Minelli | Kapitulation | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 110 mm x 180 mm

Minelli Kapitulation


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-906913-26-1
Verlag: Lector Books GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 110 mm x 180 mm

ISBN: 978-3-906913-26-1
Verlag: Lector Books GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Fünf kunstschaffende Frauen, die einst von ihrem Können überzeugt waren, sind heute auf dem Boden der Realität angekommen: Sie können und sie wollen, doch sie werden übersehen, gemobbt oder gehen vergessen. Von ihren großen Träumen, mit denen sie sich vor bald zwanzig Jahren identifiziert haben, sind nur noch Bruchstücke übrig. 'Kapitulation' offenbart ein umfassendes Panoptikum weiblicher Realität. Mit bösem Witz, hautnah und messerscharf. ? Adrienne Rytz-Bonnet, ehemalige Präsidentin eines internationalen Kunststipendienprogramms, lädt zu einer Réunion ein. Unheilbar an Krebs erkrankt, will sie die Menschen wiedersehen, die ihre einst glücklichste Berufszeit begleitet haben: Künstlerinnen und Künstler, die sie gefördert und mit denen sie in der Villa de Artium auf der Insel Krk ihre beste Zeit verbracht hat. Vier Frauen sagen zu: Aina, eine schweizerisch-kasachische Aktionskünstlerin, die Schottin Kirsty, vielversprechende Literaturübersetzerin, die Wienerin Brigitte, Bratschentalent, und die französische Starautorin Chloé. Aus spontaner Sentimentalität lädt Adrienne auch ihre Tochter Nomi und die Privatmasseurin Yvonne zum Treffen ein. In den zwei Tagen vor dem Wiedersehen erleben wir diese Frauen in ihrem aufreibenden Alltag. Aina arbeitet im Zürcher Kunsthaus, wo sie missmutig Bilder zählt; Kirsty wird mit ihrem Lebenswerk zu einem zweifelhaften Wettbewerb nach Edinburgh eingeladen; Brigitte hat ihre Bratsche längst gegen einen Zookittel eingetauscht; und Chloé muss sich mit ihrem Literaturagenten auseinandersetzen, der ihr rät, schlanke Bücher zu verfassen. Geschieden, verwitwet, verheiratet, mit oder ohne Kinder: Abschnitt für Abschnitt offenbart sich weibliche Lebensrealität bis hin zur Bruchstelle, an der sie alle ihre Träume, wenn nicht ganz aufgegeben, so doch diminuiert haben. Beim Wiedersehen, nach Essgelage und genügend Getränk, kommt die Frage auf: Wie viel Platz steht uns Frauen heute zu? Nomi, Adriennes Tochter, scherzt: Wenn unser Platz schon so verschwindend klein ist, was wäre, wenn wir alle ganz verschwinden würden - alle Frauen auf einen Streich? Was als Idee zuerst betroffen macht, dann weggelacht wird, bleibt in der subversiv veranlagten Aina haften und wächst in ihr zu einem Plan, der sie das Leben kosten könnte. Am nächsten Arbeitstag geht sie mit einem gefährlichen Ansinnen ins Kunsthaus...

Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an 'Kapitulation' wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.
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… ZWEI …


Eventuell ist es eine schlechte Wahl, Julians Wagen in einem Parkverbot abzustellen. Also setzt Adrienne den Blinker erneut und kurvt zurück in eine Querstraße, wo sie vorhin eine Lücke gesehen hat. Es reicht, dass sie den Prius vor Julians Kanzlei entwendet hat; er will seinen Geschäftswagen jederzeit zur Verfügung haben.

Mit zittrigen Knien geht sie an dem Wohnblock entlang, es ist kälter, als sie gedacht hat, und in der Nacht hat es geregnet. Sie zieht den Mantel fester zu. Die loggiaartigen Zugänge des Wohnblocks neben ihr wirken trostlos, über jeder Eingangstür ein quadratisch schummerndes Licht. Rollläden: alle unten.

Vor Adrienne blinkt die orangefarbene Signalleuchte einer Baustelle und schräg darüber, in ungleichem Takt, die Lichtanlage der Kreuzung. Auf den Fenstern der Autos perlt Reif.

Eine Viertelstunde zu früh kommt sie an, aber sie sieht es und hört die gedämpften Stimmen, es sind schon welche da. Junge, bewegliche Menschen. Männer mit Mützen und Anoraks, Frauen mit dicken Schals um Hals und Haar. Unsicher geht Adrienne auf das Grüppchen zu.

Ein großer, schlanker Mann mit Bart löst sich von der Menge: Hallo, haben wir gemailt?

Ja, sagt sie erleichtert, Adrienne, und streckt ihm die Hand hin.

Rouven. Er drückt ihr die Hand kurz und kräftig.

Um sie herum werden Neuankömmlinge begrüßt. Adrienne ist noch immer unsicher und bleibt mit hängenden Schultern stehen.

Wir umarmen uns halt viel, sagt Rouven.

Schon wird auch sie umarmt. Von wildfremden Menschen, die einer nach der anderen ihren Namen erfahren wollen, Adrienne, und sich ihr vorstellen: Michelle, Barbara, Küde, Catherine, Toben, Lars, Melli, Rachel, Priska, Alba, Serafina, Monique, Serge, Renato, Tammy, Bendek, Joshua, Sally, Liv.

Adrienne umarmt zurück. Weichspüler, Haarfett, Knoblauch, selten Zigaretten, meistens Zahnpasta.

Du bist also auch vegan?, wird sie von Oscar gefragt.

Nein.

Er stutzt nur kurz: Mutig, dass du hier bist. Er tritt von einem Bein auf das andere, dann sagt er: Das Problem mit vegetarisch ist ja, dass man da oft ausweicht auf Milchprodukte.

Die esse ich nicht, antwortet Adrienne.

Ah, so, gut. Dann geht er eine Gruppe von drei jungen Frauen umarmen, die anmarschiert kommen, mit Thermoskanne, Leiter und Klapptisch geschultert.

Es ist noch still im Quartier, nur eine frühe Amsel reklamiert ihren Platz. Von den Schornsteinen des Schlachthofs steigen Dämpfe auf. Sind das Dämpfe oder ist das Rauch?, fragt sich Adrienne. Licht schimmert durch die beschlagenen Fenster des unheimlichen Gebäudes.

Um fünf Uhr bittet Rouven sie alle, sich zu einem großen Kreis aufzustellen. Tammy, oder eventuell ist es auch Rachel, geht rundherum und verteilt gelbe Leuchtwesten.

Wo sind die Kuchen?, fragt einer.

Adrienne hat den Überblick verloren, wer wer ist. Etwas unbeholfen zieht sie die Weste über ihren Mantel. Konzentriert sich auf die Amsel, das einzig vertraute Geräusch an diesem Morgen, an diesem Ort, an dem sie noch nie zuvor in ihrem Leben war.

Rouven zählt durch, achtundzwanzig, dreißig, zweiunddreißig …, aber von der Hauptstraße her trudeln weitere Grüppchen ein, er muss noch einmal neu ansetzen.

Die Kälte kriecht Adrienne in die Schuhe. Sie rollt die Füße ab beim langsamen Auf-der-Stelle-Treten. Die Letzten kommen an.

Das Umarmungszeremoniell. Früher hätte Adrienne so etwas befremdet. Heute wirft sie sich in jede dieser Umarmungen hinein.

Rouven begibt sich an seinen Platz im Kreis und sagt abwechselnd auf Deutsch und dann auf Englisch für die Zugereisten: Wir nehmen nicht Abschied. We don’t pet the animals. Und das ist manchmal besonders schwer, wenn man Blickkontakt hergestellt hat, wenn eine Beziehung entsteht. We bear witness, darum sind wir heute hier. Wir geben denjenigen Tieren eine Stimme und ein Gesicht, die kurz darauf schon abgepackt in mundgerechte Stücke im Handel landen. Denkt daran: Wir sind alle füreinander da. Es kann sein, dass ihr plötzlich traurig werdet. Unsere Trauer nützt den Tieren nichts. Our tears don’t help. Kommt zu jemandem, der schon länger dabei ist. Meldet euch, ihr müsst das nicht allein durchstehen. Wir sind viele, und wir sind für euch und eure Gefühle da. Passt bitte auf den Verkehr von beiden Seiten auf. Wir haben special arrangements mit den Betreibern des Schlachthofs, also please follow the rules. Ich teile euch jetzt in die Gruppen ein.

Um zehn nach fünf in der Früh begeben sich rund siebzig Menschen stumm, aber bereit mitten auf die Zufahrtsstraße zum städtischen Schlachthof. Adrienne ist der Gruppe B zugeteilt. In ihrer Gruppe kennen sich die meisten. Sie stehen beieinander und sprechen mit gedämpften Stimmen. Adrienne erfasst es mit einem Blick: Sie ist hier die Älteste.

Als von der Straße vorne einer Truck! ruft, macht sich Gruppe A bereit. Sie bildet mit verhakten Händen eine Sperre vor der Schlachthofzufahrt. Vereinzelte halten selbst gebastelte Schilder hoch mit Herzen oder Botschaften. Eine kleine Blonde mit Zopf löst sich von der Kette und geht auf den Fahrer zu. Adrienne sieht, wie der sich von oben aus seiner Kabine beugt und einwilligend nickt. Dann macht die Blonde ein Zeichen mit der Hand, und im Nu werden die beiden Klappleitern herangetragen, und jemand reicht dem Fahrer eine Tasse Kaffee und veganen Kuchen.

In einvernehmlicher Stille klettern nun nacheinander alle Mitglieder der Gruppe A die Leiter zu den Luftschlitzen hoch und halten ihre Smartphones in die Höhe. Sie fotografieren die Tiere möglichst einzeln, möglichst alle.

Als der Fahrer signalisiert, dass er weiterwill, und seine leer getrunkene Tasse aus dem Fenster streckt, ruft die Blonde: Two minutes!

Die Letzten verlassen die Leitern, die Leitern werden vom Wagen entfernt, Gruppe A steht Spalier und hebt die Hände.

Adrienne schaut ihnen zu. Sie hat längst vergessen, wie das Peace-Zeichen geht. Ob man dazu zwei oder drei Finger braucht. Wohin der Daumen gehört.

Nach einer Weile entwickelt sie ein Gefühl für die Fahrer, ob sie ihrerseits die Hand heben werden zum Gruß oder ob sie einfach davonfahren.

Aus der Kette weicht keiner einen Schritt, wenn sie von der Straße her einbiegen. Nicht ein einziges Mal. Das ist die Abmachung, die die Gruppe mit dem Schlachthof getroffen hat: Halten müssen sie alle. Wenn ein Fahrer hält und sagt, er habe keine Zeit, lässt die Gruppe ihn passieren, ohne die Tiere fotografiert oder gefilmt zu haben.

Die Tiere. Schafe. Kühe. Kälber. Ein Pferd. Hühner. Viele Schweine. Sie riechen unterschiedlich stark nach Aufregung und Stress, und die ganze Energie liegt in ihren Augen, ein tierischer Wunsch, verstehen zu wollen, während von ihren Körpern Dampf aufsteigt. Adrienne schaut und lernt.

Überhaupt schaut Adrienne der Gruppe alles ab. Wie man sich mit einer Hand am Wagen abstützt und mit der anderen ein Bild macht. Wie man grüßt und wartet und spricht, oder auch, wie man still ist miteinander.

Sie war schon so lange kein Teil einer Gruppe mehr. Viel zu lang war sie immer entweder darüber oder darunter. Ein seltsames Gefühl bemächtigt sich Adriennes Körper. Sie wird sicherer beim Besteigen der Leiter. Eine Lust am Lernen. Am Abschauen, Nachmachen. Eine Lust am Geführtsein, vermischt mit Traurigkeit.

Sie fühlt sich weicher als sonst, durchlässiger. Vielleicht hat das auch mit der Massage von gestern zu tun. Bei der Begrüßung ist es zu einer komischen Situation gekommen, danach war alles gut.

Sie hat sich geschämt, aber Yvonne hat zu ihr gesagt: Wer sich schämt, fühlt sich verantwortlich. Und ihre Scham einfach weggelacht. Viele würden ihren Nachnamen falsch aussprechen, die meisten wollten es nicht einmal probieren. Adrienne solle sie einfach Yvonne nennen.

Dabei hatte Adrienne geübt.

Die Säue, die Adrienne jetzt fotografiert, stehen eng, versehrt von den Klauen der vielen, die beunruhigt zu den fremden Menschen herschauen. Sie müssen einander während der Fahrt über die Rücken gestiegen sein. Adrienne verliert sich in Tieraugen, gefüllt mit vorsichtiger Neugier. Tieraugen, schwankend zwischen Vorsicht und Neugier.

Es war Yvonne, die sie gestern auf die freitäglichen Mahnwachen vor dem Schlachthof aufmerksam gemacht hat. Eine ihrer Kundinnen habe ihr davon erzählt. Adrienne weiß gar nicht mehr, wie sie darauf gekommen sind. Auf Kundinnen und Tiere. Es ging um irgendeinen Vergleich.

Jedenfalls hat Adrienne das dann gegoogelt auf ihrem Laptop im Bett und zu Julian gesagt: Da geh ich vielleicht einmal hin. Mich informieren.

Ein neuer Transporter hält. Eine Tasse wechselt die Hand.

Der...


Minelli, Michèle
Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.



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