E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Minelli Passiert es heute? Passiert es jetzt?
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7026-5928-8
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7026-5928-8
Verlag: Jungbrunnen
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig 'Kreatives Schreiben' und andere Themen in literarischen Lehrgängen.
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Donnerstag
Soeben drückt mir jemand einen Energydrink in die Hand. Ich war wohl einen Moment lang weg. Dort, wo ich meine Ruhe habe. Dort, wo ich denken kann. Wo ich immer hingehe, wenn es mir zu viel wird, oder wenn zu viel auf einmal geschieht. Energydrink. Bei uns zu Hause trinken wir keine Süßgetränke.
Irgendwo fiepen Hundewelpen … nein, das ist etwas anderes, ich weiß nicht was. Doch, ich weiß ganz genau was. Die Orte vermischen sich in meinem Kopf. Ich muss mich an etwas festhalten. Ich bin wahnsinnig müde.
Ewig habe ich mir gewünscht, eine solche Dose auch einmal zu Hause, hier, auf dem Sofa, trinken zu dürfen, ewig und einen Tag, wie Wenzel dazu sagen würde. Komisch, wie alles auf den Kopf gestellt wird und Wünsche in Erfüllung gehen.
Grashalme an meinen Beinen. Nein, das war wieder Einbildung. Wie das Fiepen vorhin. Ich muss aufpassen, dass ich hierbleibe, meine Gedanken driften ab und ziehen mich mit. Fort von hier, wo Blaulicht kreist.
Die Energydrink-Dose ist echt, an ihr kann ich mich festhalten. Meine Hände sind sauber. Wenn ich meine Hände betrachte, bleibe ich hier.
Wenn ich die Fahrradkette einlege, trage ich Werkhandschuhe. Warum denke ich jetzt an mein Rad? Was hat mein Rad damit zu tun, dass ich auf dem Sofa sitze mit lauter fremden Menschen in unserem Haus, von denen mir einer einen Energydrink gereicht hat, mitten in der Nacht?
Mir wird flau, gerade rechtzeitig stelle ich die Dose weg. Ich schlucke die Übelkeit hinunter.
Keiner beachtet mich. Sie reden über die Zeit, die vergangen ist. Wollen wissen, was passiert ist. Sie fragen Mami immer wieder: „Warum so spät?“
„Warum erst jetzt?“
„Warum haben Sie uns nicht früher angerufen? Warum nicht gleich?“
Ich muss nicht antworten, ich lasse es ablaufen wie einen Film. Sie reden auf sie ein, und es ist fast so, als wäre ich unsichtbar oder in einer anderen Dimension. In einer Blase. In der Schule haben wir heute von Blasen gesprochen, Bubbles, den Blasen also, in die man sich mit Gleichgesinnten begibt. Bei Facebook, Instagram und so. Bubbles, die sich auftun mit jeder WhatsApp-Gruppe. Fritsche gab uns den Auftrag, die Bubbles aufzuzeichnen, in denen wir uns bewegten. Ein Bubble-Cluster. Einundzwanzig Blasen-Gebilde links und rechts von mir. Benny hat mich mit dem Ellenbogen in die Seite gepufft, ! Dass ich jetzt daran denken muss? Auch ich habe geduldig gemalt. Buchstaben.B U B B L E S.Und in jeden Buchstaben hinein und um ihn herum wabernde Blasen, Blasen.
Zeichnen kann ich nämlich nicht so gut.
Ist das Mami, die heult? Wieso heult sie? So habe ich sie noch nie gehört. Kann sie bitte jemand trösten? Kann sie einfach jemand trösten, ich kann das nicht, ich sitze wie ein Klumpen Lehm auf diesem Sofa, und ich möchte abtauchen und mir Wasser in die Ohren fließen lassen, damit ich das nicht länger hören muss!
Zwei Stimmen kann ich unterscheiden. Sie sind oben, bei Leonie im Zimmer. Sie suchen dort offenbar ihre Sachen zusammen, ohne sie. Leonie sitzt neben der Frau mit Uniform und Pferdeschwanz und bewegt sich nicht. Ob mein Blick auch so ist wie ihrer?
Wir sind Meerschweinchen im Käfig, die ahnen, dass es da draußen noch etwas anderes gibt, die da aber nie hingelangen werden, weil die Gitterstäbe zu eng stehen. Meerschweinchen hätte Leonie gerne gehabt. Eine Katze. Einen Hund.
Eine Stimme sagt, das Spurenbild sei völlig unklar. Ich weiß nicht, wer das zu wem sagt und ob es überhaupt gesagt worden ist. Aber auch die, die nicht sprechen, schauen sich wissend an. Auch der Mann mit dem schief sitzenden Jackett.
Die Energydrink-Dose in meiner Hand knackt. Keiner reagiert darauf, dabei war das Geräusch ohrenbetäubend. Sie alle scheinen genaue Kenntnis darüber zu haben, was sie zu tun haben, als ob sie einem geheimen Ablauf folgten. Es ist ein Gefühl wie bei einer Prüfung, wo alle um dich herum eifrig schreiben und nur du keine Ahnung hast, was Sache ist. Jeder tut, was er tun muss, jeder seinen Teil. Mein Teil ist hier zu sitzen und die Übelkeit hinunterzuringen. In meinem Schädel sirrt und rauscht und fiept es, aber ich lasse nichts hinaus. Keinen Ton.
Vielleicht heißt es deshalb „jemanden zum Singen bringen“. Wenzel hätte seine helle Freude an meinem Gedankengang. In deutscher Sprache bin ich ein As.
Ich bin stark darin, mit Worten der Starke zu sein.
Jetzt kommen die anderen zurück. Sie kommen herunter zu uns ins Wohnzimmer, der eine drückt Leonie ihren halb kaputt geliebten Plüschfrosch Layla-La gegen die Brust, der andere kauert sich vor sie hin. Meine kleine Schwester weint still. Die Uniformen flößen ihr Angst ein.
Ich schaue kurz zu Mami. Friert sie? Warum friert sie? Aber meine kleine Schwester weint, und ich merke, wie ich aufstehe, mein Körper steht ganz von alleine auf. Sie beobachten mich, wie ich zu Leonie gehe, um ihr die Blinke-Blinke-Schuhe festzuziehen. Es gibt jetzt nichts Wichtigeres auf der Welt, als diese Klettverschlüsse mit festem Druck aufeinanderzustreichen. Ich will, dass meine kleine Schwester ihre Lieblingsschuhe anbehält, und dass diese sie sicher tragen.
Aber warum ist da jetzt eine Hand auf meiner Schulter? „Setz dich wieder hin, warte.“ Auch ihre Stimmen tragen Uniform. Von irgendwoher wird mir ein Taschentuch gereicht. Leonie schluchzt jetzt hörbar, oder bin das ich? Ich strecke die Hand nach Leonie aus, aber ich erreiche sie nicht. Die Worte, die ich ihr so oft schon sagte, bleiben in meinem Hals gefangen. Nichts wird wieder gut. Ich muss mich zusammenreißen. Ich muss mich in mir drin eng machen. Wenn ich mich konzentriere, bleibe ich ganz.
Mami soll sich verabschieden von uns. Die Polizistin mit dem Pferdeschwanz führt sie am Unterarm. Ich kann Mamis Gesicht nicht ansehen. Ich kann ihr nicht in die verheulten Augen sehen, also schaue ich weg. In der Sofaecke Krümel. , ich will das nicht denken, aber meine Gedanken haben sich selbstständig gemacht. … In wie viele Krümel kann ein Zwieback-Ananas-Kuchen zerfallen? Wenn ich mich konzentriere, kann ich meine Gedanken vielleicht noch etwas zusammenhalten. Ich denke an die Kuchenstücke, die von niemandem gegessen worden sind. Der Rest steht noch auf dem Tisch. Wenn ich an den Zwieback-Ananas-Kuchen denke, gelingt es mir vielleicht, hierzubleiben und nicht wegzudriften.
… Ich kann es nicht stoppen, es dreht und dreht, wie die blauen Lichter an der Wand, und wieso trinke ich jetzt wieder aus dieser Dose Energydrink?
„… erschüttert …“
„… komplett neben sich …“
„… kommt nicht an ihn heran …“
„… völlig verstört …“
Ich höre Worte, Silben, ein Takt. Ich vertiefe mich in den Takt. Ich glaube, die Worte kommen von dem, der sich als Notarzt vorgestellt hat, der mit dem schief sitzenden Jackett. Seine Stimme ist ein pochendes Brummen in meinem Schädel. Alles dreht sich, ich glaube, ich muss mich … doch hinlegen … meinen Kopf … hin… …legen –
Das war nur ein kurzer Moment. Ich habe Mami noch nie so laut erlebt. Mami klingt in der Öffentlichkeit stets um Harmonie bemüht, egal, wer ihr Gegenüber ist. Mami schreit nicht, aber eben dachte ich, sie habe geschrien. Ich sitze pfeilgerade. Alle starren mich an. Also halte ich mich aufrecht, obwohl mir schon wieder schwindelig ist.
„Wie? Was sagst du?“, fragt der Notarzt.
Habe ich das eben laut gesagt? Ich bin … irgendwie … verpeilt. Wieder eine Hand auf meiner Schulter. Sie bleibt. Ich schäme mich, mein Körper, meine Beine, meine Hände, alles zittert, ich heule los, als die Tür ins Schloss fällt.
Dann ist Mami plötzlich weg. Ich habe keine Erinnerung, wann das geschehen ist, ob sie sich verabschiedet hat oder nicht. Leonie kreischt, es muss ihr Kreischen sein, denn ich habe mir die Ohren gerieben, und in meinem Kopf ist nichts als eine große Leere. Wann hört denn das endlich auf?
Noch immer ziehen blaue Farbflecken über die Wände im Kreis herum. Rundherum. Rundherum. Rundherum streifen sie Wände, Decke, Boden. Ihr Lauf hat etwas Verlässliches. Das gibt mir Mut. Ich halte mich an dieser Gewissheit fest, als sie zu mir kommen und sich vor mir aufstellen, zwei gegrätschte Beine. Langsam richte ich meinen Blick der Uniform entlang nach oben. Der Polizist bewegt seinen Mund. Etwas in meinem Kopf versperrt sich.
Im Hintergrund strampelt Leonie an der Hand der Polizistin mit dem Pferdeschwanz. Ich will zu ihr, aber der Blick des Polizisten vor mir nagelt mich fest. Ich höre nichts, höre nur den harten...




