E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Oetting Entscheidung auf Norderney
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95441-728-5
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Insel-Thriller
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-95441-728-5
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schatten über dem Inselidyll
Als Maja mit ihren Kindern die Sommerferien auf Norderney verbringt, sehnt sie sich nach Ruhe und einem Neuanfang, aber als plötzlich eine alte Bekannte auftaucht, nimmt ihr Urlaub eine unerwartete Wendung. Caro, charmant und rätselhaft, zieht Maja immer mehr in ihren Bann. Was zunächst als harmloses Wiedersehen beginnt, entwickelt sich bald zu einem trügerischen Spiel, in dem die Dinge völlig anders sind, als man glaubt.
Während die Nordsee unaufhörlich gegen die Küste brandet, verwandelt sich Majas Leben zu einem Drama, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Wem kann sie noch vertrauen? Alle Menschen in ihrem Umfeld spielen ein falsches Spiel, selbst ihre Kinder entgleiten ihr. Und ein schreckliches Geheimnis, das sie mit niemandem teilen wollte, scheint nicht länger unentdeckt zu bleiben. Der Traumurlaub wird zu einem Albtraum.
Ein fesselnder Thriller voller Spannung und einzigartiger Inselatmosphäre – für alle, die den Nervenkitzel lieben!
Autoren/Hrsg.
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PROLOG
8. November 1890, Altona
(damals noch preußische Provinzstadt)
FRANZ Er stand mit kraftlos herabhängenden Armen vor dem zerschlissenen Sofa. Sein Leinenhemd hatte Flecken, seine dunkle Hose war an den Knien ausgebeult, die Weste dünn und fadenscheinig, aber das alles störte ihn nicht. Und Sophie störte es auch nicht. Es hätte Sophie nicht gestört, korrigierte er sich in Gedanken. Beinahe jeden Tag war er in den vergangenen zwölf Jahren hier gewesen, hatte sie besucht und nebenbei Reparaturen am oder im Haus erledigt. Manchmal am Nachmittag, manchmal am Abend und manchmal auch am Vormittag, so wie heute. Je nachdem, wie sein Tagesablauf in seiner kleinen Schreinerwerkstatt ausgesehen hatte. Sie hatten über Gott und die Welt geredet, über das Wetter gejammert und über die Politik geschimpft. Aber am liebsten hatten sie über die Bücher diskutiert, die sie, die erfolgreiche Schriftstellerin Sophie Wörishöffer, geschrieben und die er mit Begeisterung gelesen hatte – obwohl es sich um Jugendromane handelte und er dafür eigentlich zu alt war. Er hatte die Unterhaltungen mit ihr genossen und sich jeden Tag darauf gefreut wie ein Kind auf Weihnachten. Eine schöne Frau war sie nicht gewesen. Nicht vor zwölf Jahren, als sie Nachbarn wurden, und auch jetzt nicht, als ihr Leben im Alter von zweiundfünfzig Jahren endete. Ihre Haare waren dünn und immer streng zurückgekämmt gewesen. Ihr Haaransatz lag so weit hinten, dass sie manchmal fast kahlköpfig wirkte. Die Augen standen eng beieinander, der Mund war ein bisschen schief, und sie hatte eine Himmelfahrtsnase, aber all das hatte seine Faszination für diese geistreiche und blitzgescheite Frau nicht schmälern können. Im Laufe der Jahre und vieler gemeinsam verbrachter Stunden hatte er erfahren, dass sie 1838 als Sophie Andresen in Pinneberg zur Welt gekommen war. Nach dem frühen Tod ihres Vaters, Sophie war zu dem Zeitpunkt erst dreizehn Jahre alt gewesen, war sie mit ihrer Mutter und den beiden jüngeren Geschwistern nach Altona gekommen und hatte mit dem Schreiben von Erzählungen für verschiedene Zeitschriften begonnen. Sophie hatte nie gerne über sich gesprochen. Es hatte vieler Ansätze und Fragen bedurft, bis sie ihm nach und nach ein paar Einzelheiten aus ihrem Leben erzählt hatte. 1866 hatte sie Albert Fischer Wörishöffer geheiratet, der bis dahin ihr Vermieter gewesen war. 1878 war Franz mit seiner Familie ins Nachbarhaus gezogen. Und jetzt war Sophie tot. Vor wenigen Minuten hatten sie sie abgeholt. Genau zur Mittagszeit. Jetzt war das Haus ganz still, zu still. Er hörte nicht mehr das Geräusch ihrer Schritte, kurz bevor sie sich zu ihm an den Tisch setzte. Er roch nicht mehr das Aroma des Tees, das aus der Tasse aufstieg, die sie ihm jedes Mal ungefragt vor die Nase stellte. Da war auch nicht mehr ihr Lachen, das den Raum erfüllte. Alles, was von ihr geblieben war, war eine kühle, bedrückende Stille. Auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel, in dem sie oft viele Stunden am Stück gelesen hatte, lag noch ein Buch. Franz ging langsam darauf zu. Seine Finger zitterten leicht, als er es berührte. Die Seiten waren vergilbt. Er konnte fast vor sich sehen, wie sie dort saß, in ihre Lektüre vertieft, während das Feuer leise im Kamin knisterte. Seine Brust schnürte sich zusammen, und eine Welle von Schmerz durchflutete ihn. Er sollte nach Hause gehen. Zu seiner Frau und seinem Sohn. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Er hatte sich längst eingestanden, dass er Sophie geliebt hatte. Auf eine gänzlich unschuldige Art und Weise, die nie in Konkurrenz gestanden hatte zu der Liebe, die er für seine Frau Emilie empfand. Niemals hätte er Sophie seine Gefühle erklärt oder sich ihr gar genähert. Er verehrte sie rein platonisch wegen ihrer Klugheit, ihrer Fantasie und ihrer Kunst, Geschichten zu erzählen. Mit müden, schweren Schritten ging er zu dem Regal an der Wand, in dem sie ihre Bücher aufbewahrte. Sie hatte längst nicht von all ihren Veröffentlichungen eigene Exemplare, aber zumindest stand da ihr Werk Aus den Erfahrungen einer Hausfrau mit dem Untertitel Ein Weihnachtsgeschenk für Deutschlands Bräute. Außerdem die Romane Am Abgrund, Die Diamanten des Peruaners, Durch Urwald und Wüstensand, Die Schatzsucher in Peru, Unter Korsaren sowie Kreuz und quer durch Indien. Und eine gut erhaltene Ausgabe des 1877 erschienenen Debütromans Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte. Während Franz mit den Fingern über die Buchrücken strich, sann er weiter über die Dinge nach, die er über Sophie wusste. Ihr Mann starb bereits 1870 nach nur vier Jahren Ehe und ließ sie mittellos zurück. Ihr erstgeborener Sohn Philipp starb im Kindesalter. 1871 kam ihr zweiter Sohn Hugo unehelich zur Welt. Von da an hatte sie geschrieben, um den Lebensunterhalt für ihr Kind und sich zu verdienen. Bestimmt würde Hugo bald kommen, um das Haus zu räumen. Dann wären all ihre Sachen verschwunden, ihr einstiges Zuhause wäre nur noch eine leere Hülle, und nichts würde mehr an sie erinnern. Plötzlich wurde in Franz das Gefühl übermächtig, etwas von dieser außergewöhnlichen Frau behalten zu wollen. Mit den Augen suchte er die Stube ab und hoffte, etwas zu finden, ohne in ihrem Haus herumwühlen zu müssen, denn das wollte er auf keinen Fall tun. Sein Blick blieb an einem hölzernen Kasten hängen, den er schon häufiger bemerkt, sich aber noch nie genau angesehen hatte. Er nahm das Kästchen in die Hand und erkannte, dass es sich um eine Zigarrenkiste handelte. Zedernholz vermutlich, denn Zigarrenkisten waren meistens aus Zedernholz. Hatte Sophies Mann Zigarren geraucht, und sie hatte die Kiste, in der, gemessen an ihrer Höhe, Platz für mindestens vier oder fünf Lagen war, als Erinnerung aufbewahrt? Das Etikett war größtenteils abgekratzt worden, die Schrift auf den kläglichen Überresten verblichen und dadurch unleserlich. Franz hielt den Kasten in seinen Händen wie den Heiligen Gral und öffnete ihn dann langsam und beinahe ehrfürchtig. Sofort stieg ihm würziger Zigarrenduft in die Nase. Oder bildete er sich das nur ein? Die Kiste war doch viel zu alt, um den Duft noch immer abzugeben. Spielte sein Gehirn ihm einen Streich, weil er nun mal wusste, dass es sich um eine Zigarrenkiste handelte? Was er im Innern des Kastens fand, ließ Franz kurz den Atem stocken. Da lag eine goldene Uhrkette mit Uhr, die wahrscheinlich Sophies Mann oder sogar ihrem Vater gehört hatte. Franz fand auch eine goldene Brosche mit einem beeindruckend großen Smaragd. Er kannte sich mit Edelsteinen zwar nicht aus, aber die markante grüne Farbe des Steins war unverkennbar. Außerdem waren da noch verschiedene goldene und silberne Haarspangen und ein Ring mit einem Rubin. Zumindest mit einem roten Stein, und waren Rubine nicht rot? Franz nahm die Schmuckstücke nacheinander aus der Kiste und legte sie ins Regal, denn darunter lagen beschriebene Papiere, die seine Neugier geweckt hatten. Behutsam nahm er das erste Blatt heraus und sah es sich genauer an. Dann begannen seine Hände zu zittern. Was er gefunden hatte, waren Notizen in Sophies unverkennbarer Handschrift. Rohfassungen eines ihrer Manuskripte. Er traute seinen Augen nicht. Um welchen Roman handelte es sich? Franz wischte seine vor Aufregung feuchten Hände an seinen Hosenbeinen ab, bevor er weiterblätterte. Auf einigen Blättern hatte Sophie wild herumgekritzelt, Wörter durchgestrichen oder mit Kringeln und Pfeilen markiert, sodass man kaum noch etwas lesen konnte. Auf anderen wiederum waren ganze Absätze sauber und ohne Verbesserungen oder Streichungen verewigt. Franz besah sich die Seiten genauer und wäre am liebsten in die Luft gesprungen, als er erkannte, dass es sich bei den Notizen um Passagen aus Onnen Visser, der Schmugglersohn von Norderney handelte. Das Buch war sein Lieblingsroman und seiner Meinung nach das größte Meisterwerk aus Sophies Feder. Hintergrund der Erzählung war das Leben an der ostfriesischen Küste und auf den Inseln, vor allem auf Norderney, während der Franzosenzeit. Besonders die Schilderung von Napoleons Feldzug gegen Russland hatte es Franz angetan. Mit den Manuskriptseiten in der Hand ging er hinüber zu Sophies Lesesessel, setzte sich und vertiefte sich in seine Lektüre. Über den Wassern der Nordsee stand ein schweres Gewitter. Träge lief die Flut an den Strand von Norderney, und doch bewegte sich auf dem Wasser ein Kanonenboot, dessen Besatzung emsig spähend nach allen Seiten ausblickte. Franz lächelte beim Lesen. Was hier wie eine rasch hingekritzelte Notiz aussah, waren die beiden allerersten Sätze seines Lieblingsromans. Er fühlte sich freudig erregt und suchte in der Kiste nach der nächsten gut leserlichen Textpassage. Und die Wagenbudenreihe brannte lichterloh. Hier und da in den Straßen glühte es auf. Der Brand von Moskau, das entsetzlichste Ereignis des neunzehnten Jahrhunderts, hatte begonnen. Oh ja, er erinnerte sich so gut an die Geschichte. Vor Aufregung wurde ihm ganz flau, während er Blatt für Blatt aus der Zigarrenkiste nahm und studierte. Erst als es dämmerte, kehrte Franz in die Wirklichkeit zurück. Er ging zum Regal hinüber, legte die beschriebenen Blätter zusammen mit den Schmuckstücken zurück in die Zigarrenkiste und verbarg sie unter seiner Weste. Nun blieb etwas von ihr bei ihm. Er konnte nach Hause gehen. Die alten Dielen knarzten unter seinem Schritt, als er langsam zur Haustür ging,...