das Universum ihn daran hindern zu wollen. Seine Sammlungen wurden durch Blitzschlag, Feuer und schließlich 1906 durch das Erdbeben in San Francisco zerstört, bei dem mehr als tausend in zerbrechlichen Gläsern aufbewahrte Funde zu Boden stürzten. In einem Augenblick war sein gesamtes Lebenswerk zerstört. Viele hätten in diesem Moment vielleicht aufgegeben und wären verzweifelt. Aber nicht Jordan. Er betrachtete die Trümmer zu seinen Füßen, fand den ersten Fisch, den er damals benannte, und begann zuversichtlich, seine Sammlung wieder aufzubauen. Als die NPR-Reporterin Lulu Miller diese Anekdote zum ersten Mal im Vorbeigehen hörte, hielt sie Jordan für einen Narren - ein abschreckendes Beispiel für Selbstüberschätzung oder Verleugnung. Doch während sie ihr eigenes Leben langsam entwirrte, begann sie, sich über ihn Gedanken zu machen. Vielleicht war er stattdessen ein Vorbild dafür, wie man weitermacht, wenn alles verloren scheint. Was sie nicht wusste: alles, was sie über sein Leben herausfinden würde, würde ihr Verständnis von Geschichte, Moral und der Welt unter ihren Füßen tiefgreifend verändern. Teils Biografie, teils Memoiren, teils wissenschaftliches Abenteuer: 'Warum es keine Fische gibt: Eine Geschichte von Verlust, Liebe und der verborgenen Ordnung des Lebens' ist eine wundersame Fabel über das Durchhalten in einer Welt, in der das Chaos immer die Oberhand behalten wird.

Lulu Miller ist die Co-Moderatorin von Radiolab, Mitbegründerin von der Radiosendung Invisibilia (NPR National Public Radio), die Anfang 2015 erstmals ausgestrahlt wurde und 'die nicht greifbare Kräfte erforscht, die das menschliche Verhalten prägen - Dinge wie Ideen, Überzeugungen, Annahmen und Emotionen'. Lulu Miller ist Wissenschaftsjournalistin und wurde für ihr Schaffen mit dem Peabody Award ausgezeichnet. Ihre Artikel wurden in The New Yorker, VQR, Orion, Electric Literature, Catapult und anderen Zeitschriften veröffentlicht. Humpback Rocks ist ihr Lieblingsplatz auf der Erde.
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1.


EIN JUNGE MIT DEM KOPF IN DEN STERNEN


David Jordan wurde 1851 auf einer Apfelplantage im Bundesstaat New York zur dunkelsten Zeit des Jahres geboren, und vielleicht trieben ihn darum später die Sterne so um. »Wenn ich an Herbstabenden Maiskolben schälte«, schrieb er über seine Kindheit, »wurde ich neugierig ob der Namen und Bedeutungen der Himmelskörper.« Er konnte sich nicht einfach an ihrem Funkeln freuen; er empfand sie als ein Durcheinander, in dem er Ordnung brauchte, Wissen. Mit etwa acht Jahren bekam er einen Atlas mit Himmelskarten in die Finger und verglich, was er auf dem Papier sah, mit dem, was er hoch über seinem Kopf sah. Nacht für Nacht ging er nach draußen, schlich sich aus dem Haus und versuchte, die Namen aller Sterne am Firmament zu lernen. Und laut ihm selbst dauerte es nur fünf Jahre, um Ordnung in den gesamten Nachthimmel zu bringen. Zur Belohnung suchte er sich »Starr« als Zweitnamen aus und trug ihn stolz bis an sein Lebensende.

Nachdem er das Himmlische gemeistert hatte, wandte sich David Starr Jordan dem Irdischen zu. Auf dem Land seiner Familie wogten und flossen ganz eigene Konstellationen von Bäumen, Felsbrocken, Hofgebäuden und Viehbestand. Seine Eltern hielten ihn mit allerlei Arbeiten beschäftigt, Schafe scheren, Gestrüpp lichten und – Davids besonderes Fachgebiet – Teppiche aus Flicken nähen (die Beugesehnen seiner Hand lernten früh, eine Nadel zu führen). Aber zwischen diesen Aufgaben fing David an, das Land zu kartieren.

Hilfe holte er sich bei seinem großen Bruder Rufus, dreizehn Jahre älter, ein stiller und sanftmütiger Naturfreund mit dunkelbraunen Augen. Rufus zeigte David, wie man die Pferde beruhigte, ihnen lang den Hals hinunterstrich, und wo man im Dickicht die saftigsten Blaubeeren fand. Fasziniert sah David Rufus dabei zu, wie der die Erde enträtselte; in seinen eigenen Worten empfand er für Rufus »absolute Anbetung«. Allmählich begann David, von allem, was er sah, kleinteilige Karten zu zeichnen. Er zeichnete Karten von der Obstplantage der Familie, von seinem Schulweg, und als er mit dem ihm bekannten Land fertig war, wandte er sich fernen Orten zu. Er zeichnete Karten weit entfernter Gemeinden ab, von Staaten, Ländern, Kontinenten, bis seine hungrigen kleinen Hände über fast jeden Winkel der Erde gekrabbelt waren.

»Der Eifer, den ich damals zeigte«, schrieb er, »war recht beunruhigend für meine Mutter«, eine füllige Frau namens Huldah. Eines Tages hatte sie genug, nahm den ganzen Haufen Karten, verknittert und fleckig von Davids Kinderschweißhänden, und warf ihn weg.

Warum? Wer weiß. Vielleicht, weil Huldah und ihr Ehemann Hiram strenge Puritaner waren. Sie brüsteten sich mit märtyrerhaften Leistungen, etwa, nie laut zu lachen oder jeden Morgen vor der Sonne auf dem Feld zu sein. Zeit darauf zu verwenden, Karten von bereits kartierten Ländern anzufertigen, muss ihnen wie eine Frivolität erschienen sein, eine Beleidigung der Nutzung des Tages, besonders, wenn man sich so abrackern musste wie sie, wenn es Äpfel zu pflücken gab und Kartoffeln zu hacken und Flicken zu vernähen.

Oder vielleicht spiegelte Huldahs Missbilligung einfach die damalige Zeit. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam das obsessive Ordnen der Natur allmählich aus der Mode. Das Zeitalter der Entdeckungen hatte vierhundert Jahre zuvor begonnen und 1758 so gut wie sein Ende erreicht, als Carl von Linné, der Vater der modernen Taxonomie, sein Meisterwerk Systema Naturae abschloss, eine Blaupause für sämtliche Verbindungen von Leben. (Auch wenn Linnés Aufstellung vor Fehlern wimmelte: Fledermäuse waren als Primaten geführt und Seeigel als Würmer, um nur ein paar zu nennen.) Als Schiffe häufiger von Hafen zu Hafen fuhren, schwand allmählich der Kitzel, einen Blick auf exotische Exemplare oder Karten zu erhaschen – einst Mittel, um Leute in Läden, Tavernen, Kaffeehäuser zu locken. Auf Kuriositätenkabinetten sammelte sich Staub; die Welt, so hatte es den Anschein, war bekannt.

Oder vielleicht war es doch etwas anderes. Genau zu jener Zeit ratterte ein blasphemischer Text durch die Druckerpressen. Der Ursprung der Arten wurde für die breite Masse 1859 veröffentlicht, just, als der kleine David anfing, die Nase in Richtung Sterne zu recken. Besteht die Möglichkeit, dass Huldah Zeitung gelesen hat, gespürt haben mag, dass die Ordnung der Welt bald zusammenbrechen würde?

Welchen Grund sie auch gehabt haben mag, Huldah gab nicht nach. Mit den zerknüllten Karten in der Faust sagte sie ihrem Sohn, er solle mit seiner Zeit etwas »Relevanteres« anfangen.

Wie ein guter Junge gehorchte er: Er hörte auf, Karten zu zeichnen. Aber wie ein echter Junge tat er es dann doch nicht. Nicht so wirklich.

»Die Landschaft rund um mein Zuhause war sehr reich an Wildblumen«, schrieb er später und wollte wohl der Erde die Schuld an seiner Sünde zuschieben. Auf dem Nachhauseweg von der Schule fing er nun an, gelegentlich einen samtigen blauen Pompon oder seidigen orangefarbenen Stern aus der Wiese zu pflücken. An manchen schnupperte er und warf sie wieder fort, doch manche blieben mitunter etwas länger in seiner Hand und schafften es zurück in sein Kinderzimmer, wo sie dann auf dem Bett lagen und ihn mit der geheimnisvollen Anordnung ihrer Blütenblätter quälten. Das Verlangen, sie zu kennen, ihre Namen, ihre genaue Stelle am Baum des Lebens, versuchte er zu unterdrücken. Und das schaffte er ganz gut, bis die Pubertät kam.

Am ersten Tag in der Mittelstufe schmuggelte David aus der Bibliothek »ein Büchlein über Blumen« nach Hause. Und kaum war er wieder ungestört in seinem Zimmer, saß er an seinem Schreibtisch, vor sich einen Haufen Blumen, Fibel in der Hand, und untersuchte, welche Blumen welche waren, legte ihre Gattung bloß, ihre Art. Mittlerweile bald ein Mann, mit ein paar Haaren auf den Zehen, die Stimme immer tiefer, plagte er seine Mutter, wenn er auf Spaziergängen hin und wieder die wissenschaftlichen Namen von Blumen nannte – Immergrün in Vinca major verwandelte oder Sonnenblumen in Helianthus annuus –, als wollte er sagen, dass sich seine Passion nicht aus ihm herausquetschen ließ, nicht zerknüllt und weggeworfen werden konnte. »Ich mag etwas weit gegangen sein, als ich die günstigerweise weißen Wände meines Zimmers mit den Namen der unterschiedlichen Pflanzen schmückte, die ich nach und nach bestimmte.«

Er begab sich in zweifelhafte Gesellschaft, nämlich in die eines armen Bauern von nebenan namens Joshua Ellenwood, der sich die wissenschaftlichen Namen fast aller Pflanzen der Gegend beigebracht hatte. Für diese Meisterleistung beschimpfte die Nachbarschaft den alten Mann als »faul« und einen »Zeitverschwender«.

David bewunderte ihn ehrfürchtig. Er hängte sich an den alten Mann auf dessen Spaziergängen durch die Natur und versuchte, so viele seiner Kniffe wie möglich zu verinnerlichen – wie sich Arten durch ihre Blattform verrieten oder durch die Anzahl ihrer Blütenblätter oder durch ihren Duft. Nachdem er Joshua kennengelernt hatte, sagte sich David von seiner Liebe für alles Schöne los und verkündete, dass langweilige und unattraktive Blumen – Löwenzahn (Taraxacum officinale) und Hahnenfuß (Ranunculus acris) – die besseren Hinweise auf die Baupläne der Natur gäben. »Die Kleinen«, schrieb er, »auch wenn sie nicht schön sein mögen, bedeuteten mir mehr als hundert Große, die alle gleich waren. Im Unterschied zum ästhetischen Interesse ist es ein besonderer Beweis wissenschaftlichen Interesses, sich um das Versteckte und Unscheinbare zu kümmern.«

Das Versteckte und Unscheinbare.

Gibt David hier vielleicht etwas über sich selbst preis? Auch wenn man es seinen Memoiren kaum anmerkt, konnte die menschliche Welt hart zu ihm sein. Der Historiker Edward McNall Burns schreibt, David habe, nachdem ihn seine Eltern auf ein Internat geschickt hatten, bei den dortigen »Mädchen als nicht allzu vielversprechend gegolten, während andere junge Männer manchmal nächtens in einem Holzkorb in den Schlafsaal der Mädchen gezogen worden sein sollen«. Der arme David erlebte das Wunder eines solchen Korbflugs kein einziges Mal.

Als er älter wurde, schien die Außenwelt brutaler zu werden. Er schrieb, wie er auf einem vereisten See Schlittschuh lief, nur, um dort in ein Gerangel mit einem viel kleineren Jungen zu geraten; wie er singen wollte und sein Musiklehrer ihm empfahl, es aufzugeben; von einem Baseballspiel, an dem er als Sechzehnjähriger teilnahm und das abrupt endete, als er nach einem hoch geschlagenen Ball hechtete und »mit einer gebrochenen Nase vom Feld gebracht wurde, die, weil schlecht gerichtet, immer leicht schief blieb«. Und dann kam seine erste Lehrerstelle, die Schüler eine Gruppe wilder Jungs...


Miller, Lulu
Lulu Miller ist die Co-Moderatorin von Radiolab, Mitbegründerin von der Radiosendung Invisibilia (NPR National Public Radio), die Anfang 2015 erstmals ausgestrahlt wurde und „die nicht greifbare Kräfte erforscht, die das menschliche Verhalten prägen – Dinge wie Ideen, Überzeugungen, Annahmen und Emotionen“. Lulu Miller ist Wissenschaftsjournalistin und wurde für ihr Schaffen mit dem Peabody Award ausgezeichnet. Ihre Artikel wurden in The New Yorker, VQR, Orion, Electric Literature, Catapult und anderen Zeitschriften veröffentlicht. Humpback Rocks ist ihr Lieblingsplatz auf der Erde.



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