Möller / Heymel | Das Wagnis, ein Einzelner zu sein | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 246 Seiten

Möller / Heymel Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

Glauben und Denken Sören Kierkegaards am Beispiel seiner Reden

E-Book, Deutsch, 246 Seiten

ISBN: 978-3-290-17730-0
Verlag: TVZ Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Sören Kierkegaard, der am 5. Mai 2013 seinen 200. Geburtstag hatte, wurde vor allem bekannt durch Schriften wie 'Entweder-Oder', 'Der Begriff Angst' oder 'Die Krankheit zum Tode'. Weniger Bekanntheit erlangten seine 94 erbaulichen (oder: religiösen) Reden, die Kierkegaard als sein eigentliches Vermächtnis ansah. Michael Heymel und Christian Möller interpretieren exemplarische Texte dieser erbaulichen Reden und befragen sie auf ihre Aktualität hin. 'Das Wagnis, ein Einzelner zu sein' eignet sich so auch als Einführung in Glauben und Denken Sören Kierkegaards.
Der erste Teil des Buches stellt sein Leben und sein Werk vor, der zweite präsentiert zehn ausgewählte erbauliche Reden und legt sie für die Gegenwart aus. Im dritten Teil wird versucht, Kierkegaards Leben in der Spannung von Freude und Schwermut, Himmel und Hölle zu verstehen, und gezeigt, wie er Türen zu neuen Welten öffnet. So kann man Kierkegaard als religiösen Schriftsteller kennenlernen.
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Weitere Infos & Material


|11| Teil A
1 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Leben
Der rätselhafte Kierkegaard
Selten war ein Mensch sich selbst, seiner Mitwelt wie seiner Nachwelt so rätselhaft wie der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geborene und am 11. November 1855 in Kopenhagen gestorbene Sören Aabye Kierkegaard. In einer geselligen Abendrunde konnte er der witzigste und geistreichste Teilnehmer |12| sein, so dass alle denken mussten, was für eine glückliche Natur dieser junge Student sei. Dann aber ging Kierkegaard nach Hause und schrieb in sein Tagebuch: »Ich komme jetzt gerade von einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, Witze strömten mir nur so aus dem Mund, alle lachten, bewunderten mich – aber ich ging –––––, ja der Gedankenstrich müsste genauso lang sein wie die Radien der Erdbahn und wollte mich selbst erschießen.«5 Er kleidete sich gelegentlich wie ein Dandy und spazierte am Nachmittag durch Kopenhagens Hauptstrasse mit seinem Spazierstock, als genieße er das Leben und sei ein Müßiggänger. Doch kaum war es dunkel geworden, eilte er zurück in seine Wohnung und arbeitete bis Mitternacht an mehreren Stehpulten weiter, sei es an seinem Tagebuch, an einer pseudonymen Schrift oder an einer erbaulichen Rede. Gab er sein erstes Hauptwerk »Entweder-Oder« in zwei Bänden 1843 heraus, so gab er dem Verfasser das Pseudonym Victor Eremita (der siegreiche Einsiedler). Natürlich sprach sich bald in Kopenhagen herum, dass Kierkegaard in Wahrheit der Verfasser sei. Und doch ließ sich der wahre Verfasser auf der Straße oder an anderem Ort nicht auf sein Werk ansprechen, sondern war nur bereit, über den pseudonymen Verfasser und dessen Werk zu reden. Warum dieses Versteckspiel? Probiert hier einer die Rollen seiner Existenz aus, erprobt er Möglichkeiten des Lebens und spielt sie durch, um sie seinem Leser zuzuspielen? Das macht es so schwer, Kierkegaards Leben auf die Spur zu kommen: Bei fast jeder seiner Äußerungen bezieht er sich auf seinen Leser und entzieht sich doch zugleich, als wollte er sagen: Hier bin ich und bin es doch nicht. Nennt mich meinetwegen den »Sokrates Kopenhagens«. Ja, ich habe über Sokrates und dessen Ironie eine Magisterarbeit6 geschrieben. Mit dieser Rolle könnte ich mich angesichts der Geisteszustände Kopenhagens gut anfreunden, wie mir Sokrates überhaupt zu dem Weisen des Altertums geworden ist. Mit ihm vergleichen könnte ich mich freilich nicht. Nennt mich den »Spion Gottes«, wie ich es selbst einmal in mein Tagebuch geschrieben habe. Das bin ich und bin es doch nicht, denn Gott ist im Himmel und ich auf der Erde. ER weiß, was er mit mir vorhat. |13| Nennt mich einen »Philosophen«! Ja, ich habe viel Philosophie studiert, habe Schelling in Berlin gehört, habe mich mit Hegel an vielen Stellen meiner Schriften direkt oder indirekt auseinandergesetzt, wäre gern der Nachfolger meines verehrten philosophischen Lehrers Poul Möller an der Universität Kopenhagen geworden, habe auch eine kleine Schrift mit dem Titel »Philosophische Brocken« mitsamt einer sehr langen »Unwissenschaftlichen Nachschrift« herausgegeben, aber ein Philosoph bin ich nicht, auch wenn mich die Philosophiegeschichte zum Begründer der »Existenz-Philosophie« machen will. Nennt mich einen »Psychologen«! Ja, ich habe zwei meiner Schriften Untertitel gegeben, die mein großes Interesse an der Psychologie zum Ausdruck bringen: »Eine schlichte psychologisch andeutende Überlegung« (»Der Begriff Angst«) und »Eine christlich-psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung« (»Die Krankheit zum Tode«); auch hat mein Verständnis vom »Selbst« besonders in der humanistischen Psychologie eine große Bedeutung gewonnen. Aber ein Psychologe bin ich gleichwohl nicht, denn ich habe eigentlich nur mich selbst im Licht Gottes reflektiert und dabei festgestellt: »Je mehr Vorstellung von Gott, um so mehr Selbst; je mehr Selbst, umso mehr Gottesvorstellung«.7 Nennt mich einen »Theologen«! Ja, ich habe auch Theologie studiert, 10 Jahre lang, und habe sogar ein theologisches Examen in Kopenhagen gemacht, habe eine Probepredigt für Kandidaten gehalten und die Anstellungsfähigkeit für die Kirche erworben, aber ich bin kein Pfarrer geworden, habe nicht die Ordination der Kirche erhalten und habe doch oftmals mit dem Gedanken gespielt, irgendwo in einem Dorf Dänemarks Pfarrer zu werden. Letztlich aber war das mir nicht möglich. Das Schlimmste aber wäre, wenn irgend so ein Professor über mich und mein System dozieren würde. Denn ich habe gar kein System und gehöre keiner Schule an, auch wenn sich Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Carl Rogers, Rudolf Bultmann, Karl Barth u. a. häufig auf mich berufen haben. Der religiöse Schriftsteller
Wer aber ist dann eigentlich dieser Sören Kierkegaard? Er spürte wohl, wie oft diese Frage von seinen Lesern an ihn herangetragen wurde, vielleicht auch in ihm selbst arbeitete, bis er schließlich eine kleine Schrift im Jahr 1851 |14| herausgab: »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller«8. Darin legte er sich endlich einmal fest: Religiöser Schriftsteller sei er, der »ohne Vollmacht« auf das Religiöse, das Erbauliche, das Christliche aufmerksam mache. »Ohne Vollmacht« heißt für Kierkegaard nicht nur, ohne kirchliche Bevollmächtigung, sondern auch ohne den Anspruch, ein besserer oder gar vollkommener Christ zu sein. Vielmehr betrachte er sich am liebsten als einen Leser seiner Bücher, nicht als deren Verfasser. Und was ist das »Religiöse« dieses »religiösen Schriftstellers«? Auch hier legt Kierkegaard sich in derselben kleinen Schrift fest und nennt eine Kategorie, die für ihn so maßgeblich wurde, dass er eine Zeitlang sogar erwog, sie auf seinen Grabstein setzen zu lassen: »DER EINZELNE«: »Die Bewegung ist: fort vom Publikum zum ›Einzelnen‹.« Religiös gebe es nämlich kein Publikum sondern nur Einzelne; das Religiöse sei der »Ernst«, denn ernsthaft werde es erst beim Einzelnen, jedoch so, »daß jeder Mensch, unbedingt jeder Mensch, der Einzelne sein kann, ja sein soll, so wie er es denn ja ist«.9 Anmerkungsweise fügt Kierkegaard gegenüber allen, die ihn fälschlicher Weise auf Individualismus festlegen wollen, noch hinzu, dass die Gemeinde, soweit es sie religiös gibt, nur die andere Seite des Einzelnen sei. Sie dürfe aber auf keinen Fall mit der politischen Größe des Publikums, der Menge, des Numerischen verwechselt werden. Gemeinde im christlichen Sinn schaffe Raum für die Würde und die Überzeugung des Einzelnen, wie umgekehrt der Einzelne für die Gemeinde einsteht und ihr in seinem Leben Raum gibt. In der christlichen Gemeinde gelte nicht das numerische Gesetz, wonach die Mehrheit sagt, was Wahrheit ist. Deshalb war Kierkegaard auch skeptisch gegenüber der Entwicklung seiner Zeit zur Demokratie, weil er fast prophetisch aus der Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit solche Gefahren hervorgehen sah wie z. B. den Massenwahn des Nationalsozialismus, der bekanntlich mit demokratischer Mehrheit 1933 an die Macht kam. Schließlich bringt Kierkegaard an derselben Stelle seiner kleinen Schrift »Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller« noch sein Credo kurz und bündig zum Ausdruck: »Und das ist mein Glaube: so viel Verwirrtes und Böses und Widerwärtiges an den Menschen sein mag, sobald sie, der Verantwortung und Reue ledig, ›Publikum‹, ›Menge‹ und dgl. werden: ebensoviel Wahres und Gutes und Liebenswertes ist an ihnen, wo man sie einzeln zu fassen bekommt. O, und in welchem Maße würden die Menschen nicht – |15| Menschen werden und liebenswert, wenn sie Einzelne würden vor Gott!«10 Dieses Credo bringt eine Steigerung zum Ausdruck: Von der Menge, der man verfallen kann, über den Einzelnen, den es zu fassen gilt, bis zum Einzelnen, den es vor Gott zu bringen gilt. Das hört sich einfach an und ist ja auch ganz einfach, weil jeder Mensch von Haus aus ein Einzelner ist. Und doch ist Kierkegaards ganzes Leben im Grunde ein Kampf um den Einzelnen gegen die Verführung der Menge. Es ist so bequem, in der Menge mitzulaufen und sich als Einzelner dem allgemeinen Trend zu beugen. Einzelner muss ich immer erst gegen den Sog der Menge werden, und ich werde es in besonderem Maß, wenn ich vor Gott komme, weil mich dann Reue und Gnade bestimmen, während der Einzelne in der Menge verstummt: »Wir sind viele, ganz viele!« Drei Gesichtspunkte scheinen mir für die Annäherung an Kierkegaards Leben besonders wichtig zu sein: In den Äußerungen zu seiner Wirksamkeit als Schriftsteller gibt sich Kierkegaard als einer zu erkennen, der sich dem geschriebenen Wort anvertraut hat, weil er offenbar darin seine Berufung und sein Charisma für sein Wirken und sein Leben gefunden hat. Mit dem geschriebenen Wort konnte er so virtuos wirken wie kaum ein anderer, während die wenigen Male, die er in Kopenhagen tatsächlich predigte, unschwer erkennen ließen, dass das mündliche Wort schon stimmlich seine Sache nicht war. Die meisten Leute konnten ihn mit seiner leisen Stimme schon akustisch kaum verstehen.11 Kierkegaard versteht sich als religiösen, erbaulichen Schriftsteller. Das Erbauliche ist freilich für ihn erst einmal das Erschreckende, weil es darum geht, den Menschen mit sich selbst zu konfrontieren, um die Masse zu zerteilen und der Menge zu widerstehen, damit er dem Sog des Trends widerstehen und ein Einzelner werden kann. Das kostet Kampf, List, Gebet und viel Kraft, wie Kierkegaards Leben zeigt. Alle Anstrengung seines...


Michael Heymel, Dr. theol. habil., Jahrgang 1953, ist Pfarrer und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) in Darmstadt. Von 2004 bis 2012 lehrte er als Privatdozent Praktische Theologie an der Universität Heidelberg.
Christian Möller, Dr. theol., Jahrgang 1940, war von 1965 bis 1972 Pfarrer in Wolfhagen bei Kassel, von 1972 bis 1988 Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und von 1988 bis 2005 an der Universität Heidelberg.


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