E-Book, Deutsch, 161 Seiten
Osterwald Tod eines Schweins
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95865-374-0
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 161 Seiten
ISBN: 978-3-95865-374-0
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Egbert Osterwald, geboren 1952, studierte Germanistik und Politikwissenschaft. Er ist erfolgreicher Autor zahlreicher Kriminalromane.
Autoren/Hrsg.
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Ich hasse ihn, dachte er, oh, wie ich diesen Kerl hasse.
Frank Zeidler lehnte sich zurück und fühlte die Wärme der Sonne auf seinem Rücken. Die Vorhänge waren zwar zugezogen worden, aber aus irgendeinem Grunde blieb immer ein Spalt frei, durch den ihn das Sonnenlicht traf. Er spürte ein wohliges Gefühl der Wärme, das sich von seinem Rücken über seine Schulter bis hin zu seinem Nacken und Kopf ausbreitete. Es machte ihn schläfrig. Jetzt einfach die Augen zumachen und ein kleines Mittagsschläfchen halten. Einfach wegdämmern. Oder draußen spazierengehen. Die frische, warme Luft atmen. Den Frühling genießen.
Trotz der weichen Unterlage spürte er zunehmend jede einzelne Strebe des Korbgeflechts. Er setzte sich gequält auf und blickte sich aufmerksam im Raum um.
Mit heimlicher Befriedigung bemerkte er, dass sein Nachbar zur Linken, Norbert Weinitz, der Leiter des Realschulzweiges, ebenfalls mit der Müdigkeit kämpfte. Seine Augen schlossen sich, sein Kopf sackte manchmal vornüber, um dann in einem Ruck nach oben zu fahren.
Ein Blick auf die Tagesordnung zeigte ihm, dass sie immer noch bei Tagesordnungspunkt 3, Berichte und Termine, verharrten und dass die Uhr auf halb drei zuging. Wieder einmal war die Zeit gnadenlos überzogen worden.
Endlos, dieser TOP 3, Berichte und Termine. Fußlappenthemen, jedesmal das gleiche, und nichts wurde fertig. Raucherhof auf dem Schulhof. Neben der Sporthalle, bei den Fahrradständern oder doch im kleinen Karree? Da allerdings einsehbar von den Nachbarn. Also wohin? Sollte das Formular zur Benachrichtigung der Eltern noch einmal geändert werden?
Und die wichtigen Themen waren noch nicht einmal behandelt worden. Auch sein Thema nicht, auf das er sich vorbereitet hatte. Wahrscheinlich würde man es wieder vertagen. Leistungsprobleme der Schulabgänger in der gymnasialen Oberstufe. Wen scherte es denn schon, dass die Leistungen ihrer Schüler im Abitur verglichen mit denen des Nachbargymnasiums immer schlechter wurden? Und wen kratzte es ernsthaft, dass es Jahr für Jahr immer weniger Eltern gab, die ihre Kinder auf dem Gymnasialzweig der Schule anmeldeten? Sie waren nun einmal eine Gesamtschule, die drei Schulzweige unter einem Dach hatte und die von den Eltern angewählt oder aber abgewählt werden konnte. Stattdessen wurde seit einer halben Stunde die bevorstehende Aufführung eines Musicals ›Rock-Night‹ in gut einer Woche besprochen. Wichtiges wurde hier seit langem nicht mehr behandelt.
Es ist meine Zeit, dachte er, es ist meine Lebenszeit, die hier verrinnt. Und auch das Bewusstsein, dass es den anderen vielleicht ebenso erging, beruhigte ihn nicht. Es war einfach langweilig, schlichtweg langweilig. Zum Kotzen. Furchtbar. So mussten sich Schüler in einem Unterricht fühlen, der sie überhaupt nicht interessierte. Gnadenlos genervt. Und die Zeit schleicht wie eine Schnecke.
Der Stuhl drückte, der aufkommende Ärger machte ihn endgültig wach, und mit einem Anflug von übergroßer Deutlichkeit nahm er den Raum wahr. Ein großer heller Sitzungstisch, acht Stühle, zwei davon waren heute leer, darum herum Aktenschränke, viele davon unaufgeräumt. Die Tür zum kleineren Nachbarzimmer stand offen, und man konnte ganz im Hintergrund des Zimmers eine skandinavische Sitzecke mit einem Sofa erkennen. An den Wänden Übersichtskarten, Zettel, ein paar Fotos. Das Bild einer Schülergruppe mit der Unterschrift Wir grüßen unsere Freunde in Deutschland. Das Überbleibsel eines Austauschversuches mit Polen. Auch wieder so ein Projekt, das als Investitionsruine herumstand und das seine Existenz nur der Durchsetzungsfähigkeit des Schulleiters verdankte. Einmal ein Besuch, ein Foto mit dem Minister für die Zeitung, dann schlief das Ganze ein. Und zurück blieb die Enttäuschung auf der anderen Seite.
Er musterte zum wiederholten Male die Reihe seiner Kollegen, die mit ihm jeden Montag ab zwölf Uhr diese quälende Prozedur über sich ergehen lassen mussten.
Norbert Weinitz hatte wohl gerade seine Müdigkeitsphase überwunden, denn er meldete sich auf einmal mit einem Engagement zu Worte, das er die letzte halbe Stunde hatte vermissen lassen. Wenn, dann sagte er nur etwas zu technischen Fragen. Beginn, Ende von Veranstaltungen, Busprobleme, mehr nicht. Wilhelm Brahms, der Leiter des Hauptschulzweiges. Er war der einzige, mit dem er etwas befreundet war, privat war er ganz lustig, ein Sportvereinstyp, Handballspieler, den man gerne um sich hatte, aber hier hielt er sich seit langem zurück. Daneben die dicke Uschi, die Leiterin der Orientierungsstufe. Sie war zwar am längsten hier, aber ihr Wort galt am wenigsten.
Schließlich noch Walter Meyer, der Stellvertreter, wie immer wie aus dem Ei gepellt, wenngleich diesmal die rote Krawatte nicht ganz zum Türkis des Anzugs passen wollte. Aber er trug ein neues Parfüm, das ihm gut stand. Auch er ohne eigene Meinung. Der Platz von Dr. Finkenburg, dem Didaktischen Leiter, war leer. Dr. Finkenburg war nach einem Herzinfarkt, den er nur mit Mühe überstanden hatte, noch immer krankgeschrieben. Wahrscheinlich würde er in den vorzeitigen Ruhestand treten und seinen Sessel räumen. Mit ihm hatte sich Frank Zeidler gut verstanden, Finkenburg hatte hin und wieder mal ein offenes Wort riskiert, man konnte sich auf ihn verlassen. Er hatte eine Lücke hinterlassen.
Auch so einer, den der Kerl geschafft hat, dachte er verbittert. Und dann sagte er sich ganz leise, aber eindringlich: In drei Monaten bin ich hier weg. In drei Monaten sehe ich von all diesen Menschen keinen einzigen mehr. Und vor allen Dingen ›ihn‹ nicht.
›Er‹ saß an der Stirnseite des Tisches. Da der Raum für die Menge der Möbel nicht sehr groß war, stieß er mit dem Rücken fast direkt an seinen chronisch unaufgeräumten Schreibtisch, der mit einem Berg von wichtigen oder vielleicht auch unwichtigen Papieren bedeckt war. dass man in diesem Durcheinander überhaupt noch etwas wiederfinden konnte! Auf dem Tisch und in unmittelbarer Umgebung drei Telefone. Drei! Mann, musste der Kerl wichtig sein! Drei Telefone für einen Schulleiter.
Getarnt von einem ewig freundlichen Lächeln blickte Frank Zeidler seinen Vorgesetzten an und musterte ihn. Rundes Gesicht, etwas fett, aber vermutlich noch ganz beweglich, untersetzt, knapp einsachtzig. Manchmal, wenn er schnell sprach, unterliefen ihm noch leichte grammatische Fehler, und sein Ruhrpottslang schlug durch.
Er isst zu viel, und jetzt trinkt er noch zu viel, dachte er, als er die rötliche Hals- und Gesichtsfärbung seines Chefs bemerkte. Und seine Herzprobleme, von denen er immer erzählt — vielleicht kriegt er ja mal einen Herzinfarkt, und den hoffentlich bald. Wenigstens muss er jetzt Betablocker schlucken. Da ist er bestimmt impotent. Und seine Frau ist hübsch. Bestimmt hat sie einen Liebhaber, einen Lover. Geschieht ihm recht.
Er fühlte es an der Zeit, sich wieder an der Diskussion zu beteiligen, um seine Aufmerksamkeit zu demonstrieren.
Er meldete sich nachlässig.
»Frank.« Gregor Sattler hatte ihn bemerkt und erteilte ihm das Wort.
»Ich finde, dass wir dem Problem der Fremdbesucher noch mehr Aufmerksamkeit widmen müssen«, begann er. (Ein gutes Thema, insgeheim lobte er sich.) »Zu jeder unserer Veranstaltungen kommen ja immer auswärtige Schiller und Jugendliche. Und gerade bei dieser wichtigen Veranstaltung, dem Höhepunkt des Schuljahres sozusagen (er trug doch wohl nicht zu dick auf?), müssen wir daran denken! Außerdem sollten wir noch das Problem des Alkohols in Betracht ziehen.«
Frank lehnte sich zurück. Eine schöne Rede, der Sache gerade angemessen. Gute Worte, alte Probleme, nichts gesagt. Als er merkte, wie Gregor Sattler ihn etwas verblüfft anstarrte, setzt er hinzu: »Dieses Musical, das immerhin von einer zehnten Hauptschulklasse selbständig entwickelt worden ist — ein hohes Lob noch einmal unseren Kollegen aus dem Hauptschulzweig —, ist doch der Höhepunkt unserer diesjährigen Veranstaltungsreihe. Und gerade wir sind doch auch aus Gründen der Außenwirkung gezwungen, dafür zu sorgen, dass nicht ein paar chaotische Störer den guten Eindruck zunichtemachen, an dem wir seit Jahren gearbeitet haben.« Das Wort ›Außenwirkung‹ war immer gut. Augenblicklich glätteten sich die Züge von Gregor Sattler.
»Was schlägst du vor?«
Frank erhob sich und trat an das Flipchart, auf dem ein Verlaufsplan der Veranstaltung eingetragen worden war. Das Ergebnis der Diskussion der letzten Stunde. Und dabei hatte doch Wolfgang Schwarzer, der Klassenlehrer, der mit seiner 10. Hauptschulklasse das Musical aufführen wollte, schon einen sehr guten Vorschlag vorgelegt, der einfach nur in die Tat hätte umgesetzt werden müssen. Vielleicht hätte man hier und dort noch einige Verbesserungen vornehmen können, doch war dies allenfalls die Arbeit für eine lockere Arbeitsgruppe. In der Schulleitungssitzung, wo sie alle doch recht gut bezahlt wurden, hatte ein solches Thema jedoch mit Sicherheit nichts zu suchen.
Frank stellte sich an das Flipchart und nahm einen blauen Stift. Er sah den resignierten Blick des Realschulzweigleiters, der jetzt eine Verlängerung der Debatte um mindestens eine Viertelstunde befürchtete. Zu Recht, dachte Frank hämisch. Zu Recht. Aber wenn euch die Themen so auf die Nerven gehen, warum sagt ihr Feiglinge denn nichts! Wenn man die Sitzung zur Farce machte, dann konnte man sie sogar genießen.
»Wenn die Besucher den Eingang passiert haben ...«, er machte ein dickes Kreuz bei dem Punkt Einlasskontrolle, »dann...




