Neubauer / Reemtsma | Gegen die Ohnmacht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Neubauer / Reemtsma Gegen die Ohnmacht

Meine Großmutter, die Politik und ich

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-608-11940-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



'Meine Großmutter hat sich mit allen Leuten zweimal zerstritten. Das erste Mal, als die Leute die Schrecken der NS-Herrschaft zu schnell vergessen wollten. Und dann, als sie die ökologischen Katastrophen nicht wahrhaben wollten.'Dagmar Reemtsma ist fast 90, sie ist ein Kriegskind. Ihre Enkelin Luisa Neubauer ist in Friedenszeiten aufgewachsen, doch ihre Generation ist durch die ökologische Zerstörung bedroht. Sie beide verbindet ihr Einsatz gegen die Ohnmacht angesichts der ­Krisen und Kriege der Welt. In diesem Buch erzählen sie ­erstmals ihre persönliche und politische Geschichte. Zwei außergewöhnliche Frauen und Aktivistinnen, hundert Jahre Geschichten gegen die Ohnmacht – eine Verschwisterung über die Generationen.Luisa Neubauer hat eine besondere Beziehung zu ihrer Großmutter Dagmar Reemtsma. Seit sie ein Kind ist, besprechen sie alles ­miteinander. Persönliches, genauso wie die großen Fragen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Früh fingen sie an darüber nachzudenken, was Privilegien bedeuten, und wie man ihnen gerecht wird. Sie wurden in sehr unterschiedliche und sehr schwierige Zeiten hineingeboren, mussten früh eine ­eigene Haltung finden: Dagmar Reemtsma wurde in Zeiten des erstarkenden Nationalsozialismus geboren, ihr Vater kam in einem KZ ums Leben. Luisa Neubauer musste verstehen, dass das Land, in dem sie aufwächst, ihre Generation nicht vor der Klimakrise schützt. Als sie ihr Studium aufnimmt, um
die ökologischen Katastrophen besser zu verstehen, stirbt ihr Vater. Doch der Ohnmacht zu erliegen, war für beide nie eine Option. Der Krieg gegen die Ukraine brach mitten in die Gespräche zu diesem Buch. ­Keine von beiden hätte geglaubt, wieder Krieg in Europa erleben zu müssen. Und wieder stehen sie vor Haltungsfragen, vor Verantwortungsfragen und der Frage, was man der Ohnmacht entgegenstellt.SPIEGEL-Bestseller
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In meinen letzten beiden Schuljahren bin ich jeden Freitag nach der Schule zu meiner Großmutter gefahren. Daran muss ich denken, als ich vor ihrem Haus stehe. Neben der Tür lehnt noch immer der Besen an der Hauswand. Wer zu Besuch kommt, fegt kurz die Treppenstufen, damit meine Großmutter nicht auf dem Laub ausrutscht. Wenn meine Großmutter mich damals vor dem Küchenfenster stehen sah, rief sie so nachdrücklich: Aaach, Luisaa, als wäre sie jeden Freitag aufs Neue überrascht von meinem Besuch. Drinnen hielt sie Hausschuhe bereit, damit ich keine kalten Füße bekäme. In meiner Erinnerung schlurfte ich in viel zu großen Schlappen hinter ihr her in die Küche. Während sie im Topf rührte, ließ ich mich auf die Küchenbank fallen, steckte die eiserne Nähmaschine auf dem Regal aus, um dort mein Handy zu laden. In der Tasche hatte ich oft kleine Zettel, auf denen stand Indien oder Elbvertiefung oder auch 80er-Jahre, hä? Dinge, die wir im Unterricht besprochen hatten und die ich mit meiner Großmutter diskutieren wollte. Noch bevor ich richtig angekommen war, war sie schon mittendrin: Luisa!, sagte sie dann, was ist nur wieder alles passiert! Die Tradition der Nachmittage bei meiner Großmutter reicht weit zurück. Schon als kleines Kind verbrachte ich solche Nachmittage bei ihr. Damals trafen wir uns nicht zuerst in der Küche, sondern in ihrer Holzwerkstatt, unten im Keller. Irgendwann hatte sie ihre Garage ausgebaut und statt eines Autos eine Werkbank reingestellt. Sie hatte übriggebliebenes Holz vom Baumarkt geholt und an der Wand eine lange Leiste mit Löchern angebracht, an die sie buntes Werkzeug hängte. Solange ich denken kann, sitze ich mit ihr da unten. In einem viel zu großen Hemd und mit einer kleinen Laubsäge in der Hand. Wir sägten alles, was man sägen kann. Weihnachtsgeschenke und Serviettenringe, Holztiere zum Spielen, Schlüsselanhänger und große Holzstücke, die wir später zu Vogelhäuschen zusammensetzen würden. Meine Großmutter stand über mich gebeugt und zeigte mir, wie man die Säge richtig hält oder später, wie man die elektrische Sägemaschine bediente. Ich erinnere mich, wie ich auf ihre Hände blickte, dicht vor meinem Gesicht. Ihre Finger waren übersät mit Schnitten und Falten und darin sammelten sich winzige Sägespäne. Sie sahen nicht aus wie die Finger der Frauen aus den Elbvororten, mit geföhnten Haaren, die wir auf den Veranstaltungen trafen, zu denen sie mich mitnahm. Meine Geschwister, Cousinen und Cousins waren auch häufig bei ihr. Mal einen Nachmittag, mal eine ganze Woche, um noch rechtzeitig etwas für unsere Eltern zu basteln. Für meinen Vater wollte mein Bruder einmal die Szene der untergehenden Titanic nachbauen, das war der Lieblingsfilm unseres Vaters. Da stand er auf einmal vor meiner Tür, mit einem komisch verzogenen Holzbrett, das er im Keller gefunden hatte und erzählte was von Schiffbruch, sagte meine Großmutter. Sie hatte keine Zeit, sich lange den Kopf zu zerbrechen, der Geburtstag war schon am nächsten Tag. Sie legten los – und am Tag des Geburtstags fand unser Vater auf dem Gabentisch ein großes Modell des Schiffes. Wenn man vorne an einem Faden zog, ging die Titanic langsam im Mondschein unter. Mit den Jahren wurden unsere Bastelprobleme immer mehr zu politischen Problemen. Wir zogen vom Keller rauf in die Küche, statt darüber zu grübeln, wie der Puppenstuhl verleimt werden kann, diskutierten wir, wie Gesellschaften zusammenhalten, die Wirkung von Artenschutzabkommen oder welche Entscheidungen in der Hamburger Bürgerschaft anstanden. Unsere Hände hatten nun seltener Farbkleckse und wirbelten durch die Luft. Alte Hände, junge Hände, Haare raufend. Aber denk doch an und Stell dir doch nur mal vor. Ein Hin und Her, von beiden Seiten des Tisches. Die Themen, mit denen sich meine Großmutter in neunzig Lebensjahren beschäftigt hat, sind nicht mehr zu zählen. Selten habe ich sie sagen hören, dass sie von einer Sache noch nie etwas gehört hätte. Im Gegenteil. Es kam vor, dass Freunde von mir am Kaffeetisch in einem Nebensatz ihre Begeisterung für Flugzeugtechnologien erwähnten und meine Großmutter plötzlich ihre Kuchengabel fallenließ, aufblickte und eine kleinteilige Abhandlung über die wirtschaftliche Unsinnigkeit der Produktionslogistik des Airbus A380 vortrug. Oder bei anderem Anlass über die ökologische Dimension von Friedensfragen. Oder den Menschenrechten in Bangladesch, den Ungerechtigkeiten des deutschen Bildungssystems. Wenn ich heute zu einer Talkshow gehe, ruft sie danach regelmäßig bei mir an, um zu erklären, dass sie meine Analyse der globalen Abhängigkeiten etwas unterkomplex gefunden hätte, und ich nebenbei etwas langsamer sprechen könnte. Und Luisa, putz doch wenigstens für das Fernsehen deine Schuhe! Wenn ich heute gefragt werde, wo ich das Reden gelernt habe, diese Art zu diskutieren, wenn ich in Talkshows oder auf Podien sitze, dann denke ich an meine Großmutter und die Freitage, an denen wir stundenlang lang die Ereignisse der Welt sezierten, an ihre unermüdliche Energie und Empörung, ihre radikale Zuversicht. Ich drücke die Klingel. — Ich habe mich gerade auf die alte Küchenbank gesetzt, da legt meine Großmutter schon los. »Guck mal«, sagt sie und schiebt ein Stück bedrucktes Papier zu mir herüber. Ich war einigermaßen erschöpft zu ihr gekommen; lange Tage, kurze Nächte. Die Regierung hatte zuletzt einige Klimaversprechen aufgeweicht, die europäische Lobby der Gasindustrie war auf dem Vormarsch, in den französischen Wahlen war die Klimakrise kaum Thema gewesen. Noch schlimmer als die Rückschläge alleine war aber der öffentliche Umgang damit. Von »Rückschlägen für die Klimabewegung« wurde da gesprochen, als sei das alles mehr ein privates Problem von uns Aktivist:innen. Auf der Küchenbank schaue ich zu meiner Großmutter rüber. Sie schenkt mir Kaffee ein, etwas widerwillig, sie sagt: »Trink nicht so viel davon, das ist nicht gut für dich.« Wie so oft, wenn ich bei ihr bin, werfen mein Stress und meine Erschöpfung die Frage auf, wie wir uns vor der Verzweiflung schützen können. Meine Großmutter hat nie aufgehört, sich einzusetzen, in all den Jahren nicht. Das heißt nicht, dass sie keine Verzweiflung kennt. Aber die Empörung in ihr ist am Ende immer stärker. Im Großen wie im Kleinen. Empört guckt sie mich auch jetzt an. »Jetzt guck mal«, sagt sie und weist auf einen Flyer vor mir. Darin geht es um die Sache mit dem Laubbläser. Alles hatte damit angefangen, dass eine Nachbarin einen Gärtner beauftragt hatte, nachmittags regelmäßig mit einem Laubbläser ihren Garten zu bearbeiten. »Laubbläser sind ein Riesenproblem«, sagt meine Großmutter entrüstet. Sie störten die Ökosysteme und schädigten den Boden. Wenn man die Wege freihalten wolle, könne man ja harken und die Blätter im Herbst auf den Beeten verteilen, damit sie dort die Erde wärmen und vor Erosion schützen. Meine Großmutter kann nicht nachvollziehen, wie man auf die Idee kommen kann, einen Laubbläser, der so schlecht für die Umwelt ist und dabei »einen heillosen Krach macht«, einzusetzen, nur um den eigenen Vorgarten etwas aufzuhübschen. Dass ihre Nachbarin einen Laubbläser eingesetzt hatte, hielt meine Großmutter für Unbedarftheit, ja ein Versehen. Da wusste jemand einfach nicht Bescheid, was diese Maschine ökologisch anrichtet, kann ja passieren. Jetzt, während ich diese Geschichte aufschreibe, fällt mir erst auf, wie weit unsere Perspektiven auseinandergehen: Meine Großmutter geht in solchen Situationen kategorisch von gutwilligen Menschen mit einem Mangel an Informationen aus, ich hingegen sehe zuerst mangelnden Willen trotz besseren Wissens. Meine Großmutter spazierte also die Straße hinunter. Bei der Nachbarin angekommen, folgte ein erstes, freundliches Aufklärungsgespräch am Gartenzaun. Meine Großmutter erklärte, dass der Laubbläser mit 220 Stundenkilometern Blätter und Nährstoffe wegbliese, dass Humusaufbau verhindert würde, dass der Boden so nicht mehr vor Kälte oder Trockenheit geschützt sei und außerdem würden wichtige Kleinstlebewesen getötet. Meine Großmutter ließ auch noch Grüße an den Gärtner ausrichten. Eine Woche später hörte sie den Laubbläser wieder. Was war da los?, dachte meine Großmutter, und weil die Nachbarin nicht da war, schrieb sie einen Brief. Sie sei »einigermaßen entrüstet«, die Nachbarin wisse doch nun Bescheid. Sie könne wirklich nicht verstehen, was sie sich dabei dächte: Ökologie ginge uns alle an. Den Kleinstlebewesen und dem ausgelaugten Boden sei es schließlich egal, auf welcher Seite des Zauns...


Neubauer, Luisa
Luisa Neubauer, geboren 1996 in Hamburg, ist eine der weltweit bekanntesten Klimaaktivistinnen. Die Geographiestudentin lebt in Go¨ttingen und Berlin. Zuletzt erschien von ihr und Alexander Repenning Vom Ende der Klimakrise (2019) und mit Bernd Ulrich Noch haben wir die Wahl (2021). Seit 2020 hostet sie den Klimapodcast 1,5 Grad.

Reemtsma, Dagmar
Dagmar Reemtsma (geborene von Hänisch), ist Jahrgang 1933 und seit vielen Jahrzehnten für Umwelt, Frieden und globale Gerechtigkeit im Einsatz. Schon vor Jahren hielt sie Reden vor den Aktionären von Adidas und kämpfte für bessere Bezahlungen der Näherinnen in Südostasien - seit den 1980er Jahren organisiert sie Demonstrationen gegen Atom- und Kohlekraft und klärt mit der Umweltgruppe Elbvororte unermüdlich über die ökologischen Gefahren auf. Dagmar Reemtsma lebt in Hamburg.

Luisa Neubauer, geboren 1996 in Hamburg, ist eine der weltweit bekanntesten Klimaaktivistinnen. Die Geographiestudentin lebt in Go¨ttingen und Berlin. Zuletzt erschien von ihr und Alexander Repenning Vom Ende der Klimakrise (2019) und mit Bernd Ulrich Noch haben wir die Wahl (2021). Seit 2020 hostet sie den Klimapodcast 1,5 Grad.

Dagmar Reemtsma (geborene von Hänisch), ist Jahrgang 1933 und seit vielen Jahrzehnten für Umwelt, Frieden und globale Gerechtigkeit im Einsatz. Schon vor Jahren hielt sie Reden vor den Aktionären von Adidas und kämpfte für bessere Bezahlungen der Näherinnen in Südostasien - seit den 1980er Jahren organisiert sie Demonstrationen gegen Atom- und Kohlekraft und klärt mit der Umweltgruppe Elbvororte unermüdlich über die ökologischen Gefahren auf. Dagmar Reemtsma lebt in Hamburg.


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