E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Lenos Polar
Mourad Blauer Elefant
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-85787-964-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller aus Ägypten
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Lenos Polar
ISBN: 978-3-85787-964-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jachja, Doktor der Psychologie, nimmt nach fünf Jahren selbstgewählter Isolation seine Arbeit in der forensischen Psychiatrie wieder auf. Sein erster Patient ist ein alter Bekannter: Scharîf ist des Mordes an seiner Frau verdächtig. Sollte er die Tat wirklich begangen haben und nicht geisteskrank sein, droht ihm der Galgen.
Was als Versuch beginnt, die offensichtliche Persönlichkeitsspaltung seines alten Freundes zu enträtseln, wird schon bald zu einem Höllentrip: Als Jachja, der Drogen jeder Art nicht abgeneigt ist, in einer ausschweifenden Nacht eine Pille mit einem sechsbeinigen Elefanten einnimmt, sieht er sich in eine andere Realität versetzt. Zusehends versinkt er in Halluzinationen, in einem Strudel aus Zaubersprüchen, geheimnisvollen Zahlen und einem Tattoo, das sich in einen Dämon verwandelt. Als sich schließlich ein weiterer Todesfall ereignet, gibt er sich selbst die Schuld.
Der packende, surrealistische Psychothriller ist nach "Vertigo" und "Diamantenstaub" der dritte Roman des ägyptischen Bestsellerautors. Er war 2014 für den International Prize for Arabic Fiction (Shortlist) nominiert, wurde im selben Jahr von Marwan Hamed verfilmt und 2015 von der Egyptian Modern Dance Theatre Company auf die Bühne gebracht.
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September
Temperatur: 43 Grad Celsius
Der Handywecker riss mich aus finsterstem Schlaf. Nach Luft ringend und mit beklommenem Herzen lag ich auf der linken Seite. Ich hatte furchtbares Sodbrennen und troff vor Schweiss wie ein Boxer in der zwölften Runde. Angestrengt versuchte ich, zum Nachttisch zu langen, aber mein Arm war eingeschlafen und gehorchte mir nicht. Nachdem ich ihn geschüttelt hatte, strömte das Blut jedoch wieder hinein, und ich griff nach dem Telefon, um das penetrante Klingeln abzuschalten. Schliesslich brachte ich es sogar fertig, mich aufzusetzen. Dabei musste ich gegen die morgendliche Benommenheit und den Kopfschmerz ankämpfen, der wie glühende Kohle in meinem Hinterkopf brannte und mir Lava zwischen die Augen goss. In Anbetracht des Restalkohols in meinem Blut hatte dieser Schmerz allerdings auch seine Berechtigung. Im Schrankspiegel gegenüber sah ich mein Bild, eine griechische Tragödie, die nur noch jemand niederschreiben musste. Ich streckte den Rücken durch, liess die Wirbel schmerzhaft knacken und drehte mir meine Morgenzigarette. Währenddessen betrachtete ich die cremefarbene Harley Davidson Fat Boy mit 132 PS, die mit mehreren Kissen zwischen den Beinen neben mir parkte. Ihr röhrender Motor hatte letzte Nacht die Nachbarn aus dem Schlaf gerissen, und ich war so ausgiebig auf ihr geritten, dass ich nun ziemlichen Muskelkater hatte. Ich musterte ihre rekordverdächtigen Kurven, die weissen, sommersprossigen Schultern, die wilden Locken, in denen noch der Alkohol hing, und die beiden Tachometer, auf denen ich meine Fingerspuren hinterlassen hatte. Mit dir, Maja, hat man immer karibischen Sommer – selbst auf dem Mond! Nachdem ich mein Nikotin aufgesogen hatte, streckte ich einen Fuss aus dem Bett und tastete nach den Schlappen, um darin wie üblich mit knackenden Knöcheln in die Küche zu schwanken. Dort griff ich mir eine bibbernde Flasche Meister Max aus dem Kühlschrank, ein Kater lässt sich schliesslich am besten mit Alkohol bekämpfen. Ich leerte sie in einem Zug und setzte sie dann vorsichtig auf die Flaschenpyramide, deren Bau ich zwei Monate zuvor in Angriff genommen hatte, um meinem Namen Unsterblichkeit zu verleihen. Nur noch ein paar Flaschen, dann hatte ich die Spitze erreicht! Ich holte mir Eiswürfel aus dem Gefrierfach, nahm sie mit ins Bad, verstöpselte den Abfluss, drehte den Hahn auf und leerte meine Hand ins Waschbecken. Als es vollgelaufen war, steckte ich den Kopf ins eiskalte Wasser, damit meine geweiteten Blutgefässe sich wieder zusammenzogen. So versuchte ich das Blut auf diplomatischem Wege davon abzuhalten, ständig in meinen Kopf zu strömen. Nach einer Minute verglomm die Glut und erlosch. Ich hauchte die siebenunddreissig Jahre an, die mir aus dem Spiegel entgegenschauten. Zeit genug, selbst einen Elefanten zu verwandeln. Allerdings bleibt der ein Elefant und behält seinen Rüssel. Bei mir lag die Sache anders: Alle Jahre wieder sah ich mich im Spiegel einem Fremden gegenüber, dessen Gesicht ich, wenn ich es mit den Fotos aus der Sekundarschulzeit verglich, kaum wiedererkannte. Ich stand mit mir selbst in keinerlei Zusammenhang mehr! Und dann die Erosionserscheinungen: In den Bart schmuggelte sich ein weisses Härchen nach dem anderen, die Zähne wurden durch Zigaretten und Kaffee immer unansehnlicher, und über die Augäpfel rankten sich rote Äderchen wie Efeu an einer Mauer. Ein leichtfüssig nahender Tod. Ich liess eine kalte Dusche über mich ergehen und stach mir den gnädigen Insulinpen in den Schenkel. Dreissig Einheiten, um das schändliche Versagen meiner Bauchspeicheldrüse zu kompensieren und im Voraus zu verbrennen, was ich bis zum Abend unterwegs in mich reinstopfen würde. Ich brockte mir einen Sesamkringel auf ein Stück Käse und betrachtete dabei das Couvert mit dem Mahnschreiben auf dem Tisch. Schliesslich nahm ich das Briefblatt heraus und liess den Blick über die unappetitlichen Worte wandern. Zweite Abmahnung: unentschuldigtes Fehlen am Arbeitsplatz Herr Jachja … und in Anbetracht dessen, dass Sie, ohne der Klinikleitung eine Entschuldigung zukommen zu lassen, Ihrer Arbeit mehr als fünfzehn Tage ferngeblieben sind und damit die gesetzliche Frist überschritten haben … ist die Leitung gezwungen, Massnahmen … und die Bestimmungen von Paragraph 98 des Gesetzes Nummer 47 aus dem Jahre … mit endgültigem Beschluss … Zur Hölle mit den Vorschriften, möge Gott die Akten verbrennen und die Beamten in alle Winde zerstreuen! Ich hörte auf zu lesen, zerknüllte den Brief und warf ihn in Richtung Mülleimer. Wie üblich landete er daneben. Ich ging in mein Zimmer und öffnete den Schrank, um mir etwas zum Anziehen zu holen. Mein Blick fiel auf ein altes Sakko, das sich in einer Ecke vor mir versteckte. Ich schüttelte es aus und probierte es neugierig an, aber weil ich mir darin so verloren vorkam wie der Klöppel in einer Glocke, legte ich es wieder ab und stopfte es in eine Tüte. Dann zog ich mich an, suchte in dem Tohuwabohu nach zwei gleichfarbigen Socken und ging zu Maja zurück, die, von den Pfeilen der Lust niedergestreckt, auf der Seite lag. Ich strich ihr die Locken beiseite und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich muss was besorgen gehen.« Sie bewegte sich nicht, öffnete nicht einmal die Lider, sondern antwortete nur mit erotisch rauchiger Stimme: »Das ist nicht dein Ernst. Warte doch noch, bis ich richtig wach bin!« »Das geht nicht. Ruf mich an!« Sie gähnte. »Okay.« »Dreh den Hahn im Bad zu, wenn du fertig bist, und schliess die Tür ab, Maja, hörst du?« »Okay, okay.« Die drei wichtigsten Erfindungen der Menschheit: Elektrizität. Alkohol. Und Maja™. Achtundzwanzig Jahre Erfahrung. Ich drückte ihr einen Kuss auf den Rücken und ging hinaus in den verkommenen Garten vor dem Haus. Ich lief über das durstige Gras und an meinem Auto vorbei, das vor dem Eingang kauerte wie ein Rhinozeros ohne Horn. Am linken Kotflügel war die Schutzplane hochgerutscht. Ich zog sie wieder herunter, bis auch der platte Reifen verdeckt war. Dann überquerte ich die Strasse und kaufte mir eine Zeitung, die erste seit fünf Jahren. Ich winkte ein Taxi heran, liess mich in die Rückbank sinken, setzte meine Sonnenbrille auf und packte meine bescheidene Ausrüstung aus. Zigarettenpapier, Tabak und eine Stopfmaschine. Ich hasste die schnell abbrennenden Fertigzigaretten voll pürierter Mäuse und Arbeiterspucke! Während ich mir zehn »anständige« Zigaretten drehte, die mir für den halben Tag reichen würden, beobachtete ich im Rückspiegel die Augen des Fahrers. Angewidert warf er mir wutentflammte Blicke zu und flehte bei Gott um Beistand gegen den verirrten Haschischraucher. Der Mann wusste ja nicht, dass ich schon volle drei Tage nicht mehr bei Auni gewesen war. So lange hatte ich es noch nie ohne sein marokkanisches Haschisch ausgehalten! Ich stopfte die Zigaretten in meine Dose, liess die Scheibe herunter, um mein Nikotin auf die Strasse zu blasen, und beobachtete die Menschen, die, noch im Halbschlaf und mit Sand in den Augen, zu ihrer Arbeit glitten. Dann allerdings gerieten wir in einen solchen Stau, dass ich mich fragte, ob bei einem möglichen Angriff auf unser Land die Invasoren mit ihren Panzern überhaupt durchkämen. Ich schlug die Zeitung auf, und sie enttäuschte mich nicht: Chefredakteur war die Langeweile! Mühsam arbeitete ich mich bis zur Nachrichtenseite durch. »Das Islamische Museum ist beraubt worden?«, fragte ich den Fahrer, ehrlich überrascht. Er warf mir im Spiegel einen Blick zu, der schlimmer war als jede Verunglimpfung meiner Mutter, dann antwortete er: »Herzlich willkommen auf der Erde, Pascha! Das ist acht Monate her. Den Dieb haben sie immer noch nicht. Täglich nehmen sie jemand fest, aber dann war er’s doch nicht. Riesensummen haben die Hundesöhne ausgegeben, um das Museum zu renovieren und zu versichern. Und am Ende wird es ausgeraubt! Mit dem Geld hätten sie besser die Haschischsüchtigen behandelt, von denen das ganze Land wimmelt!« Ich quittierte seine giftige Botschaft mit einem bitteren Lächeln, faltete die Zeitung zusammen und stopfte sie als Geschenk für den nächsten Fahrgast in die Rückenlehne des Vordersitzes. Dann labte ich mich an den Abgasen, dem Lärm und meinem Zigarettenrauch, der den Chauffeur so störte, bis wir endlich an der Umfassungsmauer des Krankenhauses ankamen – der Abbassîja-Klinik für Psychiatrie. Ich bezahlte den verärgerten Fahrer und ging auf das Pförtnerhaus zu. Heraus trat ein Mann, dem der Bauch bis zum Knie hing. »Besuch?« »Wie geht’s Ihnen, Abdalfattâch?« Er kniff die Augen zusammen, um mich besser sehen zu können, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Wie schööööön, Doktor Jachja! Ich hab Sie wirklich nicht erkannt, mit dem Bart...