E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Müller Trümmerbahn, Quarkkeulchen und Tunnelflucht
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7562-5268-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die mit einem Augenzwinkern erzählte wahre Geschichte einer geglückten Flucht von Ost- nach Westberlin
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-7562-5268-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Die persönlichen Erinnerungen Hans-Georg Müllers über ein sehr bewegtes und tatkräftiges Leben." "Mit viel Mut, Willenskraft, aber auch erstaunlicher Kreativität und List stemmte sich der Autor im Kreise seiner Familie und Freunden gegen die rigorosen, leidvollen Absperr- und Sicherungsmaßnahmen des DDR-Grenzregimes." (Dr. Torsten Dressler)
1942 in Dresden geboren. Studium der Humanmedizin an der Humboldt-Universität Berlin, nach der Flucht in Berlin und Bonn weiterstudiert. Seit 1978 niedergelassen als Facharzt der inneren Medizin, später als Hausarzt. Verheiratet, drei Kinder, vier Enkel. Kein Bock auf Rente!
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EINFÜHRUNG Jedes Jahr fahre ich zum Kardiologen-Kongress nach Berlin, so auch dieses Jahr. Auf der Rückfahrt war Stau auf der Stadtautobahn bis zum Funkturm* und weiter auf der Avus* bis zum Berliner Ring angesagt. Also fuhr ich quer durch Berlin die alte B96 Richtung Birkenwerder, um von da auf die Autobahn und den Berliner Nordring zu kommen. Ich kam vorbei an Straßen und Häusern, die ich noch aus meiner Studentenzeit kannte. Lange war ich nicht mehr da, über dreißig Jahre. Und doch gab es vieles was unverändert war. Überall noch gute, alte Bekannte. Bauten im ehemaligen Ostteil der Stadt, am Alexanderplatz, der Oranienburger Straße, Kreuzberg, Mitte, und im Westen Gesundbrunnen, Wedding, Studentenwohnheim Triftstraße, Müllerstraße, Reinickendorf, Hermsdorf, Frohnau. Wie oft war ich 1963 und in den nächsten Jahren im Westen diese Strecke gefahren, um an den Ort meiner Tunnelflucht zu gelangen. Magische Kräfte ziehen mich immer wieder dahin. So auch heute. Ich kann einfach nicht an der Ottostraße in Glienicke vorbeifahren. Ich möchte einen kurzen Blick auf das Gelände werfen, unter dem ich mich in den Westen grub. Ich biege in die kurze Ottostraße ein. Die erste Überraschung: Die Straße ist jetzt geteert. Bei meinem letzten Besuch vor zwei Jahren war alles noch aus schönem Berliner Sand. Vor dem Fluchthaus Aagaard stehen drei Stahlstelen*. Dort sind Stasi*-Fotos von unserem Tunnel zu bewundern. Ein Archäologe hat unseren Tunnel wieder ausgebuddelt, wie ägyptische Grabkammern, und alles dokumentiert und bebildert. Die Erinnerung an meine Flucht 1963 ist wohl schon etwas verblasst. Die Vergangenheit und meine Taten als archäologisches Objekt zu entdecken, berührt mich. Was, wenn anstelle des im Tunnel gefundenen Fensterrahmens meine Knochen ausgegraben worden wären. Ich entsinne mich wieder an den Tag des Durchbruchs. Ich lag vor dem Tunnelausgang. Wir hatten es geschafft. Nur noch loslaufen und ich war im Westen. Seit dem Bau der Berliner Mauer hatte ich mir damals diese Situation gewünscht. Täglich hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, im Westen zu sein. Die Menschen flohen aus der DDR auf abenteuerliche Weise. So mit der unterirdischen Nord-Süd S-Bahnlinie, als Trittbrettfahrer vom Bahnhof Friedrichstraße mit Interzonenzügen, über den Stacheldraht, die Mauer, durch Abflusskanäle, mit dem Paddelbot, versteckt in einem LKW, oder mit falschem Ausweis. Nun lag sie zum Greifen nah vor mir, die Freiheit. Ich musste nur aufstehen und losrennen. Ich erinnerte mich an die Stunden vor dem Ausstieg aus dem Tunnel. Das gepresste Atmen, unterdrücktes Husten, die raschelnden Bewegungen der Menschen im Sand, die ebenso ungeduldig wie ich darauf warteten, endlich den Tunnel verlassen zu können. Helmut war als erster in den Tunnel gekrochen. Die Minuten waren quälend langsam vergangen, nachdem er vor mir im Schutz der Dunkelheit aus dem Ausstieg gekrochen war. Geduckt war mein Freund den leicht abfallenden Hang zu dem etwa zwanzig Meter vor uns liegenden Einfamilienhaus hinuntergelaufen. Hinter der links angebauten Garage hatte ihn die Nacht verschluckt. Helmut und ich hatten den Tunnel vom Haus unseres Freundes Michael überwiegend mit bloßen Händen gebaut. Genauer, voran gegraben hatten wir in dem weichen Sand mit den Händen. Wir transportierten der Aushub in einer Braten-Kasserolle zum Tunnel Einstieg, wo er von Michael in einen Eimer geleert wurde. Das Haus lag in der DDR, im Ort Glienicke etwa 60 m vom Grenzzaun nach West-Berlin entfernt. Die Äste der über uns stehenden Fichten hatten sich mit Feuchtigkeit vollgesogen, so dass schwere Tropfen auf die Wurzeln der Bäume und auf den Eingang platschten. Der Tunnelausstieg lag im Garten eines Einfamilienhauses an der Veltheimstraße in Frohnau. In der Straßenoberfläche spiegelte sich das Licht der Laternen auf dem regennassen Asphalt. Michael und Helmut kannten sich in West-Berlin wesentlich besser aus als ich. Sie hatten vor dem Mauerbau ihre Arbeitsstellen im Westteil der Stadt. Wie viele Ostberliner hatten sie sich dort täglich aufgehalten und am Wochenende auch zum Vergnügen, sofern es zu Hause nichts zu werkeln gab. Ich studierte dagegen an der im Osten liegenden Humboldt Universität. Vor der Teilung Berlins fuhr ich nur selten mit Freunden zum Bahnhof ZOO, um am Kurfürstendamm in ein Kino zu gehen. Dort gab es für Ostberliner Ermäßigung beim Eintritt. Für einen Studenten mit magerer Börse waren Besuche im Café Kranzler* oder einem Bierlokal unerschwinglich, weil das Ostgeld 1:7 in einer Wechselstube umgetauscht werden musste. Zudem war dieser Umtausch von den Ostbehörden unter Strafe gestellt. Man durfte sich dabei nicht erwischen lassen. Aber jeder tauschte, und so gab es diese Wechselstuben an allen Ecken Berlins. Als Studenten beschränkten wir uns darauf, die Schaufenster am Ku-Damm* anzusehen und dabei festzustellen, dass es dort wenige Dinge gab, die ein Ostberliner Student gebrauchen konnte. Alles war exklusiv und teuer. Vor dem Mauerbau besuchte ich mit Freunden Lokale am Stuttgarter Platz, ich erinnere mich an ein türkisches Lokal unter den S Bahn Brücken. Hier gab es feingewürzte Fleischspeisen, Fladen und andere Mehlspeisen in Nischen mit gedämpftem Licht und türkischer Musik. Man konnte sich auf jeden freien Platz setzen. Auch am Nollendorfplatz gab es einige Studentenlokale, in die wir gerne gingen. Gelegentlich bestaunten wir im KaDeWe* die Angebote. Das war es aber schon alles, was ich über die West Berliner Geographie wusste. In Ost-Berlin gab es in den HO Gasstätten kein gedämpftes Licht, und man musste brav im Eingangsbereich warten, bis der Kellner einem einen freien Platz anwies. Dieses Verfahren konnte man durch eine Schachtel West Zigaretten erheblich beschleunigen. In den zu Westberlin gehörenden Vororten kannte ich mich gar nicht aus. Vom Ost Umland war die eigentliche Grenze auch schon lange vor dem Mauerbau durch eine 5 km breite Sperrzone umgeben, in der man Gefahr lief, durch VoPos* kontrolliert und nach dem Zweck des Aufenthalts gefragt zu werden. Unser Fluchtort Frohnau gehörte zu den nördlichsten Bezirken von West-Berlin. Dieser war mir durch seine charakteristische Lage als Zipfel in das DDR-Gebiet auf der Berliner Karte im Gedächtnis geblieben. Ehe die Gruppe, die jetzt hinter mir lag, mit den Füßen voran in den Tunnel gekrochen war, hatten wir besprochen, in welcher Reihenfolge das geschehen sollte. Der Erste sollte nach dem Ausstieg die nahe gelegene Polizeiwache in West-Berlin aufsuchen und dort für unseren Ausstieg Polizeischutz besorgen. Wir hatten Angst, ohne Absicherung aus dem Tunnel zu steigen. Eine Gruppe von dreizehn Menschen wäre leicht einer Grenzstreife auch in der Nach aufgefallen. Durch West-Rundfunk und Fernsehen wussten wir, dass die DDR-Soldaten auf Flüchtlinge häufig auch dann noch schossen, wenn diese schon die Sperranlagen überwunden hatten und sich im Westen befanden. Eine Entdeckung wollten wir nicht riskieren, weil auch Behinderte und Kranke im Tunnel lagen. Nur knappe drei Meter hinter dem letzten Drahtzaun der Sperranlage waren wir mit dem Ausstieg an die Oberfläche gekommen. Ganz genau konnten wir nicht graben, weil wir die genaue Distanz nur schätzen konnten. Die Breite des unterquerten Nachbargrundstücks war uns nicht bekannt. Wir wussten nur, dass der Todesstreifen etwa 25 m breit war, der die Zonengrenze zum Osten hin abschloss. Wie viel Platz dieser Streifen aber vom Nachbargrundstück beanspruchte, war ebenfalls nicht sicher. Wir hatten eine Tunnellänge von etwa 50 Metern geschätzt. Wenn ich meinen Kopf vorsichtig aus der Tunnelöffnung schob, konnte ich gegen den wolkenverhangenen Nachthimmel den sonst beleuchteten Sandstreifen erkennen, auf dem die „Grenzorgane“* auch mit Hunden patrouillierten. Jetzt gegen zweiundzwanzig Uhr war hinter dem Zaun keine Bewegung zu erkennen. Aber das bedeutete keine Sicherheit. Es war gut möglich, dass die Grenzposten eine kleine Rauchpause auf der Terrasse des nächsten Einfamilienhauses eingelegt hatten und im nächsten Moment um die Ecke biegen würden. Ich bekam Angst und dachte, wir würden schon vom hinter uns liegenden Grenzstreifen mit Nachtgläsern beobachtet. War da nicht ein Lichtreflex gewesen? Aber alles blieb still. Die Tunnelmündung befand sich mitten im Wurzelwerk dreier Fichten, die etwa die Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks von einem Meter Abstand besetzten. Vom Osten aus hatten sie wie ein Baum ausgesehen. Seit Stunden fiel ein leiser Nieselregen über West-Berlin und dem im Norden der Stadt liegenden Bezirk Frohnau. Die Wiesenfläche über dem Tunnel war noch mit Schnee bedeckt und tief gefroren. Der Winter 1963 war bitterkalt. Die Temperaturen bewegten sich auch Tags um -30°C. Alle hatten im März von der schneidenden Kälte die Nase voll, und warteten darauf, dass die Sonne nun endlich Wärme ausstrahlte. Wir Tunnelbauer hofften jedoch, dass die Kälte noch eine Weile anhielt, weil durch sie über unserem Stollen die Erde noch hart wie Beton gefroren war. Nur auf dem Südhang hatte die kräftige Märzsonne die Wiese in der Umgebung des Ausstiegs schon aufgetaut und bis auf einige Reste auch den Schnee abgeschmolzen. Jetzt in der...