E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Nuber Der Bindungseffekt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-99622-8
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie frühe Erfahrungen unser Beziehungsglück beeinflussen und wie wir damit umgehen können
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-492-99622-8
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ursula Nuber ist Diplompsychologin und war bis 2018 Chefredakteurin der Zeitschrift Psychologie Heute. Sie arbeitet als Psychologin und Paartherapeutin in der Nähe von Heidelberg und ist Autorin zahlreicher psychologischer Ratgeber. Zudem ist sie Kolumnistin (»Besser lieben«) der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
Die erste Liebe
Was hat die Kindheit damit zu tun, wenn Beziehungen heute schwierig sind? Und warum sind Veränderungen nur möglich, wenn wir wissen, was die erste Liebe uns lehrte?
»Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein Unterfangen, das mit so großen Hoffnungen und Erwartungen begonnen wird und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt, wie die Liebe.« Diese Aussage traf der Psychoanalytiker Erich Fromm Mitte der 1950er-Jahre. Könnte man ihn heute erneut zum Thema befragen, würde er wohl kaum anderer Meinung sein. Konstant hohe Scheidungsraten, die große Zahl an Single-Haushalten in Großstädten, viele Millionen Partnersuchende im Internet und ungezählte Paare, die sich ein glückliches Leben zu zweit erhofften und sich dann im Liebesalltag miteinander verstricken – gelebte Liebe ist offensichtlich mehr denn je ein schwieriges Unterfangen. Frauen und Männer sehnen sich nach einem anhaltenden Beziehungsglück, doch häufig erfolgt nach einem kurzen Höhenflug schon bald der Absturz, oder die Partnerschaft landet nach einem längeren, unaufhaltsam erscheinenden Sinkflug auf dem harten Boden des Alltags.
Warum ist es so schwer, glückliche und dauerhafte Beziehungen zu führen? An Analysen mangelt es nicht: Verantwortlich für die Liebesmisere, so Experten, seien allzu romantische Vorstellungen von der Liebe, die Überforderungen durch Beruf und Familie, überzogene Erwartungen an eine Partnerschaft, die Hoffnung, dass es »da draußen« – vielleicht in den Tiefen des Internets – noch einen besseren Partner oder eine bessere Partnerin gibt. Gerade der letzte Punkt bekommt zurzeit viel Aufmerksamkeit. Vor allem jüngeren Erwachsenen, aber nicht nur ihnen, wird Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit bescheinigt. Sie würden nur noch um sich selbst kreisen und sich mit Selbstoptimierung beschäftigen. Sobald Beziehungsprobleme auftauchten, kämen sie ins Schleudern, meint zum Beispiel Michael Nast, Autor des Bestsellers Generation beziehungsunfähig. Der Zwang zur Perfektion mache dann auch nicht vor dem Partner halt. Denn schließlich sei man sich ja bewusst, »dass es irgendwo noch jemanden gibt, der das eigene Leben sinnvoller ergänzt«.
Diese Diagnose ist nicht falsch. Alle genannten Aspekte können dazu beitragen, dass eine Paarbeziehung in Schieflage gerät. Deshalb ist es für ein Paar durchaus sinnvoll, an diesen Problemen zu arbeiten und sich deren Auswirkungen auf die Liebe bewusst zu machen. Aber reicht das aus? Verbessert sich die eigene Beziehungssituation nachhaltig, wenn man die Liebe nicht mehr romantisch verklärt und seine Erwartungen herunterschraubt? Ändert sich grundlegend etwas an der Beziehungszufriedenheit, wenn man aufhört, nach dem perfekten Partner oder der perfekten Partnerin zu suchen, und sich zufriedengibt mit einem Menschen, der »gut genug« ist?
Wer oder was ist schuld?
Seit vielen Jahren habe ich das große Privileg, als Psychologin und Paartherapeutin Menschen in Lebens- und Beziehungskrisen ein Stück auf ihrem Weg begleiten zu dürfen: Junge Frauen und Männer, die gerade in die Arbeitswelt starten, Partnerschaften eingehen und Familien gründen; Paare in der Rushhour des Lebens, die fürchten, dass ihnen vor lauter Alltagsstress die Liebe abhandenkommt; ältere Männer und Frauen, die sich nach vielen Jahren der Zweisamkeit fragen, ob das jetzt schon alles war.
Manche Ratsuchende sind hetero-, manche homosexuell, manche kommen als Paar, viele suchen für sich allein Rat – weil der Partner, die Partnerin nichts von einer Paarberatung hält, weil eine Beziehung gescheitert ist, oder weil sie Single sind und bisher keinen passenden Lebensbegleiter finden konnten.
All diese Männer und Frauen erzählen mir vertrauensvoll von ihren Begegnungen und Erfahrungen mit der Liebe. Sie berichten von den immer gleichen Konflikten, von ihren Ängsten, nicht (genug) geliebt zu werden, sie zweifeln an sich selbst und fürchten – möglicherweise beeinflusst von der öffentlichen Diskussion des Themas –, beziehungsunfähig zu sein. Sie reden von ihrer Einsamkeit, die sie trotz Partnerschaft empfinden oder unter der sie leiden, weil sie bislang noch niemanden getroffen haben, der mit ihnen durchs Leben gehen will. Sie sprechen von ihrer Enttäuschung über den Partner oder die Partnerin, und gar nicht so selten sprechen sie auch von der Enttäuschung über sich selbst.
»Wir streiten ständig über Kleinkram.« »Meine Frau hat sich in einen Kollegen verliebt.« »Wir reden kaum noch miteinander.« »Ich gerate immer an die falschen Männer (falschen Frauen).« »Manchmal habe ich den Eindruck, ich rede gegen eine Wand.« »Sie akzeptiert meine Kinder aus erster Ehe nicht.« »Er kontrolliert mich ständig, ich habe gar kein Privatleben mehr.« »Er kann eiskalt werden, wenn ich etwas von ihm will.« »Ich kann es nicht leiden, wenn ständig jemand an mir klebt.« »Schon wieder ist eine Beziehung gescheitert, die dritte in zwei Jahren. Was stimmt mit mir nicht?« »Sie hat mich mit meinem besten Freund betrogen.« »Ich habe das Gefühl, ich bin inzwischen für Männer unsichtbar.« »Die Frauen, die ich kennenlerne, haben über kurz oder lang immer was an mir auszusetzen.« »Im Laufe der Zeit habe ich interessante Männer getroffen. Aber ich muss was an mir haben, was sie vertreibt.« »Ich hätte gern mehr Sex mit meiner Frau, aber sie will nicht. Sie sagt, sie liebt mich, aber ich kann es nicht wirklich glauben.« »Ihr Ex-Mann steht zwischen uns. Sie spricht zwar nicht von ihm, aber ich weiß, dass er noch ein Konkurrent ist.« »Ich liebe zwei Männer und weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll.« »Sein Kind aus erster Ehe ist ihm wichtiger, als ich es bin.« »Wie sollen wir zusammen alt werden, wenn wir nicht miteinander reden können.«
So unterschiedlich die jeweiligen Probleme und Anliegen auch sind, alle Liebesunglücklichen hoffen, dass sich ihre Situation möglichst kurzfristig zum Besseren verändern lässt. Sie möchten lernen, was Beziehungen im Allgemeinen und ihre Beziehung im Besonderen erfolgreich macht. Sie wollen an sich arbeiten und erfahren, wie sie mehr Leichtigkeit in ihre Zweierbeziehungen bringen können und was ihnen zu einer effektiveren Kommunikation, einem erfüllteren Sexualleben und insgesamt zu einem harmonischeren Zusammenleben verhilft. Sie wünschen sich, dass der Partner, die Partnerin endlich einsichtig ist und Veränderungsschritte einleitet.
Verständliche Wünsche, verständliche Erwartungen. Doch in den meisten Fällen suchen Menschen die Lösung für ihre Liebesprobleme am falschen Ort. Wenn ein Paar nicht miteinander reden kann, wenn körperliche und emotionale Nähe fehlen oder unbefriedigend sind, wenn ständige Auseinandersetzungen um Kleinkram zermürben, wenn Untreue eine Partnerschaft erschüttert, wenn Liebesbeziehungen nicht zustande kommen oder regelmäßig scheitern, dann sind das meist nur Symptome einer tiefer liegenden Ursache.
Wie wir Liebe lernen
Krisen in der Partnerschaft, häufige Trennungen oder unerfüllt bleibende Beziehungswünsche werden von Betroffenen meist auf individuelle Schwächen und Fehler zurückgeführt oder auf die Unfähigkeit des Partners. Doch aktuelle Schwierigkeiten mit der Liebe haben oft gar nicht so viel mit der eigenen Beziehungsfähigkeit oder der des Partners zu tun, als man gemeinhin glaubt. Viele Männer und Frauen, die an der Liebe leiden, wissen nicht, dass sie das möglicherweise bereits seit Anbeginn ihres Lebens tun, weil ihre aktuellen Probleme weniger mit dem aktuellen Partner zusammenhängen als vielmehr mit der ersten Frau oder dem ersten Mann in ihrem Leben. Denn das Verhalten von Mutter und Vater hat uns nicht nur in der Kindheit geprägt; die frühen Erfahrungen mit den ersten und intensivsten Liebespartnern beeinflussen bis heute unser Leben und eben auch unsere Liebesbeziehungen.
Unsere Eltern brachten uns bei, wie Beziehungen funktionieren. Aus der Art und Weise, wie sie sich in den ersten Lebensjahren um uns kümmerten, ob sie uns Zuwendung und Liebe schenkten oder uns streng behandelten und wenig beachteten, lernten wir, was wir von den Menschen, die wir lieben, erwarten können und was nicht. Wir lernten, ob wir einen eigenen Willen haben dürfen oder ob es ratsamer ist, uns unterzuordnen und anzupassen. Wir lernten, wie viel Nähe wir zu anderen zulassen können, ob die Erwachsenen unser Vertrauen verdienen, oder ob es für uns besser ist, auf Abstand zu bleiben. Wir lernten, ob wir uns Liebe erarbeiten müssen, oder ob wir auch geliebt werden, wenn wir nicht immer brav sind. Kurz: Wir lernten, ob unsere erste Liebesbeziehung ein sicherer oder ein unsicherer Ort ist. Diese frühen Lektionen und die Schlussfolgerungen, die wir daraus zogen, haben wir abgespeichert. Sie begleiten uns unser Leben lang. Unser späteres Beziehungsglück beziehungsweise unser späteres Liebesunglück haben in den meisten Fällen mit diesem frühem »Unterricht« und dem damals entstandenen Beziehungswissen zu tun.
Gibt es Probleme in einer Partnerschaft, dann sollten wir uns unbedingt mit unserer ersten Liebesbeziehung befassen. Der Blick zurück kann helfen, immer wiederkehrende Beziehungskonflikte zu verstehen. Denn es gibt inzwischen keinen Zweifel mehr an diesem Zusammenhang: Wie gut Beziehungen im Erwachsenenalter gelingen, hängt zu einem sehr großen Teil von den Erfahrungen in der frühen Kindheit ab. Die Erfahrungen, die wir mit der ersten Liebe unseres Lebens machen mussten oder durften, formten das Modell, wonach wir heute Beziehungen führen. Man kann sagen: Die erste Liebesbeziehung ist der Prototyp, nach dem wir alle folgenden wichtigen Beziehungen in unserem Leben gestalten. Nicht immer ist dieser Prototyp eine Last. Aber manchmal...